Ein kurzer Entwirrungsversuch der rätselhaften Fähigkeit, sich die Gedanken und Gefühle anderer erschließen zu können. Und vielleicht auch die eigenen.
Schnurstracks gehe ich an einem wartenden Paar vorbei, stelle mich hinter Vater und Tochter, die gerade ihre Eistüten entgegennehmen und konzentriere mich auf meine immer gleiche Bestellung. Während ich also den Satz Eine Kugel Vanille im Becher, bitte gedanklich noch mehrmals zu Übungszwecken durchgehe, höre ich hinter mir eine Stimme, die sagt Na, das ist ja eine eigentümliche Art, sich in der Schlange anzustellen. Ich erstarre kurz, drehe mich tapfer um und frage: Hab ich mich vorgedrängelt?? Der Mann schmunzelt. Ich vermute, er hat eine pampige Antwort erwartet, doch mein ehrliches Entsetzen stimmt ihn offenbar milde. Schon gut, jetzt sind Sie ja schon dran, kein Problem. Ich bekomme vor Scham kaum noch Luft und bestehe darauf, dass er und seine Begleitung vor mir bestellen. Wie konnte ich übersehen, dass sie auch in der Schlange stehen?!?!
Überleg Dir, warum sie sonst dort stehen könnten! rät mein Mann mir immer. Denn das mit dem Anstellen, also Vordrängeln, passiert mir regelmäßig. Es ist schwer für mich, mich in die Absichten, Gedanken und Gefühle von anderen hineinzuversetzen, besonders in die mir unbekannter Menschen. Eine lose, ungeordnete Schlange ist kaum verständlich für mich. Eisdielen, Bäckertheken und Supermarktkassen sind die Orte meiner größten Missverständnisse. Mittlerweile frage ich lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Entschuldigung, stehen Sie an? frage ich die Menschen häufig. Ja, sagt die Dame mit dem vollen Einkaufswagen am Ende der Kassenschlange im Supermarkt, was sollte ich sonst hier tun? Gute Frage. Weiß ich nicht, denke ich mir. Und weiß es wirklich nicht.
Theory of Mind nennen Fachleute eben diese Fähigkeit, sich kognitiv in die Absichten, Gedanken und Gefühle von anderen hineinzuversetzen. In der Regel erwirbt man sich diese Fähigkeit über lebenslanges, sog. soziales Lernen. Bereits im Kleinkindalter lernt man, die Absichten anderer zu erkennen: Kinder folgen dem Blick ihrer Eltern zum Brotkasten, um später zu verstehen, dass es ihre Absicht ist, ein Brot zu machen. Im Kinderwagen sitzend lernen sie, dass die Absicht all derer, die ihren vollen Einkaufswagen zur Supermarktkasse schieben und sich anstellen, bezahlen wollen – und vieles, vieles mehr.
Autistischen Menschen wird eine deutlich geringere Ausprägung der Theory of Mind zugeschrieben als dem Durchschnitt ihrer Mitmenschen. Warum? Sie sie zu selten in den Supermarkt mitgenommen worden? Hatten ihre Eltern keine Brotkästen? Daran scheint es nicht zu liegen, und es ist auch kein Zeichen von Intelligenzminderung. Viel eher scheinen Autist:innen in aller Regel eine weniger ausgeprägte Fähigkeit zum sozialen Lernen zu haben. Sie haben es – trotz gleicher Möglichkeiten wie alle anderen – nicht gelernt, intuitiv zu erkennen, welche Gedanken, Absichten oder Gefühle eine andere Person in diesem Moment hat.
Andere beschreiben Autist:innen häufig als unbedarft, blauäugig oder unbefangen, aber auch als rücksichtslos oder unhöflich, wenn sie sie einige Male in Situationen erlebt haben, in der sie den Zustand ihres Gegenübers nicht erkannt haben. All diese Zuschreibungen mögen stimmen. Im besten Fall erzählt die Dame in der Supermarktkassenschlange von einer wunderlichen Frau, die sich auch anstellen wollte, wenn sie später nach Hause kommt. Vielleicht aber auch von einer, die ein bisschen plem-plem war.
Natürlich gibt es Strategien, um darin besser zu werden, oder um wenigstens nicht so aufzufallen. So, wie man seine Strategien hat, um für die Schule Französisch-Vokabeln zu pauken. Manche werden dadurch richtig gut in Französisch! Doch werden sie französisch deswegen niemals wie ihre Muttersprache wahrnehmen. Sie werden die Worte nicht rein intuitiv fließen lassen, und sie werden die Sprache niemals in ihrem ganzen Facettenreichtum sprechen oder verstehen können. Selbst nach jahrelangen Sprachkursen werden Bedeutungen zwischen den Zeilen, Metaphern, subtile ironische Bemerkungen oder Redewendungen nur schwer erfasst oder selbst angewendet werden können.
