Der Begriff „Therapie“ kommt mir ja nicht mehr ins Haus. Zumindest nicht im Zusammenhang mit meinen Kindern. Zu schmerzlich sind die Überlegungen, dass meine Kinder denken könnten, sie müssten „richtig“ gemacht werden.
Natürlich verzichten wir nicht auf therapeutische Angebote– sie werden nur umbenannt. Die Ergotherapie meines Kleinen heißt „Spielstunde“, die Heilpädagogik der Einfachheit halber auch, auch wenn die gar nicht Therapie heißt, aber sie soll ja offenkundig irgendwas heilen. Der Kleine hat dort einfach nur Spaß, er geht wirklich gerne hin. Ich will nicht, dass er denkt, dass er irgendwo „kaputt“ ist. Und damit ihn in der 1. Klasse dann auch jemand versteht, werden wir wohl noch eine Logopädie in Anspruch nehmen müssen. Damit auch das von vorneherein nach Spaß klingt, werde ich die dann vielleicht „Quasselstunde“ nennen?? Mal sehen… Mein Großer musste noch Therapien besuchen, die auch so hießen. Das saß! Und daraus hab ich gelernt!
Für meinen Großen recherchiere ich immer wieder, was man versuchen könnte, damit er im Alltag besser mit den Besonderheiten seines Autismus‘ klarkommt. Da ist das erste Problem natürlich schon die Bewertung: wer entscheidet denn, mit was er nicht gut klarkommt, und womit er besser klarkommen möchte? Kann eigentlich nur er selbst tun, denn er wird in diesem Jahr unglaubliche DREIZEHN Jahre alt, und es ist sein Leben. Doch gab und gibt es Symptome, die intensiv sind und ihn und uns beeinträchtigen.
Was denn so? Und was könnte da die Lösung sein?
Die Zwangsstörungen und Tics sind im Januar/Februar traditionell besonders stark, sagte mir die Ärztin im vergangenen Jahr. In diesem Jahr finde ich es nicht so schlimm wie im letzten. Naja, gestern Früh zwischen 04.30h und 06.30h schon. Aber nicht so dauerhaft. Es könnte sein, dass die lockdown-bedingte Reizarmut hier positiv einwirkt. Vielleicht ist es auch nur Zufall. Gäbe es echten (Be)Handlungsbedarf, würden nur noch echte Medikamente – also Psychopharmaka – helfen, und haben wir bisher ausschließen können. Im letzten Januar haben wir gemeinsam (die Ärztin, mein Mann und ich, mein Großer) beschlossen, ohne Psychopharmaka durchzuhalten, denn es wird in aller Regel Ende Februar/Anfang März wieder besser, sagte sie. So war es dann glücklicher Weise auch.
Die Schlafstörungen stören ihn gar nicht so sehr, und uns immer weniger, weil er mit zunehmenden Alter auch damit besser alleine klarkommt. Natürlich geistert er nachts noch rum, aber er macht sich auch schon mal selbst ein Hörspiel an. Er nimmt abends regelmäßig Melatonin, damit er irgendwann Schlaf findet und schulfähig wird, und er kommt dann ganz gut durch den Tag.
Sitzt Autismus im Darm??? Vor ca. 1,5 Jahren haben wir uns Sorgen gemacht, weil er körperliche Beschwerden hatte. Steife Bewegungen, Abgeschlagenheit am Tage – auch bei gutem Schlaf- und ein auffälliges Essverhalten. Nachdem wir Ursachen wie rheumatische Erkrankungen, etc. zum Glück ausschließen lassen konnten, erfuhr ich bei einem Telefonat mit seiner Ärztin, dass die Mehrheit der Asperger „glutensensitiv“ reagiert. Dazu kann man unendlich viel lesen und erfahren, vermutlich auch viel Unsinn, aber gemeinsam mit unserem Großen ließen wir es auf einen Versuch ankommen – er hat einfach mal versucht, für 14 Tage Gluten zu vermeiden. Dass er mitgemacht hat – obwohl Burger und Pizza zu seinen absoluten Leibspeisen gehören – zeigt, dass ihn die erwähnten Symptome richtig gestört haben.
