Der Mythos des milden Autismus.
Es ist nicht MILD. Es ist verborgen. Es ist scheiß anstrengend, jeden Tag und jede Nacht!“
Immer wieder wird die Symptomatik von autistischen Menschen, die dem sog. Asperger-Syndrom, bzw. dem sog. hochfunktionalen Bereich des Spektrums zugeordnet sind, als „milde Form“ des Autismus bezeichnet.
Von diesen beiden Ausprägungen, die aufgrund ihrer geringen Unterschiede i. d. R. entweder gemeinsam betrachtet oder synonym verwendet werden, spricht man, wenn der / die Autist*In über eine nicht beeinträchtigte Kognition verfügt und ein vollständiger Spracherwerb stattgefunden hat. Die weiteren Symptome sind davon unabhängig 1 .
Woher kommt denn der Mythos?
Dazu gibt es folgende Geschichte: erforscht wurde das Asperger-Syndrom vom Kinderarzt Hans Asperger. Er nannte „seine“ Kinder damals autistische Psychopathen. Als Hitler auch vor diesen Kindern nicht Halt machen wollte und sie für sein menschenverachtendes Euthanasie-Programm vorsah, sprach Hans Asperger in einer Rede im Jahr 1938 davon, dass seine Kinder „nur von einer milden Form des Autismus“ betroffen seien, und rette sie damit 2 vor dem perversen Rausch der nationalsozialistischen Massenmörder.
Die Zuschreibung „mild“ wich dem Asperger-Syndrom anschließend nicht mehr von der Seite. Damals war sie vor allem lebensrettend, doch führt sie bei dem aktuellen Aufklärungsstand über Neurodiversität vor allem in die Irre – oft mit fatalen Folgen.
Wie komme ich darauf? Welche fatalen Folgen denn, ist doch nur so eine Beschreibung?!
Ja, stimmt, es ist eine Beschreibung. Es ist die Beschreibung dessen, was das erweiterte Umfeld „abbekommt“, und dann stimmt das sogar häufig mit dem „mild“! Das hängt vermutlich damit zusammen, dass man mit einem normalen bis überdurchschnittlichen IQ und einer uneingeschränkten, evtl. auch überdurchschnittlichen Sprachfähigkeit das eigene autistische Erleben ziemlich gut vor anderen verbergen will und kann. Dass jedoch aufgrund dieser Merkmale das subjektive, innere autistische Erleben bei den einen milder verläuft als bei den anderen, ist NICHT RICHTIG.
Dass manche Autist*Innen aufgrund irgendwelcher Umstände besser als andere mit ihren autistischen Besonderheiten umgehen können und diese als „milder“ empfinden als andere, ist hingegen ganz sicher richtig! Das könnte z. B. daran liegen, dass man bereits als Kind korrekt diagnostiziert wurde und das familiäre Umfeld schon früh für unterstützende Maßnahmen sorgen konnte und dies auch getan hat. Oder auch, weil man als Betroffene/r schnell verstanden hat, wie man mit seinen Besonderheiten den individuellen Alltag passend gestalten kann. Sicher gibt es noch viele andere mögliche Gründe. Wie immer.
Eigentlich könnte der Beitrag an dieser Stelle enden. Weil man nämlich davon ausgehen sollte, dass man dem Umstand, dass es nicht „DIE milde Form von Autismus“ gibt, und damit auch denen, die dies schildern, einfach mal Glauben schenken könnte. Es ist nämlich ein bisschen auffällig, dass immer die, die autistisch sind, versuchen, genau dies zu vermitteln, und die, die nicht autistisch sind, immer wieder darauf zurückkommen, dass es eine wohldosierte Autismus-Light-Version gibt.
Aber dies wäre kein hilfreicher Blog für Aufklärung über Autismus, wenn ich meinen Standpunkt jetzt nicht weiter erklären würde.
Ist Autismus eine Krankheit?
Zwar gibt es sehr viele Modelle davon, was Krankheit eigentlich ist 3, doch hat man sich in Deutschland darauf verständigt, Autismus nicht als Krankheit zu begreifen 4. Vielleicht, weil der Umkehrschluss, dass man ohne Autismus gesünder wäre, einfach nicht funktioniert. Autismus kann nicht wegtherapiert werden, und das soll er auch nicht 5.
Was isses denn dann?
Autismus ist eine neuronal (also im Nervensystem) verankerte Entwicklungsstörung, so beschreibt es die WHO in der 11. Version ihres Klassifikationsmanuals ICD 6. Der Begriff „Spektrum“ in Autismus-Spektrum-Störung beschreibt, dass es sehr viele verschiedene Ausprägungen gibt: mit Sprachfähigkeit oder ohne, mit mehr Strategien zur sozialen Anpassung oder mit weniger Strategien, mit stark beeinträchtigter sozialer Interaktion oder nicht so starker, mehr oder weniger Hang und Zwang zu Routinen, und so weiter, und so weiter. Und es gibt auch unterschiedlich ausgeprägte Intelligenz unter Autist*Innen. Einen Zusammenhang zwischen dem IQ und der Ausprägungsintensität der zuvor genannten Merkmale gibt es jedoch nicht 7.
