– Und was Empathie damit zu tun hat –
„Wieso schließt du ab?”
Voll des freudigen Elans drücke ich die Türklinke zum Zimmer meines Großen, mir ist sowas Lustiges passiert, das muss ich ihm mal schnell erzählen! Rumms- schlage ich mit Schulter und Stirn gegen die Tür. Hä? Abgeschlossen? „Kii-hind!“ rufe ich. „Ja…?“ kommt es mißmutig zurück. „Was ist denn?“ „Äh, ich, äh. Kann ich mal reinkommen?“ „Joa…warte…“ Raschel, raschel, klacker, klacker, langsam öffnet sich die Tür. „Warum schließt du ab?“, frage ich. „Damit mein kleiner Bruder nicht einfach ins Zimmer kommt“. „Der ist doch gar nicht da!” Jetzt wird’s hier aber langsam komisch! Na, ist ja jetzt auch egal, denke ich mir und verschaffe mir Zutritt. Die Vorhänge sind zugezogen und der Geruch ist irgendwie…naja…streng?! „Du hättest hier ja ruhig mal aufräumen und lüften können!“ werfe ich ihm empört vor, und im gleichen Augenblick ärgere ich mich wahnsinnig über mich. Was für eine bekloppte Bemerkung. So richtig spießig Mutti! Seit wann kommen 12-jährige darauf, aufzuräumen und zu lüften?!? Er antwortet nichts darauf. Was auch? Autisten sind eh nicht grad bekannt für viele Worte, und so eine Bemerkung braucht auch wirklich keinen Kommentar, das seh ich selber ein. Wir bringen die Situation irgendwie hinter uns. Meine lustige Begebenheit habe ich vergessen, und ich verlasse irritiert den Pumakäfig.
Später, als das Abendessen fertig ist, rufe ich nach oben. Er hört nicht. Ich laufe schnell hoch und höre das Badewasser. Na, kein Wunder, dass er nix hört. Ich laufe zum Bad, drücke energisch die Klinke und hole mir die nächste Beule an der Stirn. Wütend schlage ich gegen die Tür „Was soll denn das? Du kannst nicht überall abschließen! Außerdem muss ich aufs Klo!“ (Lüge!) „Ich bin in der Badewanne!“ Kreischt es zurück. „Kann ich nicht mal meine Ruhe haben??“ „NEIN!“ brülle ich zurück und laufe wutentbrannt und gekränkt zurück nach unten.
Was ist denn hier los???
Die Pubertät ist los, Muddi! Echt jetzt? Krass. Der schwarze Schatten auf seiner Oberlippe sieht ja schon länger ulkig aus. Und jetzt das Abschließen. Aha, denke ich – der ist gar nicht heiser! Die Stimme bricht! Au weia. Ein Anflug von Überforderung überkommt mich. Tief durchatmen, denke ich. Bisher haben das noch alle Mütter überlebt. (Ja?) Wir steuern also auf eine autistische Jungs-Pubertät zu??? Mir wird‘s Angst und Bange. Du bist eine blöde Kuh, beschimpfe ich mich selber. Seit ungefähr vier Jahren möchte ich bei Autismus Deutschland, oder wo auch immer, so Gesprächsrunden besuchen, um mich darüber zu informieren, welche Besonderheiten es bei autistischen Kindern in der Pubertät zu beachten gilt. Und? Ist bisher beim Plan und Vorsatz geblieben. Glückwunsch! Nun, es ist nie zu spät.
Dem Kleinen drücke ich ein Hörspiel in die Hand und vertröste ihn auf „gleich“ (dieses Wort muss das meistgehasste der gesamten kindlichen Bevölkerung sein. „Kannst du mit mir spielen?“ „ja. Gleich“ „Kannst du mir was vorlesen?“ „Ja, gleich“ „Kannst du mit mir in den Keller gehen und die Playmo-Box holen?“ „Ja, gleich.“) Aber jetzt muss ich erst mal das World Wide Web befragen. „Asperger- Autisten Pubertät“ gebe ich ein. Oh. Ja, da kommen Ergebnisse. Aber wenige, finde ich.