Und??
Es war verrückt: nach ein paar Tagen lief er morgens nahezu geschmeidig die Treppen herunter, bekam beim Fußballtraining plötzlich Komplimente und die Abgeschlagenheit am Tage wurde geringer. Es war so gravierend anders, dass er bis heute freiwillig auf Gluten verzichtet. Ausnahmen sind natürlich zugelassen! Ein Tag in der Woche ist „glutenfrei-frei“, meistens samstags, wenn ich frische Brötchen und Laugenbrezeln zum Frühstück hole und wir abends Burger essen. Und auch ansonsten gibt es mal Ausnahmen, aber er kehrt immer wieder freiwillig zu glutenfrei zurück. Wir haben die ganze Angelegenheit dann noch internistisch untersuchen und bestätigen lassen, und wir sind begeistert, dass es wirklich hilft!
Zum Thema Ernährung habe ich noch viele weitere Ansätze gefunden: Verzicht auf Laktose, Kasein und vegane Ernährung sollen psychische Probleme lindern können, und auch auf die sog. GAPS-Diät bin ich gestoßen. Das ist die Abkürzung für „Gut-And-Psychology-Syndrom-Diet“, bei der davon ausgegangen wird, dass ein durchlässiger Darm psychische Probleme befeuert und für Symptome wie bei ADHS, Autismus, Epilepsie, Unverträglichkeiten und vielem mehr verantwortlich ist. Die GAPS-Diet und andere sollen diese Durchlässigkeit heilen. Wir haben noch etwas rumprobiert, aber für meinen Großen hat es da keinen Mehrwert mehr gegeben. Ich bin irgendwie ganz froh, denn spezielle Ernährungskonzepte lassen sich immer nur mit einem sehr hohen Aufwand realisieren. Man tut ja alles, was nötig ist, aber es ist auch schön, wenn mal was nicht notwendig ist.
Verhaltenstherapie?? ABA und so: Jetzt wird es schwierig! Bis hierher sprechen wir über freiverkäufliches Melatonin und die Einschränkung einiger Lebensmittel. Verhaltenstherapie ist da schon ne andere Nummer!
Bei meinen Recherchen finde ich sehr unterschiedliche Möglichkeiten, um (Asperger-)Autisten im Alltag zu helfen. Also: vermutlich. In aller Regel sind es Therapieansätze, die „gegen ADHS und Autismus“ helfen sollen. So, so. Mir wurde ja eigentlich gesagt, dass Autismus nicht weggeht. Man hat gewissermaßen ein autistisches Betriebssystem, und das kann nicht überspielt oder ersetzt werden. Die Stecker sind gesteckt. Fertig. Aber die Symptome, die kann man wohl behandeln. Also: vermutlich. Ich kann hier wieder nur laienhaft von „meinem“ einen Fall berichten, also meinem Sohn. Ich denke, dass mein Großer durch den oft erwähnten Teilhabehelfer sinnvoll in seinem Verhalten unterstützt wird. Ob das eine verhaltenstherapeutische Maßnahme ist, kann ich nicht beurteilen. Für ihn fühlt es sich einfach gut an. Er wünscht sich ja stärkere Sozialkompetenz, und das üben die beiden miteinander. (Dank der aktuellen Lage ist er nun natürlich seit Monaten aus der Übung, aber irgendwann werden Jugendfreizeiteinrichtungen ja vielleicht mal wieder öffnen.) Ganz anders scheint das ABA-Konzept zu sein. Das steht für „Applied Behaviour Analysis“ = Angewandte Verhaltensanalyse, aus der eine Therapie entwickelt wurde. Ich habe folgenden Eindruck erhalten: alle, die es betrifft, also die damit behandelt wurden oder behandelt werden könnten und sich dazu auch wahrnehmbar äußern, sind entsetzt! „Quälerei“ kann man lesen, oder „Dressur“, auch „unethisch“ ist dabei. Beispielsweise sollen Kinder auf diese therapeutische Art lernen, z. B. Körperkontakt, der ihnen unangenehm ist, auszuhalten. Sie wiederholen es stundenlang, sowohl in der Therapie als auch dann zu Hause, bis sie sich nicht mehr entziehen. Ebenso soll es mit Blickkontakt oder selbstregulierendem Verhalten praktiziert werden. Kritisiert wird, dass Autismus hier als reines Verhaltensproblem ohne weitere Ursachen angesehen wird. Alle, die das Konzept anbieten, empfehlen es naturgemäß dringend, um Autisten durch den Alltag zu helfen. Selbst schwere Autisten (was auch immer das ist), lernen mit der Methode wohl sprechen, und ihre Lernschwierigkeiten können in den Griff gebracht werden, so dass der Besuch einer Regelschule möglich gemacht werden kann. Besonders in den USA scheint ABA eine gefeierte Methode zu sein.
