Flunkern ist neu.
„Und dann packe ich abends immer meinen Ranzen um. Die Schulsachen des Tages raus, die für den nächsten Tag rein.“ – „Und das machst du jeden Tag in der Woche?“ – „Ne, nur montags bis freitags.“
Ok, in echt war dieser Dialog zwischen unserer Sachbearbeiterin beim Jugendamt und meinem Großen noch deutlich lustiger als hier schwarz auf weiß. Aber er zeigt außer der ihm eigenen Präzisionssucht noch etwas, was ich bisher nicht von ihm kannte: er hat wider besseren Wissens die Wahrheit etwas „angepasst“. Nach dem Termin hab ich ihn gefragt, ob ihm bewusst ist, wer von uns beiden derzeit in neun von zehn Fällen eben genau dieses Ranzenpacken erledigt, und er räumte sofort ein, dass er da ein bisschen geflunkert hat, weil ich das ja eigentlich sei. Ehrlich: ich find’s nicht schlimm. Denn wir sind auf einem absolut guten Weg, dieses Ziel (Ranzen selbst packen, und zwar mit den Sachen, die wirklich benötigt werden) mit geplanten Handlungsschritten zu unterlegen: Stundenplan angucken. In den Ranzen gucken. Alles raus. Nur rein, was für den nächsten Tag wichtig ist, und – ganz schwierig – auch das rein, was für jeden Tag wichtig ist. Dass Biosachen wichtig sind, wenn Bio auf dem Plan steht, ist ja nachvollziehbar. Aber noch einzubeziehen, dass das Hausaufgabenheft, die Postmappe, die Federtasche, etc. auch da sein müssen, steht nirgendwo. Braucht man aber dennoch. Er ärgert sich maßlos über sich selbst, wenn er das wieder vergessen hat.
Handlungsplanung ist ja eh eine der großen Schwierigkeiten, wenn man sich im autistischen Spektrum befindet. Für jedes Kind ist das eine Herausforderung, das ist klar, und sogar für viele Erwachsene. Aber im autistischen Spektrum ist das eine Riesenaufgabe. Die Stellenausschreibung für den Autopiloten ist einfach vergessen worden. Dinge schleifen sich nicht ein. Besonders Asperger-Autisten leiden häufig unter der Diskrepanz zwischen ihren intellektuellen Fähigkeiten und ihrer Alltagskompetenz. Deswegen rät man dazu, Autisten Listen zu schreiben. Ich schreibe unendlich viele Listen. Was er damit macht? Zerreißen, wegwerfen und ihnen sonstige Liebesbekundungen zuteil werden lassen. Listen sind unter seiner Würde. Auch der Stundenplan bekommt regelmäßig seinen Riss ab – denn den kann man ja schließlich auswendig lernen…
Jedenfalls: flunkern ist neu! Ich steh nicht auf Flunkern, echt nicht. Aber irgendwie verbuche ich es als Fortschritt. Dass das jetzt irgendwie zweifelhaft ist, ist mir klar. Ich hab’s ihm ja auch nicht so gesagt. Doch die Fähigkeit, die Tatsachen der Situation anpassen zu können, zeigt doch sowas wie „geistige Flexibilität“. Und vielleicht macht dieser „Fortschritt“ ja auch unser Familienleben etwas angenehmer? Mit einem 5-jährigen beugt man die Wahrheit doch ab und an ein klein wenig. Kleines Beispiel vom Abendessen in der letzten Adventszeit: Mama (hoffnungsvoll/motivierend): „Am Abend vor Weihnachten muss man früh schlafen gehen, damit sich der Weihnachtsmann reintraut um die Geschenke abzuliefern“. Groß (unberührt): „Du meinst vor Heiligabend. Und es gibt keinen Weihnachtsmann.“ Klein (entsetzt): „es GIBT KEINEN WEIHNACHTSMANN???“ Mama (Panik unterdrückend): „Doch! Es gibt einen Weihnachtsmann!“ Groß (unberührt, mit vollem Mund): „Das ist nicht korrekt.“ Klein: weint. Mama: sauer. Groß: völlig verständnislos.
Wenn man nun ab und an mal die Wahrheit ungestraft ein wenig anpassen könnte, wäre eine solche Situation sicher harmonischer. Und ich könnte den 23.12. mit einer Weinflasche und nicht mit einem verzweifelten Fünfjährigen verbringen. Und vielleicht hören im Jahr 2021 dann auch diese erschöpfenden Diskussionen darüber auf, in denen der Große darauf besteht, dass der 24.12. der Heilige Abend ist, und nur der 25. und 26.12. „Weihnachten“ heißen dürfen, während ich finde, dass man den 24.12. ruhig unter „Weihnachten“ mit einbeziehen darf.
Aber nun zum eigentlichen Thema. Wir haben ja eine Schulhelferin. Schulhilfe wird vom Jugend- oder auch Schulamt aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichem Umfang genehmigt. Die Gründe können eine Seh- oder Gehbehinderung eines Kindes sein, oder dass ein Kind auf regelmäßige Medikamenteneinnahme angewiesen ist, es könnte auch ein hörgeschädigtes oder kleinwüchsiges Kind sein. Es sind viele Ursachen denkbar, weshalb ein Kind (besonders beim Besuch einer Regelschule) Unterstützung benötigt. Auch eine seelische Behinderung wie Autismus kann ein Grund sein. Schulhilfe unterstützt das betreffende Kind, die Lehrer und die anderen Kinder der Klasse. Sonst wäre die Kapazität der Lehrer ständig durch individuelle Hilfestellung absorbiert, und die anderen Kinder müssten permanent über Gebühr Rücksicht auf die Besonderheit eines einzelnen Kindes nehmen. Und da in Deutschland „dann gibt’s eben keine Schulbildung“ zum Glück ein No-Go ist, kann man Schulhilfe beantragen.
