Der beste Ehemann der Welt ist umzingelt! Seine drei Mitbewohner:innen befinden sich im autistischen Spektrum, und er ist der Außenseiter. Der puplangweilige Normalo.
Eigentlich ist es eine ziemlich klassische Geschichte, denn ein Autist kommt bekanntlich selten allein. So ganz genau weiß man es zwar alles (noch) nicht, aber dass das Phänomen Autismus komplexe genetische Ursachen hat und familiäre Häufungen auftreten, gilt als gesichert.
Dass unser Großer kein Einzelfall, sondern nur der Erstfall in unserem kleinen Familien-Universum sein wird, damit hab ich damals nicht gerechnet, als die Fachärztin seine Diagnose stellte. Aus heutiger Sicht konnte es jedoch kaum anders kommen.
Mein Liebster drohte neulich schon scherzhaft damit, nun auch Blogger zu werden um sein Schicksal „Allein unter Autisten“ mit der Welt zu teilen. Die Idee ist natürlich nicht schlecht! Es muss grausam sein, nicht jede Folge von Drache Kokosnuss, Drei ??? Kids und den Teufelskickern auswendig zu kennen, nicht jede verfügbare Folge der Wochenshow verinnerlicht zu haben, und noch nicht mal Beruhigung darüber erfahren zu können, seine Blusen nach Farben im Kleiderschrank zu sortieren oder Schritte zu zählen!
Er erträgt widerstandslos Planänderungen, er kann kommentarlos Veränderung in seinem Speiseplan hinnehmen und einen Koffer packen, ohne vorher ein Inhaltsverzeichnis angelegt zu haben. Dass ihn das verzweifelt, ist mir völlig klar! Man muss es sich vorstellen: wir kommen in unserem Stammlokal an, wir Drei brauchen keine Karte, wir wissen genau, was wir wollen und welche Umbestellungen vorgenommen werden müssen (in Filmen ruft der Kellner an der Stelle immer von Weitem: „Drei Mal wie immer?“), doch ER guckt ehrlich interessiert in die Karte und bestellt dann mir nix, dir nix ein neues Gericht! Einfach so! Keine Umbestellung, kein „bitte die Sauce nicht drüber gießen, sondern in einer extra Schale bringen und könnten Sie das Rosmarin aus der Marinade entfernen?? Und die Bruschetta bitte ohne Tomaten.“
Der berühmte Spruch „Kennste einen Autisten, kennste einen Autisten“ (das ist übrigens ein noch ungegendertes Original-Zitat), wird in unserer Familie täglich bewiesen:
Mein Großer ist ein Asperger wie aus dem Lehrbuch. Sehr gute sprachliche Fähigkeiten, gute soziale Anpassungsstrategien mit viel Älteren und viel Jüngeren, ausgeprägte Spezialinteressen, repetitives Verhalten und ein paar Begleiterkrankungen. Keine außerschulischen Verabredungen, keine Feriencamps, sensomotorische Einschränkungen, unleserliche Handschrift. Es ist im heute bei Jungs recht gängigen Alter von etwa acht Jahren entdeckt, getestet und diagnostiziert worden und dank der großartigen Kenntnisse und Hilfen, die es heute gibt, haben wir in den letzten sechs Jahren ein funktionierendes Paralleluniversum für ihn geschaffen. Sehr gut mit Sternchen.
Bei mir war es schon kniffliger. Ich habe mich über Bande ins Spiel gebracht…einfach über die Jahre ein Symptom nach dem nächsten eingesammelt und nach und nach präsentiert: Ängste, Depressionen, Schlafstörungen. Als keiner so recht reagierte (ich schon gar nicht), hat die verzweifelte Seele noch zwei draufgesetzt: Zwänge und Essstörung. Jetzt muss doch mal jemand hingucken und was unternehmen!
Als mich dann ein Post in den sozialen Medien über Autismus bei Mädchen und Frauen stutzig machte, schickte ich meinem Mann einen Screenshot davon, einfach so, kommentarlos. Er antwortete: Äh – kennen die dich?? Da mich das gleiche Gefühl beschlichen hatte, rief ich unsere Psychiaterin an. Sie hat unsere Familie seit Jahren im Blick, verfügt über ausgesprochen umfangreiche Kenntnisse zum Thema Autismus und hat irgendwann bemerkt: diese unfassbar glänzende Fassade, die grade richtig bröckelt, die hat keinen echten Boden und keinen wahren Stützapparat. Das könnte eine von diesen sein, die über gute soziale Imitationsstrategien verfügen. Sie gestand mir ihre Erleichterung darüber, dass ich die Möglichkeit für mich in Betracht ziehe, und so wurde ich kurz darauf in drei unterschiedlichen Verfahren getestet und habe gewissermaßen mit Bravour bestanden, wenn man das so nennen möchte.