Mit Autismus durch die Pubertät
Zunächst stoße ich auf eine Präsentation der Stiftung Liebenau (www.stiftung-Liebenau.de „Mit Autismus durch die Pubertät“ von Ulrike Sünkel und Gottfried Maria Barth, beides Ärzte an der Universität Tübingen) die im Jahr 2018 einen Fachtag Autismus durchgeführt hat. “Die Pubertät ist eine Phase großer Veränderungen im Leben eines jeden Menschen.“ finde ich gleich zu Beginn. Ja, klar. Ich erinnere mich zwar nicht so wahnsinnig gerne an meine eigene Pubertät zurück, aber mit ein wenig Abstand betrachtet, ist das natürliche DIE Phase der Veränderung. Bis zur Pubertät ist man irgendwie ein Teil seiner Eltern, sie geben letztlich alles vor: das räumliche und das soziale Umfeld, Werte, Abläufe, Entscheidungen, und man selbst fügt sich ein. Und plötzlich wird alles anders: der Körper verändert sich, man sucht sich zunehmend selbst sein Umfeld aus, man möchte eigene Entscheidungen treffen und bildet Werte und Ziele aus, die sich vermutlich von denen der Eltern unterscheiden. Kurzum: alles verändert sich. Und wenn man „durch“ ist, hat man sich abgenabelt. Das Ziel der Pubertät ist erreicht.
Also gut: Veränderungen. Kein gutes Thema. GAR kein gutes Thema. Er selbst wird sich verändern. Damit wird er klarkommen müssen – ebenso wie alle anderen. Seufz. Nicht grade sein Spezialgebiet. Aber das ist natürlich noch nicht alles: In den Unterlagen der Stiftung Liebenau fällt mir eine Sache besonders auf: bei „normalen“ Jugendlichen verlaufen die Veränderungen in den untersuchten Bereichen (kognitiv, körperlich, sozial, sexuell) offenbar relativ gleichförmig. Mit ca. 12 Jahren nimmt die Angelegenheit richtig Fahrt auf und ist mit ca. 20 Jahren abgeschlossen.
Bei Jugendlichen mit einer Autismusstörung scheinen sich die hier untersuchten Bereiche leider gar nicht gleichförmig zu entwickeln… Das Gehirn scheint sich bereits ab ca. 6 Jahren umzubauen – deshalb haben sie vielleicht nie gleichaltrige Freunde? – körperlich ziehen sie zwar mit ihren Artgenossen gleich, doch die soziale und sexuelle Entwicklung setzt deutlich später ein. Und sie bleiben in diesen Bereichen offenbar auch „kindlicher“, denn der Entwicklungsstand bleibt hier dauerhaft hinter dem der „normalen“ Jugendlichen zurück. Kognitiv und körperlich treffen sie die anderen wohl um die 20 wieder – das sind die vermeintlich guten Nachrichten.
Und was heißt das jetzt?
Weiss ich nicht. Aber ich stelle es mir ziemlich schwer vor. Wie eigentlich alle Asperger hat auch mein Großer in den verschiedenen Testungen, die bisher durchgeführt wurden, ein sehr heterogenes Profil. Beispiel: Motorik und Handlungsplanung: unterer Durchschnitt. Sprachverständnis und logisches Denken: Hochbegabt. Schulfrust: vorprogrammiert. Man kann es, man weiß es, aber weiß nicht, wie man es zeigen soll und falls man es wüsste, schriebe die Hand nicht. Dabei würde man so gerne mal beweisen, was man kann! Und das scheint sich wie ein roter Faden durch das autistische Leben zu ziehen: man ist nicht nur anders als die anderen, man ist auch gewissermaßen in sich sehr heterogen. Kognitiv und körperlich bald ein junger Mann, sozial und sexuell ein Kind. Wie soll das funktionieren? Oder anders gefragt: wie wird daraus ein glückliches Leben?
Auch das Fazit der Präsentation ist etwas frustrierend: Die Unterschiede werden immer offensichtlicher. Doch auch autistische Kinder möchten irgendwo dazugehören. Ihre dahingehenden Kompetenzen bleiben aber im Verhältnis unterentwickelt, sie verstehen die Gleichaltrigen zunehmend weniger. Die Anpassungsversuche durch „schauspielern, normal zu sein“ führen zu permanenter Erschöpfung, und ihr Anderssein am Ende dennoch zu noch mehr (ungewollter) Isolation. Die Samen für Depression, Angst- und Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidgedanken sind gesät. Au weia. Wie bewahre ich mein Kind vor diesen schrecklichen Dingen?
„Angepasste Lernmöglichkeiten“?
