Äh? Was soll das denn jetzt? Macht Mrs. Ober-Inklusions-Schlaumeise die Kehrtwende?
Macht sie nicht. Aber ihr ist der Blickwinkel erweitert worden. Darauf, dass manche, zum Teil ordentlich verkrampfte Inklusions-Anstrengungen nicht nötig wären, wenn wir anders über Behinderung und Behinderte denken würden. Denn falls DAS umfassend gelingt – und das sollte das Ziel sein -, kann man „Behinderung“ und „Inklusion“ irgendwann streichen. Aus dem Denken, aus dem Wortschatz – is‘ dann nämlich nich‘ mehr nötig.
Bisher hielt ich es für nötig, über Inklusion und Behinderung viel nachzudenken, aufzuklären und daran mitzuwirken. Was ist der Unterschied zur Integration? Warum ist Inklusion „besser“ als Integration? Ist sie das überhaupt? Warum scheint Inklusion so viel schwieriger als Lebenskonzept zu sein als Exklusion oder Integration?
Doch neulich ist mir klar geworden, dass das Wichtigste daran ist, das Denken darüber „glatt zu ziehen“. Die Perspektive zu ändern, mal ne Weitwinkelbrille aufzusetzen. Die Menschen in ihrem Umfeld, und nicht als den mit ner Brille oder die mit nem Rollstuhl zu sehen, und wieder andere mit relativen Attributen wie zu dick, zu dünn, zu klug, zu doof, zu ossi, zu wessi, zu weiß, zu schwarz, usw. (im Verhältnis zu wem eigentlich?) zu belegen.
Eine kleine Geschichte aus dem Leben- mit einem Flughafenmitarbeiter, meinem älteren Sohn und einem Rollstuhl in den Hauptrollen- haben mir beim Glattziehen geholfen:
Eine Sonnenblume auf Reisen
Auf einer gemeinsamen Flugreise mit meinem älteren Sohn gehe ich also mit großer Geste zum Infostand des Flughafens BER und hole ihm und mir jeweils ein „Sunflower-Band“. Das kann man sich neuerdings umhängen, und dann sollen alle Bescheid wissen, dass man eine unsichtbare Behinderung hat und ggf. noch etwas rücksichtsvoller zu behandeln ist. Was für eine hilfreiche Inklusionsmaßnahme, hurra.
Damit tigern wir zur Handgepäckskontrolle, ich hab das Band um, mein Großer nicht. Als wir endlich dran sind und brav ein bis zwei Fläschchen, gefühlte 20 elektronische Geräte und ein paar Hosentaschenmünzen in diese Boxen packen, erfahre ich eine unglaubliche Ruhe und Freundlichkeit des verantwortlichen Mitarbeiters. Alles ausgepackt und in die Kisten gepuzzelt, bedanke ich mich bei ihm für seine entspannte Geduld mit uns.
Als ich grade weitertrotten möchte, um mich den nächsten Programmpunkten der Sicherheitskontrolle auszusetzen, richtet der nette Sicherheitsmann in breitem Brandenburgisch noch eine Frage an mich: „Wat sind denn dit eigentlich für Bänder? Ick hab ja davon schon jehört und man sieht dit ja jetzt och hier uff die janze Bildschirme und so. Aber ick weeß jar nich, wofür dit is. Wissen Sie dit?“
WEISS ICH DAS??? Hätte ich das um, wenn ich nicht wüsste, weshalb??? In typisch deutscher „kann-ja-wohl-nicht-wahr-sein“-Mecker-Manier starre ich ihn entsetzt an, fange mich und antworte aufgeräumt: „Die sind für Menschen mit unsichtbaren Beeinträchtigungen wie Depressionen, Autismus, ADHS, Demenz und so“. „Ach so, na denn. Allet Jute für Sie“, sagt der Mann und lächelt. Innerlich kopfschüttelnd gehe ich weiter, um mich für einige Sekunden mit ausgebreiteten Beinen und eigentümlicher Armhaltung regungslos auf nukleare Sprengstoffe scannen zu lassen. Dabei vergesse ich das Ganze.
Im Flugzeug trage ich das Band natürlich weiter. Bereit für die nächste Nachfrage, bereit für ein kostenfreies Getränk, weil ich ja unsichtbar benachteiligt bin. Kommt aber nix. Naja.
Irgendwann frag ich meinen Sohn, warum er sein Sunflower Band eigentlich gar nicht trägt. Ohne von seinem Tablet aufzusehen antwortet er knapp „is‘ nich‘ nötig“.
Ich find’s doof. Jetzt gibt es Inklusionsmaßnahmen und er will sie nicht. Bescheuert.
24 Stunden später fällt bei mir endlich der Groschen! Der Sicherheitsmann und mein Sohn, DIE haben Inklusion verstanden. ICH NICHT! Der Sicherheitsmann behandelt ALLE freundlich und geduldig. ER braucht kein Band dafür. Er LEBT Inklusion. Mein Sohn weiß, dass es nicht nötig ist, oder nötig sein sollte, ein buntes Band zu tragen, um respektvoll behandelt zu werden. DAS ist Inklusion. Alle werden angenommen, so wie sie sind. Wer mehr Zeit braucht, bekommt sie. Wer schneller ist, macht schneller. Das System reagiert auf die Bedürfnisse. ICH hatte nix kapiert, sondern mich selber exklusiviert (? wie ist denn das Verb zu Exklusion, bzw. Inklusion?), in dem ich mir ein entsprechendes Symbol umgehängt habe… MANN, MAMA!