Und was den Kleinen angeht: bei dem sind meine Alarmglocken früh angegangen. Spätestens als mein Mann kurz nach dem zweiten Geburtstag unseres Nesthäkchens zu ihm sagte: Ach, das hat dein Bruder auch schon immer nicht verstanden! Kopfschütteln heißt Nein, Nicken heißt Ja. Habt Ihr denn gar keinen Sinn für Mimik?!
Für mich stand nebenan in der Küche für einen Moment die Welt still. Au Backe. Noch einer. Schaff ich das? Ich werde über 50 sein, wenn er mitten in der Pubertät steckt.
Die Testungen haben wir bei ihm erst gemacht, als wirklich Probleme auftauchten. Mitte der 2. Klasse war es so weit. Beginnende Schulverweigerung, enorm viele Fehltage, die Nachmittage waren nur noch geprägt von Ausruhen, immer häufiger Absagen von Verabredungen, Kindergeburtstagen und Co. Natürlich war er auch vorher schon auffällig. Aber als Kindergartenkind in einer Familie, die sich schon autistisch eingerichtet hatte, kommt man einigermaßen schadlos durch. Zu Beginn der 3. Klasse haben wir die Testungen dann endgültig durchführen lassen. Nach dem Ausschließen einiger Krankheiten und Beeinträchtigungen wurden an vier Terminen unterschiedliche Testungen durchgeführt, darunter die allseits bekannten standardisierten Tests ADOS und ADI-R. Die Auswertung war noch eindeutiger als bei meinem Großen sechs Jahre zuvor.
Jetzt stehen wir also hier. Familie Gänseklein soll anders sein.
Hat sich seit den Diagnosen etwas verändert? Ja! Wir nehmen noch mehr Rücksicht auf uns. Wir versuchen nicht mehr ständig, uns anzupassen. Mein bis dahin sehr ausgeprägter Anpassungsdruck hatte ja bereits dazu geführt, dass meine Seele mich auf einen jahrelangen zunächst teilstationären, später vollstationären und zwischendurch und anschließend ambulanten Therapieweg geschickt hat, weil es anders nicht mehr zu machen war. Heute versuche ich nicht mehr, im Restaurant betont unkapriziös zu wirken und ganz unkompliziert alles hinzunehmen, während es innerlich brodelt und meine Angstzustände meinen Magen so zuschnüren, dass ich keinen Bissen mehr herunterbekomme, sondern ich bestelle einfach um.
Wenn mir alles zu viel wird, gehe ich einmal um den Block und zähle Schritte, anstatt mir mittels eines stylischen Journaling-Journals diesen oder andere Zwänge wegzuoptimieren. Die wurden dadurch nämlich nur schlimmer. Vielleicht, weil mir das Journaling auch zu viel war und weil ich gar nicht optimiert werden muss. Weil mich Schrittezählen nunmal beruhigt, und weil das ok ist, weil jeden was anderes beruhigt, und weil Schrittezählen am Morgen immernoch die schadlosere Strategie ist als ein regelmäßiges Schnäpschen am Morgen.
Und dass eine geregelte Erwerbstätigkeit für mindestens eine:n von uns auch nicht geht, wenn man zwei schulpflichtige Kandidaten hat, die abwechselnd und/oder gleichzeitig zu Hause bleiben müssen, um keinen Overload zu bekommen, das haben wir jetzt auch verstanden. Meine Erwerbsbiographie muss – und darf! – neu geschrieben werden. My HomeOffice is my Castle.
Doch zurück zum umzingelten Ehemann. Er hat mehr Bücher zu Autismus gelesen als ich. Er hat mich im Blick und ich ihn. Er weiß, dass die Tassen für mich in einer gewissen Ordnung im Schrank stehen müssen, und ich weiß, dass es ihm egal ist, wie sie stehen. Er weiß, dass er mich nicht einfach in einer Tätigkeit unterbrechen kann, weil er mich mal lang und fest in den Arm nehmen muss, und ich weiß, dass er eine feste Umarmung benötigt und plane sie deswegen als Tätigkeit ein. Sie kommt nicht weniger von Herzen als eine spontane Umarmung, nein, sie ist überlegt und geplant und mit der gesamten Kraft meines Herzens. Wenn er an einem schönen Restaurant vorbeikommt, in das er gerne einmal mit mir gehen möchte, fotografiert er die Speisekarte ab, damit ich mich vorbereiten kann und ich bestaune ihn, wenn er dann vor sich hinmurmelt, dass er sich auf ein Glas Rotwein freut und im entscheidenden Moment spontan doch lieber einen Planter’s Punch bestellt.
