Können „normale“ Geschwister fehldiagnostiziert werden, weil sie in anderen Familien aufwachsen?
Manchmal sehe ich ihn, meinen Kleinen, wie er mit den Händen flattert, weil er so aufgeregt ist. Dann halte ich den Atem an, denn ich will es eigentlich nicht sehen. Und dennoch wird mein Herz ganz weich, weil er so unfassbar süß ist, auch und gerade, wenn er aufgeregt ist.
Nein, das hat er sich nicht beim großen Aspi abgeguckt. Der macht das schon lange nicht mehr. Er machte es auch, damals im Kindergarten. Aber der Kleine kam erst zur Welt als der Große in die 2. Klasse kam. Das Hände-Flattern war da schon von anderen Mechanismen abgelöst. Angeblich weist das Hände-Flattern auf eine Autismusstörung hin.
Die Veränderung
Der Kleine, heute fünf Jahre alt, zeigt sichere Auffälligkeiten. ABER: verrückter Weise immer weniger. Wenn ich mir die Haare föhne, darf jetzt schon mal die Tür aufbleiben. Beim Staubsaugen ist er immer noch genervt und angestrengt, aber er hält es gut durch. Er geht mittlerweile einfach woanders hin, selbst ist der Mann. Er läuft nicht mehr auf Zehenspitzen, und drei Jahre nach seinem Kita-Start ist er dort richtig sattelfest. Er nimmt jetzt auch an Festen teil, sogar am Fasching. Und auch an den Geburtstagsfrühstücken – das alles war im letzten Jahr noch undenkbar. Er spielt nicht mehr ganz alleine tagein, tagaus im „Kleinen Zimmer“, sondern spielt mit den anderen. Und wie! Er rennt rum, ist fröhlich und beliebt, er geht zu anderen Kindern nach Hause, auch zu Geburtstagen. Und: er trägt im Sommer mittlerweile kurzärmelige T-Shirts und Shorts! Die ersten Sommer hat er immer kurz vor dem Kreislaufkollaps in langer Kleidung verbracht. Er hat verzweifelt geweint und gewütet, wenn man versucht hat, seine Haut an die Luft zu bekommen, das müssen richtig körperliche Schwerzen gewesen sein. Und: Wasser darf jetzt an seinen Kopf. Seit dem Sommer schon.
Vor zwei Wochen wurde im Kindergarten das Kartoffelfest gefeiert, eine Art „spielerisches Erntedankfest“. Dazu wurde von den Vorschulkindern das weltberühmte Theaterstück „Der Kartoffelkönig“ vorbereitet und aufgeführt. Und wer hatte die Hauptrolle? MEIN Kleiner! Er war so aufgeregt, und er hat es – wie könnte es anders sein – großartig gemacht. Ich erwarte stündlich Anrufe aus Hollywood! Jedes Kind war das tollste, aber ER auch! Anschließend kam eine Pädagogin des Kindergartens zu mir und sagte: „Ich freue mich so sehr, dass ausgerechnet dein Kleiner diese Rolle gespielt hat! Drei Jahre lang ist er hier im Sozial- und Kommunikationsverhalten wirklich auffällig gewesen, und nun spielt er voller Freude eine Theaterrolle, bei der er mit jedem Kind interagieren muss, und er hat es so toll und so fröhlich gemacht! Ich bin richtig erleichtert!“
Erleichtert, ja, das trifft es. Mein Kleiner ist in den letzten Monaten ein anderer geworden. Ich habe den Eindruck, dass die lange Zeit zu Hause, bedingt durch einen nicht weiter schönzuredenden Lockdown und unsere anschließenden Sommerferien, wie ein Backofen für ihn gewesen sind. Er konnte im geschützten Umfeld nachreifen und hat sich fast sprunghaft weiterentwickelt. Ob das nicht auch ohne Lockdown passiert wäre, kann natürlich niemand sagen.
Kann man Autismus „lernen“??
Der Eingliederungshelfer meines Großen, der seit 30 Jahren mit autistischen Kindern und Jugendlichen arbeitet, hat mir neulich einen Rat gegeben: er würde „Tendenzen“ beim Kleinen nicht ausschließen, und es sei aus seiner Sicht sehr wichtig, dafür zu sorgen, dass er regelmäßig aus unserer Familie herauskommt, damit er nicht zu viele „autistische Muster“ annimmt und deswegen möglicher Weise irgendwann eine falsche Diagnose erhält.