Der langen Rede kurzer Sinn: das Nervensystem funktioniert auf eine andere Weise. Die Welt wird von Autist*Innen anders wahrgenommen als von Nicht-Autist*Innen. Und da kommen dann noch individuelle Bausteine dazu, z. B. Humor, Neugier, Zuverlässigkeit, Resilienz, das häusliche Umfeld, Bildungsmöglichkeiten, Unterstützungsangebote, eigener Umgang mit Autismus, Umgang des sozialen Umfelds mit Autismus, physische Gesundheit, biographische Ereignisse und vieles mehr. Das alles prägt den Menschen und lässt ihn „so sein“ wie er eben ist.
Ihr wisst ja: „Kennste einen Autisten, kennste einen Autisten“. Genauso wie Nicht-Autisten!
Doch die Bewertung, ob das autistische Erleben einer Person „mild“ oder „stark“ ist, muss dem/r Betroffenen überlassen sein. Sie sollte nicht von außen stattfinden.
Möglicherweise liegt der Schlüssel darin, Autismus nicht per se als etwas zu begreifen, was schlecht ist und schöngeredet werden muss. Wenn man den Gedanken ablegt, dass man eine Relativierung hinterherschieben muss, wenn man erzählt, dass z. B. das eigene Kind autistisch ist. Wenn man sich selbst, und vielleicht sogar auch andere, von dem Gedanken befreit, dass neurodiverse Besonderheiten grundsätzlich negativ sind, dann wird evtl. alles schon viel einfacher.
Ja, Autismus ist in Deutschland als Behinderung eingestuft. Doch wenn man auch dem Begriff der Behinderung die negative Verknüpfung entreißt und ihn versteht als „er / sie / es wird behindert, am System ohne Unterstützung teilzuhaben“ und damit den Blick auf das System lenkt und nicht mehr auf den/die Betroffene/n, dann können wir vielleicht gemeinsam unsere Energie darauf verwenden, echte Inklusion zu gestalten und die immer mehr werdenden Besonderheiten zu sehen, anzuerkennen und ihnen einen echten Platz im System anzubieten – in der Hoffnung, dass sie bald einfach „normal“ sind.
Denn die Betroffenen leiden, und mit ihnen ihr Umfeld, das aus Menschen besteht, die diese besonderen Wesen lieben, die sich „da draußen“ so tapfer maskiert schlagen, um sich anzupassen. Und so möchte ich zum Abschluss noch meine eigenen Worte aus einem Instagram Post meines Blogs wiederholen: für das erweiterte Umfeld erscheint alles mild. Die Konsequenzen sind Betroffene und deren Eltern, Partner, Geschwister und Kinder, die von den ständigen Meltdowns, den Depressionen, Ängsten, Zwängen und anderen Folge(!)erscheinungen kaputtgespielt sind, und die sich selbst und ihre Liebsten aufgrund der wegen vermeintlicher Milde nicht gegebenen Unterstützungen in Hilflosigkeit untergehen sehen.
Denn für diese „Milden“ gibt es keine richtigen Schulkonzepte, kaum ein geeignetes Berufsumfeld und auch sonst nix, wo sie WIRKLICH hinpassen.
Deswegen: Es ist NICHT MILD. Es ist SCHEISS ANSTRENGEND. Jeden Tag und jede Nacht.
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Zusatzinformationen für Interessierte zu möglichen Folge- und Begleiterkrankungen, sog. Komorbiditäten, von denen autistische Menschen häufig betroffen sind. Ich konzentriere mich hier auf die psychischen Erkrankungen:
Menschen im autistischen Spektrum weisen zu etwa 80% mindestens eine psychische Komorbidität auf 7, mehr als 40% gleich mehrere 8.
Zum Vergleich: Je nach Altersgruppe variiert das allgemeine Auftreten psychischer Erkrankungen in Deutschland zwischen ca. 10- 30% 9, 10.
Die häufigsten psychischen Komorbiditäten autistischer Menschen sind neben ADHS (28%) v. a. Angst- (20%), Schlaf- (13%) und Sozialverhaltensstörungen (12%), sowie Depressionen (11%), Zwangsstörungen (9%) und Psychosen (4%) 11.