So ist es auch mit den Strategien im zumeist autodidaktischen Basis-Kurs „Theory of Mind für Autist:innen“. Man beobachtet, fügt Fakten zusammen, fragt nach und kombiniert – kurzum, man erbringt permanent kognitive Höchstleistung, um unter all denen, die mühelos und intuitiv untereinander agieren und kommunizieren, nicht so aufzufallen.
Fragt man sich also regelmäßig, warum man selbst, die/der Partner:in oder das eigene Kind soziale Situationen wie Kindergarten, Schule, Ausflüge, Supermarkt, Bahnfahrt, Flugreise, Theater, Kino oder Geburtstagsfeiern entweder gerne meidet, oder anschließend grundsätzlich ungewöhnlich erschöpft ist, so könnte es sein, dass einfach die gesamte Zeit unter Hochdruck gearbeitet wird, um unter all den Französinnen und Franzosen, die ihre Sprache einfach fließen lassen, mithalten zu können.
Noch etwas schwieriger ist die sog. Mentalisierungsfähigkeit: ich erkenne deine und meine mentalen Zustände – also Überzeugungen, Bedürfnisse, Gefühle oder Gedanken – und kann diese als Grundlage unseres Verhaltens begreifen und einplanen.
Au weia!
Die Natur, Gott oder das Universum hat den Menschen also die Fähigkeit geschenkt, dies zu können, um darüber intuitiv, mühelos und automatisch Zwischenmenschlichkeit zu gestalten?!
Was ist denn, wenn man das nicht kann? Bleibt man dann ausgeschlossen und einsam? Nicht zwingend, denn für die schwierigen Fälle wurde vom englischen Psychiater A. Bateman und dem englischen Psychologen P. Fonagy die sog. Mentalisierende Einzeltherapie als psychotherapeutisches Behandlungskonzept entwickelt. Erfolgreich erweist sich das Konzept bei Menschen, die emotional instabil sind und die bedrohlich klingende Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung erhalten haben, aber auch bei narzisstischen Menschen oder solchen mit Depressionen und sogar bei Essstörungen. Das klingt sehr gut, doch sind die meisten Menschen ja nicht allein mit sich und der Welt, sondern im glücklichsten Fall in ein Familiensystem eingebunden.
Begreift man „Familie Sein“ als Königsdisziplin der gelebten Zwischenmenschlichkeit und damit als einen Raum, in dem Mentalisierungsfähigkeit ziemlich unverzichtbar erscheint, so kann man sich vorstellen, welche Herausforderungen auf die Familien warten, die ein oder mehrere Mitglieder unter sich haben, die bereits im „Basis-Kurs der Theory of Mind“ an ihre Grenzen kommen.
Denn sogar MIT ausreichender Mentalisierungsfähigkeit und einer großen Portion Empathie (also dem Nachfühlen) als Sahnehäubchen, zerstreiten und entzweien sich Familien ja häufig genug.
Es gibt Hoffnung: die Weiterentwicklung der Mentalisierenden Einzeltherapie für Familiensysteme heißt Mentalisierungs-Inspirierte Familienarbeit und kann offenbar hervorragend kann dazu beitragen, sich und andere lesen zu lernen, um daraus so ganz mir nichts, dir nichts, rein intuitiv und automatisch Handlungspläne entstehen zu lassen, die der Familienbeziehung zuträglich sind.
Funktioniert das auch bei autistischen Familien?? Kann man Hoffnung haben, als Familie mit autistischen Mitgliedern mit diesem Therapiekonzept Hilfe bei der Gestaltung des Alltags zu erfahren? Kann der eine lernen, was die andere grade bräuchte, obwohl er es eigentlich NICHT kann?
Es gibt aus einer Studie der Uniklinik Köln (1) Hinweise darauf, dass es funktionieren kann, wenn der oder die Therapeut:in das Konzept autismusspezifisch anwenden kann.
Ich bin neugierig geworden, ob es meiner Familie helfen könnte, denn Autismus, PDA, Pubertät und der normale Wahnsinn des Alltags bringen uns häufig genug an die Grenzen dessen, was wir aushalten können ohne weiteren Schaden zu nehmen. Ich werde mich also aufmachen, am 25. April nach Weimar und mir das anhören. Dort erläutert der Facharzt für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie und systemische Therapeut Dr. Eia Asen das Konzept und die Therapiemethode ausführlich (2).
Vielleicht finde ich Antworten darauf, ob diese Methode für unsere Familie in Frage kommt.
Die Welt da draußen ist anstrengend genug, und da lohnt es sich immer, Möglichkeiten zu erforschen, die unser zu Hause, den geschützten Raum, noch kraftspendender gestalten.
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(1) Reul S. et al. Mentalisierungsbasierte Gruppentherapie PiD – Psychotherapie im Dialog 2020; 21: 71–76. a-0987-5642.pdf (thieme-connect.de)