Das klingt einleuchtend, und ich bin dankbar für diese Anregung, sehr sogar, denn ich habe seitdem viel darüber nachgedacht. Ich beherzige den Rat jetzt auch! Mit drei Jahren wurde bei dem kleinen Kartoffelkönig ja bereits eine Entwicklungsverzögerung festgestellt. Damals haben wir beschlossen, alles zu unternehmen, was ihm helfen kann, damit er „aufholt“. Seitdem gab es Heilpädagogik, Ergotherapie, Übungen zu Hause, etc. Kürzlich haben wir da noch mal Fahrt aufgenommen: die Heilpädagogin, zu der wir 14-tägig gehen, war im Kindergarten unseres Kleinen und hat dort Anreize zu seiner speziellen Förderung gegeben, ich mache die Spiel-Übungen jetzt wirklich täglich (!) mit ihm, ich verabrede ihn auch wie wild zu anderen nach Hause, melde ihn bei Sportgruppen an, USW. Und er macht alles mit großer Freude mit.
Heißt das denn jetzt, dass man Autismus lernen kann? Und damit auch VER-lernen? Mmmhhh. Das wäre ja ein Ding! Es passt aber nicht ganz zu unserer Vorgeschichte. Der Kleine hat sich doch während des Lockdowns weiterentwickelt. Eigentlich die perfekte Zeit, um zu lernen, wie man Autist wird. Um sich alles abzugucken. Wenn ihr mich fragt: der hat sich noch nie was abgeguckt. Der Große ist am liebsten in Shorts, weil ihm immer heiss ist, der Kleine im langärmeligen und -beinigem Kuschelanzug. Der Kleine hat nie das gleiche Essen verlangt wie der Große, das meiste ekelt ihn wie gesagt. Mein Großer räumt IMMER nach dem Essen sein Geschirr in die Küche. Der Kleine ist ihm noch NIE nachgetrottet. Der Große ist eher ruhig, der Kleine rastet wegen jeder Kleinigkeit aus. In der Regel sitzt er irgendwo und schmollt. Außer, man ist grade mit ihm alleine, denn dann ist er der größte Sonnenschein und eine Wohltat fürs Gemüt. Der Große feiert seinen Geburtstag ausschließlich mit der Familie, der Kleine möchte auf einmal einen richtigen Kindergeburtstag, der Kleine will unbedingt in den Zirkus, der Große würde da keinen Fuß reinsetzen, und so weiter, und so weiter.
Betriebssystem Autismus
Mein laienhafter Glaube ist ja, dass man mit dem „Betriebssystem Autismus“ zur Welt kommt – oder eben nicht. Und auch, dass sich einzelne Symptome von Anbeginn zeigen KÖNNEN, auch wenn man später dann nicht als „frühkindlicher Autist“ kategorisiert wird, sondern als Asperger, bei denen die Symptome ja eigentlich erst nach dem dritten Geburtstag offenbar werden. Ich denke heute, dass – sofern eine Disposition vorliegt – der weitere Verlauf davon bestimmt wird, ob es „Auslöser“ gibt. Vielleicht kann man sich dann auch noch zusätzlich was bei anderen abgucken, was einen dann endgültig in die eine oder in die andere Richtung leitet.
Meine Kinder, meine Brille, meine Interpretationen
Wie ich zu dieser Annahme komme? Ausschließlich durch die Beobachtung meiner Kinder durch meine Brille, versehen mit meinen Interpretationen, da mache ich mir nichts vor. Ich kann völlig falsch liegen.
Mein Großer war im Kindergarten zunächst unauffällig. Er ging gerne hin, war integriert und beliebt und hat bei allem mitgemacht – sogar bei den Übernachtungen. Ich selbst habe mich manchmal über ihn gewundert, und habe nach der Diagnose „Asperger“ viele Dinge im Nachhinein zuordnen können (s. Beitrag „Ist das Asperger-typisch?“ vom 13.4.20). Die ersten echten Auffälligkeiten kamen im Vorschulalter, nach der berühmten Kindergartenreise (s. Gleichnamigen Beitrag vom 30.5.20). Ein schreckliches Erlebnis. Aus meiner heutigen Sicht ein echter „Anschubser“ für den Autismus-Anteil in ihm. Kurz danach sind wir umgezogen, er kam in die Schule und als i-Tüpfelchen wurde ein Jahr später sein Bruder geboren. Das sind massive Veränderungen, sicher für jedes Kind, und für sein „Betriebssystem“ oder seine Veranlagung war das eben der richtige Tritt in den Hintern. Behaupte ich. Meine Beobachtungen, meine Brille, meine Interpretationen.