Um unsere vertraute Schulhelferin beim Schulwechsel (und auch noch Bundeslandwechsel…) auf die weiterführende Schule behalten zu können, und in dieser sensiblen Situation (ich sag nur: Veränderung!) nicht ein neues Vertrauensverhältnis aufbauen zu müssen, haben wir in eine Trickkiste gegriffen. „Trickkiste“ hört sich fadenscheinig an, ist es aber nicht. Wir haben lediglich das sog. „Persönliche Budget“ herausgezaubert, was gesetzlich verankert ist, aber so selten beansprucht wird, dass es allen bei uns konkret Beteiligten in der Umsetzung neu war.
Was ist das denn nun, das „Persönliche Budget“? Und ist das gut? Kann man das empfehlen? Ein klares Jein! Wie immer. Es bedeutet, dass man nicht gemeinsam mit dem Kostenträger (bei uns Jugendamt) einen Leistungsträger (also ein Unternehmen/einen Verein…) sucht, der qualifizierte Schulhelfer/Innen beschäftigt und diese zum Antragsteller schickt, sondern, dass man den entsprechenden Geldbetrag vom Kostenträger erhält, sich allein den oder die Schulhelfer/In aussucht und mit dieser/m auch selber abrechnet. Man ist dann Arbeitgeber.
Ist das denn jetzt gut? Für uns schon. Denn wichtiger als alles andere war uns, genau diese Person beschäftigen zu können. Das jahrelang gewachsene Verhältnis gegen ein ungewisses einzutauschen, in einer Situation, in der man vom Grund- zum Oberschüler wird, und in dem man sich als autistisches, 12jähriges Kind an einen neuen Schulweg, ein neues Gebäude, neue Geräusche, Lichter, Menschen, Unterrichtsfächer, soziale Regeln und Gepflogenheiten gewöhnen soll, und in der die Pubertät unmittelbar vor der Tür steht – das erschien uns ein nicht aussichtsreiches Unterfangen zu sein. Sie, unsere Schulhelferin, hat also ihren alten Vertrag gekündigt und einen neuen mit uns geschlossen. Sie ist unsere Arbeitnehmerin, und wir rechnen mit dem Jugendamt ab. Alle sechs Monate müssen und dürfen wir zum Gespräch mit unserer Sachbearbeiterin gehen, die dann – hoffentlich – die Unterstützung um weitere sechs Monate verlängert. Dabei ist es egal, ob man die Hilfeleistung über das Persönliche Budget bezieht, oder nicht. Wir sprechen dort über die Maßnahmen, die Ziele und die Umsetzung. Denn schließlich erhalten wir Transferleistungen, also Steuergelder. Aus dem letzten dieser „Verlängerungsgespräche“ stammt der eingangs zitierte Dialog. Das war jetzt, Anfang der Woche. Wir dürfen wieder sechs Monate weitermachen. Hallelujah!
Kann man das empfehlen? Unter gewissen Bedingungen: ja! Ist man – so wie mein Mann und ich – schon selbstständig berufstätig, so ist ein (weiterer) Arbeitnehmer kein riesiger Schritt. Hat man für ein anderes Kind schon eine Vertrauensperson gefunden und erscheint es risikoreich, an einer wichtigen Konstante etwas zu verändern: ja!
Theoretisch könnten wir auch unseren Teilhabehelfer, Herrn M., über das Persönliche Budget beschäftigen. Aber hier ist es so, dass wir unbedingt IHN behalten wollen, und ihn haben wir ja von Anfang an über einen Träger geschickt bekommen. Auch Teilhabehilfe wird aus unterschiedlichen Gründen bewilligt: vorübergehend, weil man z. B. einen schweren Unfall hatte und Hilfe beim Einkaufen, Arztbesuchen und so braucht. Oder langfristig aufgrund von körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderungen. Wann immer man halt Hilfe benötigt um am „normalen“ Leben teilnehmen zu können. Glücklicher Weise ist unsere Sachbearbeiterin sehr pragmatisch. Die „Verlängerungsgespräche“ finden immer mit beiden gemeinsam statt. Dabei werden dann auch die Ziele untereinander abgeglichen. So ziehen dann auch wirklich alle an einem Strang. Und ich bin jedes Mal erstaunt, wie wichtig die Meinung des Kindes ist. Ich hab bei diesen Termin eigentlich Sendepause. (Gar nicht leicht! Ich will ständig für mein Kind sprechen…)
Ich hoffe, ich konnte heute etwas Praktisches beitragen. Für alle, die sich überlegen, Hilfe zu beantragen. Ich kann nur sagen: der Weg dahin ist etwas mühsam. Aber sobald man an der richtigen Stelle gelandet ist, geht es meistens alles super, denn die Menschen bei Jugend- und Sozialämtern sind nach meiner Erfahrung „Überzeugungstäter“. Sie haben diese Jobs, weil sie helfen wollen. Alle, denen wir bisher begegnet sind, haben genau das für uns getan: geholfen!
Links:
www.lebenshilfe.de gibt sehr überschaubare Auskunft sowohl zu Teilhabe- als auch zu Schulhilfe
einfach teilhaben – Startseite (www.einfach-teilhaben.de) enthält Informationen zum Persönlichen Budget.
Natürlich gibt es viel mehr Seiten dazu im www., aber ich wollte einen Einstieg bieten.