Besonders bei Frauen zeigt sich darüber hinaus auch ein Bezug zwischen Autismus und Essstörungen, hauptsächlich in ihrer als Magersucht bezeichneten Version. Es werden nachhaltig bei 20-35% der Frauen mit Magersucht ebenso Kriterien der Autismus-Spektrum-Störung vorgefunden 8.
Die hohe Rate an Komorbiditäten findet sich im gesamten Autismus-Spektrum, auch im hochfunktionalen / Asperger-Bereich. Hier kommen häufig auch noch Probleme beim Schul- und Ausbildungsweg dazu und später Erwerbslosigkeit auch bei hoher Qualifikation. Trotz guter Bildung (50 % erreichen das Abitur und 39 % ein abgeschlossenes Hochschulstudium) sind später nur 42 % berufstätig 12.
Und sicher nicht ohne Grund kann auch das vermeintlich milde Asperger-Syndrom mit einem Grad der (i. d. R. seelischen) Behinderung bis 100% beurteilt werden 13, 14.
Quellen:
1: Universitätsklinikum Freiburg, 2020. Hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störung
Microsoft Word – ASundHFA_Infobroschuere.doc (uniklinik-freiburg.de)
2: Winkelmann, 2016. Gedanken in Bildern. Innenansichten eines Menschen mit Autismus. BoD – Books on Demand.
3: Fangerau; Franzkowiak, 2022. BZgA-Leitbegriffe: Krankheit
4: Autismusstiftung www.autismusstiftung.de
5: Preißmann, 2017. Autismus und Gesundheit. Kohlhammer Verlag.
6: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. BfArM – ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung
7: Kamp-Becker et al., 2020. Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes- und Erwachsenenalter: Diagnose und Differenzialdiagnosen | SpringerLink
8: Brede et al., 2021. Sage Journals https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/1362361321991257
9: Schulte-Körne, 2016. Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen im schulischen Umfeld.
Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen im schulischen Umfeld (aerzteblatt.de)
10: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), 2022. Basisdaten Psychische Erkrankungen.
Factsheet_Kennzahlen 2022.pdf (dgppn.de)
11: Lai et al., 2019. Prevalence of co-uccuring mental health diagnosis in the autism population: a systematic review and meta-analysis. Lancet Psychiatry. Prevalence of co-occurring mental health diagnoses in the autism population: a systematic review and meta-analysis – PubMed (nih.gov)
12: Riedel et al. 2016. Überdurchschnittlich ausgebildete Erwachsene – Bildung, Beschäftigungsverhältnisse und Komorbiditäten bei Erwachsenen mit hochfunktionalem Autismus in Deutschland. Psychiatrische Praxis. Thieme E-Journals – Psychiatrische Praxis / Abstract (thieme-connect.com)
13: Autismus Kultur, 2022. https://Autismus-kultur.de/gdb/
14: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2020. Versorgungsmedizin-Verordnung. Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV – Versorgungsmedizinische Grundsätze (bmas.de)
Der Beitrag beschreibt es vollumfänglich! Ich bin Mutter eines 13 Jährigen. Ab dem 1. Tag haben wir gemerkt, dass er in vielen Dingen anders reagiert hat, als andere Säuglinge. Bei den U-Untersuchungen fiel schon auf, dass seine Motorik nicht so ausgeprägt war. Es folgten Ergotherapien über 2 Jahre..gebracht hat es nicht viel, außer Stress für unseren Sohn und für uns Eltern. In der Schule wurde alles noch schlimmer. Von Lehrern wurde sein Verhalten als respektlos bewertet und dass er sich im Unterricht viel mehr beteiligen müsse. Wir suchten einen Neurologen auf. Dieser diagnostizierte ADS mit einer Empfehlung des Nachteilsausgleichs..dieser wurde nie berücksichtigt. Unser Sohn bekam immer mehr Druck, immer mehr wurde sein Verhalten als nicht angepasst kommentiert. Wir haben die Kinder Jugenpsychiatrie aufgesucht. Die haben alles mögliche nur mit Tabletten versucht. Mir als Mutter wurde suggeriert, dass ich nicht konsequent erziehen würde. Seine echten Probleme hat sich dabei nie jemand wirklich angehört. Letztes Jahr habe ich mich auf Empfehlung an einen ambulanten Psychiater gewandt. Dieser hat dann endlich mal nur unseren Sohn im Blick gehabt, mit ihm alle möglichen Tests durchgeführt und am Ende kam Asper-Autismus heraus. In den letzten 13 Jahren bin ich doppelt so schnell gealtert, unser Sohn hat eine elende Zeit hinter sich. Aber jetzt geht der Kampf immer noch weiter. Für jede Form von Hilfe, müssen wir uns erst mal erkundigen, schlau machen..durch Antragsdschungel tauchen..Wir fühlen uns alle ziemlich allein!
Danke für den Beitrag! Manchmal kann man einfach nicht mehr…