Irrungen und Wirrungen rund um Kategorisierungen im Autismus-Spektrum
Momme, heute fünf Jahre alt, wurde an einem heißen Sommertag in Berlin geboren und machte damit die damals neunjährige Pippi zur stolzen großen Schwester.
Die Eltern, Sonderpädagogin Anja und Max, Schauspieler und Erzieher, waren überglücklich! „Die Säuglingszeit war total entspannt, er war ein fröhliches, aufgewecktes und friedliches Baby. Ein richtiger „Friedensstifter“! Er lies sich problemlos überall mit hinnehmen, er lachte, konnte fotografiert werden, kuschelte, spielte mit seiner großen Schwester und deren Freundin. Über zweieinhalb Jahre war er einfach ein großartiger kleiner Bruder.
Dann luden uns die Kindergartenerzieherinnen zum Gespräch: Er lebt in seiner eigenen Welt, sagten sie, er ist abwesend und hat kaum Kontakt zu anderen Kindern, außerdem spricht er kaum.“
Anja und Max trauen ihren Ohren nicht! Beschreiben die da grade ihren Momme?? Er spielte doch zu Hause, auch mit einem Freund und spricht mit ihnen, seinen Eltern, außerdem zeigt er sich interessiert an vielen Dingen. Sie verstehen die Welt nicht mehr. Kann das wahr sein?
Sie beginnen, genauer hinzusehen. Ja, doch, da ist was anders. Sie suchen Rat bei der Kinderärztin und entscheiden sich dann gemeinsam zu einem Besuch des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ). Und dann ging alles eigentlich ganz schnell. Als Pädagogen kamen Anja und Max durch ihre Beobachtungen auch selber bald darauf, ihn auf eine Autismusstörung testen zu lassen. „Wir fanden dankenswerterweise einen guten Kinderpsychiater, der die Diagnose stellte, so blieb uns ein ein langer Weg der Ungewissheit zwischen Autismus: ja, nein, vielleicht oder doch was ganz anderes… erspart“.
„Was ist euch denn aufgefallen?“ will ich von den beiden wissen. „Habt ihr vielleicht ein paar konkrete Beispiele?“
„Ich sehe besonders den Klassiker vor meinem inneren Auge“, sagt Max „lange Schlangen: Reihen von Autos, Büchern, bunten Formen. So machte unser Sohn uns ganz plastisch deutlich, was es bedeutet, wenn ein Autist Ordnung in sein Leben bringt. Aus den Latschen kippten wir, als er auf dem Spielplatz auf ein Graffiti zeigte und die dargestellten Buchstaben benannte. Buchstaben und auch Zahlen hatten früh sein Interesse geweckt und schnell waren bunte Holzbuchstaben und -zahlen von A bis Z bzw. von 1 bis 20 richtig aufgereiht.
Anstrengend waren in dieser Zeit die „Ausraster wegen Kleinigkeiten“, der zweite „Klassiker autistischen Verhaltens“. Um ihm Übergänge im Tagesablauf zu erleichtern, waren daher Bildkarten, liebevoll gegoogelt, auf buntes Kopierpapier gedruckt und wischfest laminiert, unsere ersten Handwerkszeuge als Autisten-Eltern.“
Einige Sachen passen so gar nicht ins autistische Lehrbuchbild: er isst abwechslungsreich und gut, ausserdem zeigt er sich ziemlich kuschelig. Aber wir wissen ja: „Kennste einen Autisten, kennste einen Autisten.“ Nicht alle zeigen alles. Auch Autisten sind Individuen. Zum Glück.
Ich frage weiter: Als ihr die Diagnose erhalten habt, was ist da mit euch passiert? Mit euren Emotionen und mit eurem „Familiensystem“?
„Irgendwie ist das schon schräg, plötzlich ein Kind mit Diagnose zu haben. Wir sind doch sonst so stinknormal: Mama, Papa, zwei Kinder, Junge, Mädchen, heile Welt im Grünen.“
Aber: die Familie war quasi unabsichtlich schon gut vorbereitet: Anja arbeitete viel und gerne als Sonderschulpädagogin und stellvertretende Schulleiterin, und Max hatte mit Freude und Enthusiasmus die Elternzeit übernommen, er war die meiste Zeit zu Hause, „…so war die Umstellung auf ein Mehr an Betreuung kein so großes Problem.„
Dennoch ist das Leben seit der Diagnose ein ganz anderes geworden. Eines, das sie mit vielen Eltern autistischer Kinder verbindet: man lebt einfach ruhiger. Das fängt schon bei der Lautstärke an, denn für die meisten Kinder „im Spektrum“ sind schon der Haarfön und der Staubsauger eine Zumutung. Straßenfeste, Konzerte und Kinobesuche sind da schnell von der gedanklichen Liste gestrichen. „Wir gehen sehr selten weg. Kino machen wir lieber zu Hause mit bekannten Filmen, obwohl uns Momme beim autismusfreundlichen Kinobesuch positiv überraschte. Wir laden Menschen lieber zu uns nach Hause ein, als dass wir neue Umgebungen für unseren Sohn austesten müssen. Falls doch, so machen wir es mit der Gewissheit, ihn und uns nicht zu quälen, wenn es nicht passt und Stress macht und gehen wieder.“ Das alles war ganz anders als sie zu Zweit, und auch noch als sie zu Dritt gewesen sind. Anja und Max waren zwar auch im „alten Leben“ keine Partymäuse, aber das „neue“ ist doch deutlich entschleunigter. „Panta rhei – alles fließt, sagt Heraklit.“ Und Max sagt das auch.
