Rücksicht und das Ende der Fahnenstange
„Wieso hast Du das getan???? NIE, NIE, NIE wieder darfst du in mein Zimmer kommen! Du hast alles kaputt gemacht! Ich habe dich nicht mehr lieb, du bist der schlimmste Bruder, den man haben kann!“ Mein Großer schreit und weint, er ist außer sich. Der Kleine hat sich während seiner Abwesenheit in sein Zimmer geschlichen und mit seinem „Konstruktionsspielzeug“ gespielt, ein Bereich seines Spezialinteresses. Spielzeug, das der Kleine noch nicht haben darf. Das beste Spielzeug der Welt, das große Glück. Während des heimlichen Spiels hat er offenbar Anordnungen verändert, Teile abfallen lassen und Figuren umdekoriert. Die akribische Ordnung, mit der mein Großer seine Spielsachen angeordnet hat, ist zerstört. Nein: entweiht.
Die Heftigkeit der Reaktion war sehr verstörend für den Kleinen. Ich habe versucht, ihm zu erklären, was überhaupt passiert ist. Die beiden haben sich irgendwann auch wieder vertragen, ist doch klar.
Gestern war mein Großer mit meinem Mann für ein paar Stunden weg. Mein Kleiner kommt irgendwann zu mir und sagt: „L. war neulich so traurig, als ich seine Sachen kaputt gemacht hatte. Er hat mich so doll angeschreit und geweint. Ich habe mir selber versprochen, das nie wieder zu machen. Auch wenn ich so gerne würde.“ Ich hab ihm gesagt, dass ich auch dafür bin, und hab ihn lieber zum Schlittenfahren überredet.
Immer, wenn Menschen zusammenleben, muss man irgendwie Rücksicht nehmen. Wenn es sich um eine Familie mit Kindern handelt möglicher Weise besonders, denn da kann man nicht wie in einer WG einfach ausziehen, und meistens sind ja auch noch ein bis zwei Personen dabei, die einen Erziehungsauftrag haben.
Von morgens bis abends findet man mehr oder weniger Möglichkeiten, die unterschiedlichen Persönlichkeiten, Bedürfnisse und „akuten Zustände“ unter einen Hut zu bringen: einer steht gerne früh auf, der andere guckt am liebsten die halbe Nacht in die Glotze, manche brauchen ständig frische Luft, der andere friert leicht. Des einen Lieblingsspeise ist den anderen größter Graus. Der eine liebt im Urlaub die frische Nord- oder Ostseebrise, der andere weigert sich, irgendwo hinzufahren, wo es weniger als 30 Grad Außentemperatur hat, der eine mag es ordentlich, den anderen stört das große Chaos nicht, einer möchte sonntags immer einen tollen Ausflug machen, ein anderer den ganzen Tag auf dem Sofa liegen, mal hat jemand schlechte Laune oder super gute- und so weiter, und so weiter. Jede Familie regelt diese Dinge anders und findet ihren eigenen Weg. Bei Themen wie Bezug zu Geld, der Frage ob eher kleines Häuschen in Suburbia oder Penthouse mitten in der Stadt, politischen Ansichten und Erziehungszielen wird es dann schon brenzliger. Aber auch das bekommen viele irgendwie gemeistert. Und wenn die Kinder dann eines Tages ihrer eigenen Wege gehen, bringen sie nicht nur ihre Persönlichkeit in neue Lebensgemeinschaften ein, sondern auch das, was sie in ihrer Ursprungsfamilie zu individuellen Grenzen, Rücksichtnahme, Empathie und Kompromissbereitschaft gelernt haben. Dazu gehört nicht nur, die Grenzen der anderen zu respektieren, sondern auch, seine eigenen zu erkennen und sie irgendwie ausdrücken zu können – damit die anderen diese auch berücksichtigen können.
Die meisten, die mehr als ein Kind haben, sind vermutlich bemüht, alle Kinder gleich zu behandeln. Und alle, die das versuchen, wissen auch: das ist unmöglich! Zumindest aber versucht man, dass nicht einer immer „mehr dran ist“ als ein anderer. Und da fängt das Dilemma an.
Wer selbst mit Geschwistern aufgewachsen ist, weiß, wie schnell man sich zurück gesetzt fühlen kann. Die Eltern haben es sicher nicht so gemeint! Angekommen ist es trotzdem so. Ob man ungerecht behandelt wurde oder nicht, entscheidet gemeiner Weise der Behandelte, nicht der Behandler. Und als „subjektiv ungerecht Behandelter“ ist man traurig. Verletzt. Und beim nächsten Mal doppelt so empfindlich.
Natürlich gibt es Situationen, da ist einfach mal einer „mehr dran“: ein besonderer Entwicklungsstand (z. B. Pubertät), ein ungewöhnliches Ereignis (z. B. Einschulung) oder einer ist einfach mal krank. Dann wird Tee ans Bett gebracht, Lieblingsessen gekocht und in der Nacht in dessen Zimmer gewacht – Heiligenschein, ich komme.
Was aber, wenn einer chronisch krank ist? Also immer. Behindert zum Beispiel. Wenn einer Depressionen hat oder keine Arme, wenn er schizophren ist oder taubstumm, ADHS, Autismus oder eine Suchterkrankung hat? Wie ist es dann mit der Rücksicht? Und mit der Gerechtigkeit? Wieviel kann man einem Geschwister zumuten, ohne dass es für sich entscheidet, immer nur am Zweitwichtigsten zu sein?