Doch die Geschichte geht ja noch weiter:
Als wir ohne Sonnenblumenband um den Hals auf dem Rückflug am Gate auf den Einstieg warten, kommt zunächst ein junger Mann in Warnweste und einem leerem Rollstuhl, mit einem Funkgerät umgehängt und einem Klemmbrett unterm Arm mit forschem Schritt an uns vorbei. Als nächstes sehe ich ihn einen offensichtlich gehbehinderten Passagier in einem entwürdigend-filmreifen Akt vor den Augen aller anderen 400 Passagiere und der beiden von Tatenlosigkeit gestressten Check-In Hostessen mit großer Mühe in den Flughafen-Rollstuhl hieven. Als es geschafft ist, stratzen sie die Gangway runter zum Flugzeug. Die Glastür hinter ihnen schließt sich und der Check In für die Nicht-RollstuhlfahrerInnen beginnt.
Später, als ich auf dem Weg zu meinem Sitzplatz bin, möchte ich den Rollstuhl-Mann anlächeln, doch er hält die Augen geschlossen. Ich kann ihn verstehen.
Nach der Landung werden wir alle wieder an ihm vorbeigehen und beim Rausgehen den Abholer mit der Warnweste sehen, die Griffe des Rollstuhls bereits fest umklammert, und noch einmal das Signal erhalten: der Mensch da, in Reihe eins, der ist anders als ihr. Der braucht Hilfe. Und wir werden mit einer Mischung aus Mitleid und Befremden weitergehen. Und dem System innerlich auf die Schulter klopfen, weil es diese integrative Sonderbehandlung ermöglicht.
Ist das wirklich nötig? Muss seine Behinderung so sehr in den Fokus gerückt werden? Kann er nicht einfach in seinem Rollstuhl selber reinrollern und sich da irgendwie arretieren? (Und jetzt kommt mir nicht mit „technisch und logistisch schwierig“! Menschen fliegen zum Mond, Säuglinge bekommen extra Schlaufgurte ausgeteilt und Passagiere, deren Gepäck sich bereits im Flugzeugbauch befindet und die dann beim Schnäppercken in der Abflughalle das Boarding verpeilen, sind auch „logistisch schwierig“!)
***
Diese Erfahrungen haben meine Sicht auf Behinderung und Inklusion erweitert. Wenn man anfängt, nicht mehr von den Behinderungen aus zu denken, in dem man diese ständig an das vorhandene System anpassen möchte (das ist nämlich Integration: das System gibt feste Flugzeugplätze vor, ergo: der Mensch im Rollstuhl muss darauf angepasst werden), sondern vielmehr die manchmal behindernden Vorgaben des Systems an die Bedürfnisse anpasst (also Inklusion vornimmt, indem man Rollstuhlplätze im Flugzeug schafft), dann kommt man der großen Idee der inklusiven Gesellschaft näher.
Diese große Idee ist momentan an den meisten Stellen noch ein schöner Traum. Die UN Mitgliedsländer haben sich der Umsetzung dieses Traums mit ihrer Unterschrift verpflichtet.
Und in diesem Traum braucht es keinen Behindertenausweis, kein Sunflowerband und keine Menschen, die uns mit Warnwesten und Funkgerät einen Fluggast in erster Linie als einen Behinderten wahrnehmen lassen.
Der Traum, der „Inklusion“ heißt, würde uns die Chance geben, diesen als eine Person „zu denken“, der wie 400 andere eine Flugreise unternimmt, und mit seinem Rollstuhl einen besonderen Platz erhält, so wie Säuglinge eine extra Sicherheitsausrüstung ausgeteilt bekommen. Es braucht in diesem Traum nicht mal mehr den Begriff „Behinderung“. Wozu? Man wird ja nicht mehr behindert.
Wozu muss man seitenlange Anträge und Begründungen ausfüllen, wenn man eine Rollstuhlrampe ins Büro benötigt? Weshalb muss ich nachweisen, dass mein Kind blind ist, und es deswegen andere Unterrichtsmaterialen benötigt. Kann man nicht einfach Bescheid sagen?? Warum habe ich mit einem Anwalt vier Monate benötigt, um alle offiziellen Nachweise zu erhalten, damit mein Kind rechtzeitig zum Schulwechsel weiterhin Schulhilfe erhält? Warum haben meine eigenen Schilderungen, die seiner LehrerInnen und seine eigenen nicht einfach ausgereicht? Weil dann „Schindluder“ getrieben werden kann? ECHT? Man soll es ja nicht für möglich halten bei all der super-tollen deutschen Kontroll-ethische-Standards-und-Moralvorstellungen-Haltung in Deutschland: was sagen wir denn zu dem getriebenen Schindluder in Bundesministerien, (Finanz-) Aufsichtsbehörden und landeseigenen Banken? Und was sagt man zu einer Hauptstadt, die nicht mal eine Wahl auf Landesebene durchführen kann und deswegen zusätzliche knapp 40 Millionen Euro ausgegeben werden, die offenbar einfach irgendwo rumlagen?