„Hat es euch denn geholfen, eine sichere Diagnose zu haben?“
„Es tat gut, was zu tun, was anzupacken„, erzählen die Beiden. Und man kann sich mit einer Diagnose dann auch gezielte Hilfe holen: „Besonders die vielen lieben Menschen bei Autismus Deutschland e. V. wurden von Beginn an unsere erste und wichtigste Anlaufstelle bei vielen Problemen, seien es die Anträge für Pflegegrad oder Schwerbehindertenausweis, die Widersprüche gegen einen zu geringen Grad der Behinderung, für den wesentlich erhöhten Förderbedarf in der Kita oder einfach „nur“ das Gefühl, nicht allein zu sein, wenn man zum Elterntreffen bei Autismus Deutschland geht.„
Ich muss noch weiterfragen: „Euer Sohn bekommt zu Recht viel Zeit, Raum und gedankliche Kapazität von euch. Wo bleibt eure Tochter? Wo bleibt das Paar und wo bleibt jeder von euch? Habt ihr da Strategien?„
„Wir haben akzeptiert, dass unser kleiner Mann länger und mehr Unterstützung auf seinem Lebensweg bekommen muss als die große Schwester. Und jede Kritik an ihm, jeder neue Kampf für ihn bei Pflegekasse, Lageso*, beim Jugendamt, beim KJPD**, in der Kita, bei der Schule fordert Kraft und unsere Emotionen. Besonders anstrengend ist es, vermeintlich offene Türen immer wieder neu aufstoßen zu müssen, immer wieder neu sagen zu müssen, dass unser „Lieblingssohn“ Hilfe und Begleitung nötig hat, um am Leben teilhaben zu dürfen.“ Aber sie sind für beide Kinder da. Wenn Momme abends schläft – zum Glück gut! Das tun nicht alle Kinder und autistische meistens schon gar nicht – kommt Pippi dran. Sie machen sich noch ne Pizza zusammen und quatschen. Sie achten außerdem darauf, dass Momme nicht einfach das Teenager-Zimmer entert. Sie ist glücklich mit ihrem Bruder, sagt sie.
Sie selbst haben die Ausführung ihrer Hobbies etwas umgestellt. Statt joggen zu gehen, steht jetzt ein Crosstrainer im Wohnzimmer. Ich bewundere den Ort an dem er steht: direkt neben dem Esstisch! Wie praktisch – man kann mit dem letzten Rest Kuchenkrümel im Mund direkt das Training beginnen! Und sie musizieren gerne. Das machen sie, wenn Momme ganz vertieft seine Buchstaben in Reihe legt. Und sie kochen und backen jetzt viel gemeinsam, anstatt auszugehen. Das ist reizärmer und momentan auch noch coronakonform. Und Besuch gibt es halt meistens von Leuten, die Momme und ihr Leben drumherum akzeptieren.
„Im Endeffekt ist Vieles eine Frage der Akzeptanz: wir akzeptieren, dass jeder anders ist, andere Rückzugsräume braucht und gehen als die „Erwachsenen“ mit Kompromissbereitschaft voran. Wird diese Akzeptanz „zurückgelebt“, von Erziehern, Therapeuten, Freunden, Familie… nimmt das den meisten Stress. Fehlt dies, sind wir wieder beim Punkt mit dem Besuch: wir suchen Abstand, suchen das Gespräch oder gleich neue Therapeuten, die Momme NICHT DEN AUTISMUS ABTRAINIEREN WOLLEN WIE EINE SCHLECHTE ANGEWOHNHEIT„
Das ist ja wohl der Satz zum Samstag!
Und nun? Nun wartet die Schule. Und da besonders bei anderen Kindern immer ein Knaller auf den nächsten wartet, wird’s hier noch mal spannend! Momme wurde nämlich in der KiTa begutachtet, damit man bei der Schulauswahl gut beraten kann. Und was kam raus? Dass er vielleicht gar kein Asperger-Autist, sondern ein frühkindlicher Autist, sein könnte. Aha!