Schuleintritt als Feuerprobe
Der Kleine hat – außer des Eintritts in den Kindergarten mit zwei Jahren, was dann eine dreijährige Eingewöhnung brauchte – noch nie Veränderungen erlebt. Das neue Bett, das er grade bekommen hat, ist seit dem sicher die erste größere Veränderung. Vielleicht schmunzelt jetzt der ein oder andere von euch, aber das kann sehr schwierig sein. Das Bett steht jetzt seit ca. zwei Wochen da, und die Einschlafprobleme werden leider gar nicht besser. Anfangs musste ich mantramäßig versichern, dass sich das „alte“ Bett nur im Keller ausruht und nicht weggegeben wird.
Nächstes Jahr, wenn er in die Schule kommt, das wird die Feuerprobe, denn das ist wirklich wieder eine Veränderung, das wissen wir alle, auch für „normale“ Kinder. Und bis dahin werde ich mich vor Veränderungen hüten!
Ich glaube, dass auch mein kleiner Kartoffelkönig mit diesem anderen Betriebssystem zur Welt gekommen ist, sonst hätte ihn der KiTa-Start nicht so schockiert, aber wir haben immer noch Zeit, ihm zu helfen, dass ihn dieses Betriebssystem auch später nicht zu sehr behindert: Auslöser verhindern und ihn die neurotypische Welt erleben lassen, wann immer es geht – das ist seine Chance und meine Strategie! Denn wenn er volljährig wird, werde ich 58 sein, mein Mann bereits 64. Es wäre gut für ihn, ohne Unterstützung am Leben teilhaben zu können. Aber falls nicht: ich weiß jetzt, wie es geht. Ich habe keine Angst. Ich bin darauf eingestellt, mindestens ein Kind zu haben, das nicht im klassischen Sinne „flügge“ wird. Der Große wird auf seine Weise einen schönen Platz in einem guten Leben finden. Dieser Platz wird eben deutlich enger bei uns sein, als bei den meisten Menschen. Ein zweiter Platz ganz nah bei uns wird sich da schon auch noch finden lassen!
Und nun?
Nun ist guter Rat teuer, denn es schreibt und liest sich alles super. Wenn da nicht noch das echte Leben wäre… Natürlich sorge ich den ganzen Tag dafür, dass der Große es hier zu Hause autismusfreundlich hat. Seinen geschützten Raum. So wie besprochen.
Und da bekanntlich alle Mütter Super-Moms sind und bei der Geburt des (ersten) Kindes mit genialen Multitasking-Fähigkeiten ausgestattet werden (man bekommt bei jedem weiteren Kind ein kostenloses Upgrade), ist es doch jetzt gar kein Problem, im gleichen Moment für den Kleinen ein neurotypisches Paralleluniversum zu schaffen! Ich kann mir ja auch beim Essen die Zähne putzen.
Alleine das Thema Mahlzeiten: der Kleine isst echt sehr eingeschränkt, während der Große sehr pubertär eine regelrechte Essmaschine ist, und sein Speiseplan nur dadurch begrenzt wird, dass er eine offenbar sehr asperger-typische Glutenintoleranz hat. (Damit ich es hier schon mal erwähne: sollte auch der Laktoseintoleranztest positiv sein (was bei Aspergern auch sehr häufig der Fall sein soll), leg ich mir echt die Karten!)
Wer lernt denn jetzt hier was von wem?
Am Ende wird möglicher Weise alles darauf hinauslaufen, dass wir, mein Mann und ich, die Vorbilder sind, und dass unser Kleiner sich an unserem Verhalten orientieren wird. Ich hab auch meine Macken, vermutlich nicht zu wenige, aber von einer Autismusdiagnose bin ich so weit weg wie damals im Chemieunterricht vom Interesse fürs Periodensystem. Ich lebe ihm aus meiner Sicht kein autistisches Verhalten vor. Und so lange wir mögliche Auslöser von ihm fernhalten, lasse ich ihn das neurotypische Leben im Kindergarten, seinen Sportgruppen und bei anderen Familien zu Hause genießen. Und ich versuche, viel Vertrauen in mich selber zu haben, dass ich intuitiv das richtige für beide Kinder tue. Das ist doch die natürliche Stärke aller Super-Moms!
Liebe K, diese Superkräfte bei Euch sind bewundernswert! Wieder so eine schöne Lektüre fürs Wochenende-dein Blog gehört bei mir jeden Samstag zum ersten Kaffee am Tag dazu und gibt mir auch Kraft!
Können Kinder auch „Pubertät“ lernen? Ich glaube das gucken sie sich auch ab…..ich habe jede Mengen Macken, aber die die bei der Pubertät meiner Tochter rauskommen?!????? ….ich hoffe nicht 🙃
Liebe Grüße
Eure B