Wenn alles so gut weitergeht, wird mein Kleiner wohl weder Schul- noch Eingliederungshilfe benötigen. Im Leben meines Großen sind dafür zwei Personen da, die wie selbstverständlich zu uns gehören, die für ihn da sind und ihn unterstützen. Beide sind nicht nur von meinem Großen sehr gemocht, sondern auch von meinem Mann und mir und auch vom Kleinen. Eines Tages wird er mich vermutlich fragen, wann seine Schul- und Eingliederungshilfe eigentlich kommen. Dann werde ich ihm sagen, dass da niemals jemand kommt. Ist das ungerecht? In meinen Augen nicht. Ich hoffe, mein Kleiner wird das auch so sehen.
Das ist natürlich ein sehr „großes“ Beispiel. Davon gibt es gefühlte tausend Abwandlungen pro Tag. Auf die autistischen Besonderheiten meines Großen nehmen wir alle permanent Rücksicht: Anderes Stressempfinden, die Zwangsstörungen, die Einschränkungen im Sozial- und Kommunikationsverhalten und vermutlich noch hundert andere Dinge, derer ich mir nicht einmal so recht bewusst bin. Die besondere Rücksicht ist hoffentlich richtig und wichtig. Mein Kleiner lernt möglicher Weise in besonderem Ausmaß Empathie und Rücksichtnahme. Vielleicht kann er das mal in eine große Stärke verwandeln, wer weiß? So red ich es mir oft schön.
Und trotzdem: in letzter mache ich mir Sorgen, ob mein Kleiner nicht bereits für sich beschlossen hat, nur das zweitwichtigste Kind der Familie zu sein. Corona verstärkt das alles, denn sein „Wirkungsbereich“, sein soziales Umfeld, nämlich der Kindergarten, ist ja wieder seit DREI MONATEN GESCHLOSSEN.
Im DifferentPlanet-Beitrag „Der Kartoffelkönig“ vom 17. Oktober 2020 habe ich beschrieben, wie gut es ihm im Herbst 2020 ergangen war. Anfang Oktober kam eine der Pädagoginnen zu mir und freute sich unglaublich mit mir, wie sehr er sein Sozial- und Kommunikationsverhalten verbessert hat, nachdem er in diesen Bereichen drei Jahre lang auffällig war… er kam mir jetzt in den letzten Tagen so merkwürdig vor, dass ich kurzerhand im Kindergarten angerufen habe, und gefragt habe, ob seine Diagnose von „damals“, die Entwicklungsverzögerung, die wir alle im vergangenen Spätsommer schon abgehakt hatten, ausreichen würde, damit er in die Notbetreuung darf. Sie würde. Mit Engelszungen habe ich den kleinen Kerl heute für 3 Stunden in den Kindergarten bugsiert. Einfach war es nicht, aber: es hat ihm gefallen! Es waren nur drei Kinder da und sie haben einen Schneemann gebaut. Nicht mit Mama. Nicht mit dem großen Bruder, auch nicht mit Papa. Sondern unter Kindern gleichen Alters. YES!
Jede Familie, besonders die, in denen ein Kind mehr Rücksicht braucht als andere, muss ihren Weg durch dieses Dilemma finden. Den Rat von Experten anzuhören finde ich genauso unerlässlich wie das Beleuchten der individuellen Situation, der Ressourcen, die da sind, der Umstände, in denen man lebt.
Ich habe für unsere Familie beschlossen, dass für den Kleinen das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Die Bedürfnisse anderer respektieren zu können ist wichtig. Die Coronaregeln zu befolgen auch. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass der Kleine jetzt Anreize und wieder ein Sozialleben braucht, damit ich ihn eines Tages als starken jungen Mann in die große Welt entlassen kann. Er muss jetzt wieder „mehr dran“ sein: Vorschul-Notbetreuung, Schneemänner bauen und Schlittenfahren mit Gleichaltrigen. Mit MIR kann er das jetzt. Und sobald die Pandemie es zulässt, werde ich jemand bitten, mal „von außen“ auf unsere Familie zu blicken und uns zu helfen, das alles mal zu sortieren.
Ich fühle mich manchmal undankbar und ungerecht. Verglichen mit vielen anderen leben wir wie die Maden im Speck. Auch und sogar in Zeiten der Pandemie. Wenn ICH mir schon Sorgen um eines der Kinder mache, wie mag es dann manch anderen ergehen? Aber ich bin halt die Mama vom großen Aspie und vom kleinen Kartoffelkönig. Ich muss mich um DIE kümmern. Und die Mamas und Papas all der Prinzessinnen, Bubis, Engel und Hasen da draußen müssen sich auf ihre Beobachtungen und Eltern-Bauchgefühle verlassen und abwägen, wann wer „dran ist“.
Ihr vier Lieben, wieder so eine berührende Geschichte! Ich frage mich manchmal, könnte ich das auch mit dieser Ruhe und Klarheit schaffen wie ihr?! Ich weiß es nicht, aber ich finde die Frage, wer wann „dran“ ist, gibt es in bestimmt in jeder Familie. Wann geht es eigentlich mal um DICH/ EUCH ? 🙂
Fühlt Euch fest gedrückt
B.