Oder: Asperger ist keine Charaktereigenschaft
„Der Max zieht den anderen Kindern immer genauso an den Haaren wie der Moritz. Der kommt bestimmt auch aus Spandau!“ Hä?
Ich WEISS, dass das Quatsch ist, und trotzdem erwische ich mich permanent dabei, meine Kinder zu vergleichen, um herauszufinden, ob der Kleine nun auch ein Asperger sein könnte, oder nicht.
Im vergangenen Sommer sagte eine Erzieherin aus dem Kindergarten meines Kleinen mit leuchtenden Augen zu mir „J. hat heute das erste Mal mit mir gesprochen, es war sehr süß! Überhaupt fängt er jetzt an, mit uns Erwachsenen zu kommunizieren.“
Ich war völlig entsetzt! Zu dem Zeitpunkt war er doch bereits seit knapp ZWEI JAHREN in diesem Kindergarten!
Der Kleine tat sich wirklich sehr schwer, im Kindergarten anzukommen. Bis zum letzten Sommer lag er eigentlich immer nur im sog. „Kleinen Zimmer“ und spielte mit Autos, am liebsten alleine, Tag für Tag. Er nahm auch nicht an den Geburtstagsfrühstücken oder der Faschingsfeier teil. Er blieb dann lieber in „seinem“ Kleinen Zimmer und spielte dort. Er schien dabei nicht unglücklich zu sein, er wollte nur nicht bei den anderen mitmachen. Natürlich habe ich mal darüber nachgedacht, den Kindergarten zu wechseln, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass es nicht an DIESEM Kindergarten liegt, sondern eher am „Prinzip Kindergarten“.
Zum dritten Geburtstag unseres Kleinen zeigte sich mal wieder das Ausmaß meiner eigenen Unbelehrbarkeit. Unbedingt wollte ich, dass er auch mit einem Frühstück im Kindergarten feiert – so wie es die anderen Kinder auch tun („Sei normal! Sei normal“!) Natürlich hat der kleine Kerl mir tausend Mal gesagt, dass er das gar nicht will. Das sei furchtbar laut und furchtbar wild und alle liefen durcheinander. „Ach“, denkt sich die renitente Mama, „es wird ihm schon gefallen, wenn er erstmal mit der Krone auf dort sitzt“. Ich sollte meine Strafe bekommen. An mich geklammert saß er halb auf seinem Stühlchen, halb auf meinem Schoß, aß nichts, lächelte nicht und wartete, bis es vorbei war. Ich verbrachte die Zeit hockend und verkrampft neben ihm am Stühlchen und war um ein ausgeglichenes Lächeln bemüht. Als meine Beine irgendwann komplett eingeschlafen waren, sind wir nach Hause gegangen.
Zu seinem vierten Geburtstag – man soll es nicht für möglich halten – habe ich ihn wirklich wieder gefragt! Am Ende haben wir aber drei Kinder aus dem Kindergarten zu uns nach Hause zum Frühstück und zum Spielen eingeladen. Das hat gut geklappt. (Yeah – ich hab erfolgreich was dazugelernt: Es kann auch gut klappen, wenn man es anders macht!)
Überhaupt hatte man im vergangenen Sommer den Eindruck, die Eingewöhnung sei jetzt – nach knapp zwei Jahren – endlich vollbracht. Er taute auf, ging gerne hin, wollte von sich aus etwas länger bleiben und spielte sehr fröhlich mit den anderen Kindern. Seitdem ist er zu Hause deutlich ruhiger geworden und verbringt seine Nachmittage glücklich, aber sehr erschöpft in seinem Zimmer und hört die immergleichen Hörspiele, bevor ich dann abends die immergleichen Lexika vorlese. Dennoch ist da irgendwas bei ihm „aufgegangen“.
Das ist alles total anders als bei meinem Großen. Der war im Kindergarten von Anfang an sehr integriert, hat mit allen gespielt, das Geburtstagsfrühstück zelebriert und war auch ansonsten dort eher „normal“ – von einigen Sondersituationen mal abgesehen.
„Der ist doch ganz anderes als sein Bruder“, höre ich oft von unserem Umfeld. Find ich auch! Letztlich kann man sogar sagen, alles, was der Kleine gerne macht, mochte der Große nie und „umverkehrt“, wie der Kleine sagen würde.
Aber kann man daran jetzt die so oft erwähnten „neuronalen Grundstrukturen“ erkennen? Erlebt er die Welt „neurotypisch“? Oder anders? Um die Frage auf den Punkt zu bringen: Kann ich irgendwie erkennen, ob der Kleine auch ein Asperger ist? Und wozu wäre diese Information denn jetzt wichtig für mich? Erkläre ich mir nicht selbst den ganzen Tag, dass eine Diagnose frühestens zum Schulbeginn wichtig ist, damit man ggf. Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen kann? Möchte ich die Antwort einfach für meine Schubladen im Kopf? Damit ich es besser einordnen und behandeln kann? Und wäre das verwerflich?
Der wirklich tolle Azubi des Kindergartens sprach mich eines Tages an und sagte: „J. geht so oft auf Zehenspitzen. In der Berufsschule habe ich gelernt, dass dies ein Zeichen für Autismus sein könnte.“ Könnte es. Muss aber nicht. Ich hab die Bemerkung damals freundlich ignoriert, jedoch ist sie jetzt etwa 18 Monate her und liegt steinschwer und unverarbeitet in meinem Magen. Zu diesem Zeitpunkt war ich nämlich komplett davon überzeugt, dass der Kleine KEIN Asperger ist, und ich wollte mir in diese Beurteilung auch nicht reinreden lassen (das ist ja sowieso mein Spezialgebiet.)
Was würde ein Leben mit zwei Asperger-Jungs bedeuten? Und was würde ein Leben mit einem Asperger und einem neurotypischen Jungen bedeuten? (Was bedeutet denn das Leben mit zwei neurotypischen Kindern?)
Vor allem bedeutet es wohl für jeden etwas anderes, und für mich wird es eben das bedeuten, was ich daraus mache. Bis wir es endgültig wissen, werde ich mich in meiner schwierigsten Disziplin üben müssen: Gelassen abwarten und die Dinge auf mich zukommen lassen.
* Zitat meiner Ansprechpartnerin aus der Berliner Autismusberatungsstelle
Wieder ein ganz toller Beitrag liebe K. Ich lerne dich und deine Familie immer besser kennen.