Ein Punkt aus der Präsentation lässt mich eine Chance erahnen: die Pubertät ist nicht nur eine Veränderungsphase, sondern auch eine Lernphase. „Man“ – also die „Normalen“ – lernt Selbständigkeit, Mobilität und das ganze soziale Leben – alles Voraussetzungen für spätere Berufsbildung, Partnerwahl, Umgang mit Kollegen, etc. „Autistischen Menschen fehlen an ihre Bedürfnisse angepasste Lernmöglichkeiten“, schreiben U. Sünkel und G. M. Barth in ihrer Präsentation. Aha! (Das ist in der Schule auch schon so) „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“, sagt man doch so schön schlaumeisig.
Hier kommt doch vermutlich wieder der Integrationshelfer unseren Großen ins Spiel! Der unverzichtbare Herr M., ein Profi, ein Psychologe, der seit ca. 30 Jahren mit autistischen Kindern und Jugendlichen arbeitet und seit knapp zwei Jahren auch mit unserem Großen und irgendwie auch mit uns. Ich werde dazu mit ihm sprechen. Was kann ich tun? Als Mama. Wie könnte ich die Lernmöglichkeiten anpassen, und ist das überhaupt meine Aufgabe? Bisher sehe ich meine Aufgabe darin, möglichst nicht zu viel Verständnis für pubertäre Anwandlungen zu zeigen (! Zu haben vielleicht schon, aber nicht zu zeigen). Er MUSS mich doch doof finden. Spießig, alt und irgendwie ein bisschen hinter dem Mond lebend. Wenn ich auf Verständnis und beste Freundin mache, hat er keine Chance, sich von mir abzunabeln und seine eigene Identität zu entwickeln. Oder? Dass er hier zu Hause seinen geschützten Raum, seinen Platz und seine Ruhe behält, bleibt davon unberührt. Und dass wir unsere Routinen einhalten – am Wochenende mal zusammen ins Kino und dann Sushiessen – hoffentlich auch. Aber vom Prinzip muss ich doch seine spießige Mutter sein, von der er sich lösen will, oder? So schlimm der Gedanke auch ist…
Mein Mann hat es da noch schwieriger. Unser Großer hat ihn als seinen Freund, seinen Sozialkontakt ausgewählt. Mein Mann, sein geliebter Papa, hat zwei Hüte auf: den des Erziehungsberechtigten, der Vater, von dem es sich abzunabeln gilt, und den des Freundes. Sie machen viele Radtouren zusammen. Sie streifen durch die Stadt, gehen Döner und Eis essen, manchmal gehen sie auch einfach Fußball spielen. Was 12jährige halt mit ihren Freunden so machen. Ich kann das nur so stehen lassen. Ich weiß nicht, wie sich das vereinbaren lässt. Es fühlt sich richtig an, weil unser Großer so glücklich dabei ist. Vielleicht ist das die „angepasste Lernchance“, vielleicht auch gerade nicht. Sein Fußballtraining jedenfalls scheint mir wichtig zu sein, denn dort ist er in einer Gruppe von Gleichaltrigen, aber eben „moderiert“ durch einen Trainer. Da kann er sich Sozialverhalten abgucken und gehört dazu.
Kleine Weisheit zum Schluss
Unser Grundgedanke bei der Erziehung ist seit Anbeginn, unseren Kindern zu helfen, glückliche Menschen zu werden. Da haben wir uns ja echt was vorgenommen… ich dachte, das wäre ganz einfach, aber nix ist! Denn „Glücklich sein“ bedeutet halt für jeden etwas anderes. Und echte Empathie, also wirklich durch die Brille des Anderen zu sehen (nicht zu Verwechseln mit „durch die eigene Brille auf den Anderen sehen“!), ist nunmal eine Königsdisziplin. Es bedeutet in meinen Fall, dass ich nicht automatisch davon ausgehen darf, besser zu wissen, wie mein autistischer Junge ein glücklicher Mensch werden kann. Es bedeutet, dass ich weiterhin jeden Tag versuchen kann, durch seine Brille zu sehen. Als neurotypische und auch ansonsten ziemlich langweilig typische Frau ist das eher schwierig, und ich scheitere meist schon vor dem Frühstück.
Ich sage an dieser Stelle gerne, dass mir Worte wie „Depression“, „Angsstörung“ und „Suizidgedanken“ im Zusammenhang mit meinem Kind Angst machen. Aber ich habe durch das Schreiben dieses Beitrags mal wieder viel für mich verstanden und gelernt. In jedem Tag steckt eine Chance. Für mich, für meine Kinder und eigentlich für jeden, der in Tagen Chancen sehen möchte.