Leider konnte ich (bisher) niemand finden, der mit ABA behandelt wurde und seine Erfahrungen mit mir teilen möchte. Es erscheint mir derartig polarisierend zu sein, dass ich gerne einen Erfahrungsbericht gehört hätte. Aber vielleicht meldet sich ja noch jemand!
Man sieht aber, dass es eine Flut von Angeboten gibt – Bachblüten, Workshops für Eltern, Selbsthilfegruppen, Schulhilfe – all das und noch viel mehr blieb hier und heute ja unerwähnt. Um die Eingangsfrage zum Schluss noch einmal zu berücksichtigen: es hilft nix. Jeder muss seine eigene Situation beurteilen, seinen Leidensdruck bemessen und seine Stellschrauben finden (heut‘ wird nicht ge-gendert!). Eine korrekte Diagnose ist ein guter Anfang, aber dann beginnt die Recherche. Und dann irgendwann muss man sich wieder auf sein berühmtes Bauchgefühl verlassen, seinen (Mutter-)Instinkt. Wir sind derzeit gut aufgestellt. Der „Lockdown“-Abstand hat meinem Jungen gut getan. Oder vielleicht auch nicht. Und sobald das soziale Leben zurückkommt, werden wir vermutlich wieder neuen Herausforderungen begegnen. I’m ready!
Die ABA – Therapie erinnert mich in seinem Ansatz an die Schlaftrainings. Umarmen bis der Widerstand aufhört – weinen lassen bis das Kind die Hoffnung aufgibt.
Und das Problem der Therapie ist doch nur die mangelnde Akzeptanz in der Gesellschaft. Bei Ergotherapie wird gezuckt. Bei Physiotherapie kümmert es niemandem. Würdest Du dafür auch einen anderen Namen erfinden?
Danke für deinen Kommentar! Interessante Frage, ob ich eine Therapie „am Körper“ ebenso umbenennen würde, wie die „an der Seele“… Physiotherapie… weiß ich nicht. Allerdings ginge es mir (!) dabei nicht so sehr um die gesellschaftliche Akzeptanz einer Therapie, sondern mehr um meine subjektive Beobachtung, dass eines meiner Kinder unter dem Eindruck gelitten hat, dass ich ihn „richtiger“ machen möchte. Meine Schlussfolgerung, dass es dem Kleinen ebenso gehen würde, kann völlig falsch sein. Denn wenn der sich gar nicht „falsch“ fühlt, würde er sich den Schuh eventuell auch nie anziehen? Was den Begriff „Therapie“ angeht bin ich einfach geschädigt und übervorsichtig geworden. Vielleicht schwingt da auch ein Vorwurf an mich selber mit?!
Und ich (!) glaube eben, dass die Schlussfolgerung den Namen zu ändern und nicht die Idee der Behandlung eine Spiegelung des Ansehens einer Therapie in der Gesellschaft ist. Denn ein Kind stört sich im Allgemeinen ja nicht an einer Bezeichnung. Sondern daran, dass es irgendwas tun soll, um geändert zu werden. Und das ist ja gleich geblieben. Nur der Name wurde geändert. Das ist gar kein Vorwurf. Ich selber sage zu meinen Kindern „wir müssen zu Frau sowieso“ und nicht „wir müssen zum Zahnarzt“.
Das ist genauso. Wir sitzen insofern alle in einem Boot 😉