Für Eltern ist sowas egal. Er könnte auch eine Katze sein, und sie würden ihn so lieben, wie er ist. Aber für den Lebensweg des Kindes ist es nicht egal, in welche Schublade es gesteckt wird. Förderschule mit Schwerpunkt „geistige Entwicklung“ oder Regelschule? Oder irgendwas dazwischen? Das sind folgenreiche Entscheidungen…
Ein kleiner Ausflug in die Lehrbücher: Autismus ist aus Sicht der medizinischen Einordnung eine junge Störung. Asperger hat seine Forschungen im Dritten Reich gemacht, Kanner auch etwa zu der Zeit und später. Davor galten Autisten als schizophren oder ähnliches. Seit ein paar Jahrzehnten erst gibt es sowas wie eine Einordnung der Autisten, die mittlerweile aber doch eher schwierig ist, weshalb der Trend dahin geht, von einem Autismus-Spektrum zu sprechen.
Momentan gibt es folgende Einteilungen: Asperger-Autisten, frühkindliche Autisten, die dazu noch in hoch- und niedrig-funktional (high-function: durchschnittlicher IQ / low-function: verminderter IQ) unterschieden werden können und Atypische Autisten.
Aspergern werden dabei die höchsten geistigen und sprachlichen Fähigkeiten zugesprochen, während es bei den frühkindlichen Autisten auch viele gibt, die sich nicht verbalsprachlich ausdrücken. Erste Auffälligkeiten bei den frühkindlichen Autisten treten zumeist sehr früh auf, in der Regel vor dem dritten Lebensjahr. Und Atypisch ist nun ein Sammelsurium, in dem weder das Eine noch das Andere richtig reinpasst… was für ein Dilemma.
Aspergern unterstellt man oft, die unkomplizierteren Autisten zu sein, allein weil sie sich sehr gut verbal ausdrücken können. Für die Außenwelt mag das auch am unkompliziertesten sein, aber durch die Annahme, dass sie eine „milde Form“ des Autismus haben, werden alle weiteren Probleme, die dennoch im Inneren ausgeprägt sind, zumeist unter den Tisch gekehrt.
Da Momme zweieinhalb Jahre unauffällig war, konnte er eigentlich nur ein Asperger sein. Oder doch nicht? Denn er wurde ja vor dem dritten Geburtstag dann doch auffällig. Anja und Max erzählen weiter: „Er hat in großen Gruppen Stress. Er zeigt im Kindergarten deutlich mehr stereotype Verhaltensweisen (rumrennen, mit Händen flattern) und spricht kaum mehr als ein- oder zwei-Wort-Sätze in diesem Umfeld. Als er so in Vorbereitung der Schule von Fachlehrern in der Kita beobachtet wurde, sahen diese seine ungenügenden sprachlichen Mittel und konnten in ihm unter keinen Umständen einen Aspi erkennen, weshalb er als frühkindlicher Autist bezeichnet wurde. Wenn ich so manch anderen Asperger sehe, kann ich das auch verstehen. Weiter ließ sich an der Beobachtung sehen, dass er vermutlich durchschnittlich intelligent ist, was auch wir annehmen.“
Mmmh, also High-Function, oder wie?
„Vielleicht ist es aber alles nichts davon und er würde als atypischer Autist ins Rennen gehen können…“
Oh man, die haben es aber auch nicht leicht…
„Unabhängig von der Höhe seiner vermuteten Potenziale wird wichtiger sein, ein für ihn sicheres, vertrauensvolles Umfeld zu finden, in dem er mögliche Potenziale zeigen kann, sich selbst finden, selbstbewusst werden kann, um gestärkt in eine Welt treten zu können, die wenig Einfühlungsvermögen für Menschen mit anderer Wahrnehmung hat.„
Ein weiterer Satz zum Samstag!
„Ob eine neue Diagnose ihm oder uns dabei helfen würde? Wir wissen es nicht. Die Arbeit, die wir mit ihm, für ihn auf uns nehmen, wird keine Andere. Warum sollten sich also Pflegegrad, Schwerbehindertenausweis oder ähnliches ändern? Wir warten die Schuluntersuchung ab. Vielleicht gibt es dann eine ganz neue Sichtweise.
Momme macht unser Leben durch seine Sicht in unsere Welt, und durch unseren Blick in seine Welt reicher.
Er ist nicht einfach ein Geschenk, er ist mittlerweile unser Lerngeschenk.„
Keine weiteren Fragen.
*Lageso: Landesamt für Gesundheit und Soziales (hier kann man zB den Schwerbehindertenausweis beantragen
** KJPD: Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst (hier sollte man unbedingt ein amtliches Gutachten einholen, mit dem man dann zB Eingliederungshilfe oder Schulhilfe beantragen kann)