Ich kann jedem Paar, jeder Familie und jeder Gemeinschaft nur wünschen, dass sie so aufmerksam und respektvoll mit den unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer Beteiligten umgehen. Dafür muss niemand autistisch sein, dafür sollte es eigentlich keiner Diagnosen bedürfen. Aber manchmal macht es die Sache leichter, wenn man offiziell als „unnormal“ gilt. Ich zumindest bin milder mit mir geworden. Es hat lange gedauert, aber langsam ist es so weit.
Auch und besonders die Kinder dürfen immer mehr so sein, wie sie sind. Oft erschöpft und schlecht gelaunt, ohne Sinn für Sozialkontakte und mit einem starken Fokus auf sich und ihre Hörspiele oder -bücher. Abends gibt es meistens so viele Gerichte, wie Personen anwesend sind, weil jede:r von uns Sicherheit und Überschaubarkeit benötigt. Und wenn die Reize des Tages noch zu stark wirken, dann essen wir auch in getrennten Zimmern. Früher hab ich mich abgearbeitet an: Einigt euch bitte auf ein Gericht und dann sitzen wir alle gemeinsam am Tisch und führen ein Gespräch. Das Ergebnis: Weinkrämpfe, geschlagene Türen, Verweigerung. Jeden Tag.
Begleiterkrankungen bekommen die ca. 80% der Autist:innen nicht, weil sie autistisch sind. Sie entwickeln sie, weil sie unpassend leben. Weil das Bildungssystem und das Umfeld die Erfüllung von Normen verlangt, die sie nicht erfüllen können. Autismus ist nicht das Problem. Ein Umfeld, das Diversität, Inklusion und einfach unterschiedliche Bedürfnisse nicht zulassen kann, und das den Menschen auch aberzieht, sie bei sich selbst zulassen zu können, ist das Problem. Der permanente Fokus auf dem, was man nicht so gut kann: Nachhilfe in Mathe, Physik und Englisch, weil man das nicht so gut kann, wie andere, anstatt froh zu sein, dass da jemand ist, der Sport, Musik oder Deutsch gut kann, und zu helfen, genau das noch weiter auszubauen, damit dieser Jemand eines Tages genau die Aufgaben für die Gemeinschaft übernehmen kann, für die man gut in Sport, Musik oder Deutsch sein muss. Stattdessen muss man den Blick davon abwenden, um dem nachzuhelfen, worin andere besser sind und vermutlich immer besser bleiben werden. Trotz Nachhilfe.
Nun – der beste Ehemann der Welt ist jedenfalls umzingelt. Er ist mittlerweile die inkarnierte Inklusion, er beugt intuitiv der vorprogrammierten emotionalen Sonntagskatastrophe vor, in dem er die Freizeit für uns strukturiert: Fußball im Hof mit dem Kleinen, dann Spaziergang mit dem Großen, hinterher ein ruhiger Kaffee mit der Ehefrau. Zwischendurch kurz ausruhen, während die anderen Drei Medienzeit haben. Und sowas.
Das hört sich alles so großartig an, wie es auch ist. Doch steckt dahinter ein gut durchdachtes Netz aus Einzelfallhelfern, Familienberatung, fachärztlicher Betreuung, eigener Weiterbildung durch Fachliteratur und Freunden und Familie, die uns umgeben und unterstützen.
Was ich sagen möchte: es lassen sich Wege zur Gestaltung finden, doch es ist und bleibt ein besonderes Leben als autistische Familie. Die wenigsten lassen mehr als einen kleinen Blick durch den Türspalt zu, sie wollen nicht auffallen und sie sind so erschöpft davon, sich zu erklären.
In den sozialen Medien habe ich vor einiger Zeit einen Post von adhdMum_autisticSon gelesen, der mich sehr berührt hat. Sinngemäß ging er etwa so: Falls einer deiner Freund:innen ein autistisches Kind hat: sie vermissen auch, wie sie früher einmal gewesen sind, sie wünschen sich ebenso, immer noch so herzlich lachen zu können wie früher, und sie vermissen dich. Doch momentan werden sie zu Hause gebraucht. Sie werden zurückkommen, wenn sie können. Bitte schließ nicht die Tür.
Liebe Katrin, einfach großartig geschrieben. Gefühle, Gedanken, Verhalten, Wünsche, Abneigungen, Pläne, Empfindlichkeiten – alles andere als „normal“ und trotzdem ist es offensichtlich die Normalität.
Mach so weiter und liebe Grüße,
Dein Papa
Danke, lieber Papa! 🙏
Liebe K., was du schreibst rührt mich immer zu Tränen und ich finde es großartig wie ihr euer Leben meistert. Es ist so schön, wie ihr Eltern so liebevoll aneinander und an eure Kinder denkt. Ihr seid mir ein Vorbild.
Deine alte Busenfreundin Ca
🙏♥️🫶