Natürlich wird auch in Deutschland an allen Ecken und Enden Schindluder getrieben! Vielleicht nicht so schlimm wie in vielen anderen Ländern, und wenn man als Betroffene/r wüsste, dass an benötigte Unterstützung auch ein Rankommen ist, ohne, dass man Klassenbester in Formulare-Ausfüllen-und-gewünschte-Unterlagen- beibringen-Wissenschaften war, würden vielleicht sogar die Bemühungen zum Schindluder-Treiben weniger werden.
Und die unendlichen Wartelisten in Diagnostikzentren. Die meisten haben ihre Wartelisten geschlossen. „Ihr Kind soll einen inklusiven Schulplatz erhalten? So, so! Da brauchen Sie erstmal eine fachärztliche Diagnose. Leider haben die befugten Stellen für die nächsten zwölf Monate ihre Wartelisten schließen müssen. Blöd gelaufen.“
Und würde die Inklusion im Bildungsbereich nicht schon daran scheitern, dass es weder genügend ErzieherInnen, noch genügend LehrerInnen gibt, wäre sie ja sogar theoretisch denkbar.
Denn guckt man durch die kindliche Brille und beginnt am Urquell, stellt man fest:
Das erste Dilemma, das ein Kind durchmacht, wenn es merkt, dass es anders ist, ist, dass es merkt, dass es anders ist.
Und jetzt kommt’s: unser momentanes System macht es nötig, genau diesen Eindruck zu verstärken. Es wird unterstützt, therapiert, angepasst und gleichgemacht, dass sich die Balken biegen. Es dauert nicht sehr lang bis alle, inklusive es selber, überzeugt sind: dieses Menschenkind ist anders und braucht Hilfe. Schutz. Ausweise, Sonnenblumenbänder, Formulare! Vielleicht sogar einen Platz auf einer Sonderschule, die mit großem Exklusions-Engagement derzeit überall ausgebaut werden. (Bin gespannt auf die Ideen zu den personellen Ressourcen…). Dieses Menschenkind wird nun als behindert „gedacht“. DAS IST NICHT INKLUSION!
In einem inklusiven Schulsystem wären ALLE anders. Damit wären sogar die Nicht-Anderen anders. Und das ist vielleicht der berühmte Kasus Knaxus. Es kommt drauf an, ob wir als Gesellschaft das wollen oder nicht. Ob wir unsere Vorbehalte davor verlieren WOLLEN, dass unsere ganz normalen Selbstläufer-Super-Kids, die zurecht die beste Bildung der Welt erhalten können und sollen, mit allen, die veränderte Bedingungen benötigen, wie Autisten, Blinde, Taube, Stumme, Kinder mit Intelligenzminderung, mit Hochbegabung, Gehbehinderung, Down-Syndrom, mit Kombinationen aus all diesem und vielem mehr gemeinsam lernen. In der die „1“ in Mathe des eigenen Kindes nicht mehr mit der Bewertung seiner Klassenkameraden in Relation gebracht werden kann, weil jeder nach unterschiedlichen Anforderungen benotet wird. Der eine erhält seine Bewertung vielleicht, weil er es trotz seiner Depression und Angststörung geschafft hat, zur richtigen Uhrzeit da zu sein und an der Klausur überhaupt teilzunehmen. Ein anderer für seine Bearbeitung der Klausur für Mathe 10. Klasse, obwohl sie erst in der 7. sind, und der Dritte hat im Nebenraum mit dem Sprachcomputer die Klausur gearbeitet, da er blind und handmotorisch eingeschränkt ist.
Am Ende werden unsere Super-Kids keine cosmopoliten Börsenbroker, die vier Sprachen sprechen und 10 Mio Euro, Dollar oder Yen im Monat oder Jahr verdienen, sondern Inklusionshelfer und Innenarchitekten für Flugzeuggestaltung, die neben ihrer Muttersprache die Gebärdensprache beherrschen, weil ihre Sitznachbarin taubstumm war. Und die dann später alle den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt haben.
Insofern: bei aller Glattzieherei des Denkens: Ich mach auch erstmal weiter mit Nachdenken und Mitgestalten der Inklusion. Denn auch, wenn wir das wirklich wollen: es wird ewig dauern. Bis dahin werden wir „behindert“ denken und sagen müssen, um Diagnosen und Unterstützung zu bekommen, um einen Platz in einem System zu finden, an das man sich anpassen muss, und nicht umgekehrt.
Auf uns Menschen trifft die berühmte Diagnose „Anpassungsstörung“ eigentlich gar nicht zu. WIR sind ja wohl Weltmeister im Anpassen! Die Anpassungsstörung hat viel eher das System (aber das ist ja vom Menschen gemacht, fällt mir grade auf… hhhhm).
Habe fertig.