Ein Rückblick von Mama und Sohn.
Die „schlimmste Zeit“ liegt nun drei Jahre zurück. Das „schlimmste Zeugnis“ jährt sich in einigen Tagen zum dritten Mal, und somit auch mein auf dieses Zeugnis folgender, entscheidender Anruf bei der Kinder- und Jugendpsychiaterin, auf den unser Großer dann auf Autismus untersucht wurde.
Seitdem ergreift mich jedes Mal diese Schwermut, wenn das Halbjahreszeugnis ansteht und ich blicke zurück.
Nach den Untersuchungen kam einerseits die Gewissheit bzgl. der Diagnose „Asperger-Autismus“, andererseits auch eine grundlegende Veränderung unseres Lebens. Es ist seitdem wundervoll geworden! Natürlich: mit Höhen und Tiefen, das ist normal, aber wenigstens gibt es jetzt Höhen! Und es gibt sie immer häufiger, und sie werden für mein Gefühl auch immer höher, diese Höhen.
Und ehrlich gesagt: Der Lockdown spielt uns zusätzlich in die Karten. Darüber gibt es ja unterschiedliche Ansichten, und wenn ich sehe, was mein Umfeld so berichtet – da gibt es ganz unterschiedliche Meinungen: die, die sich selbst im Autismus-Spektrum sehen, sind total froh und erleichtert, denn endlich können sie so reizarm leben, wie es ihnen gut tut, ohne damit aufzufallen oder sich ständig dafür rechtfertigen zu müssen. Die anderen, zum Beispiel neurotypische Eltern von Kindern im Spektrum leiden hingegen oft umso mehr, denn sie fühlten sich schon vor der Pandemie sozial mehr isoliert als sie es sich gewünscht hätten, und nun fallen auch noch die wenigen verbliebenen Kontakte weg (s. Beitrag „Eine schrecklich nette Familie“ auf Different Planet vom 12.12.20).
Für mich selbst und für mein Kindergartenkind ergreift mich ziemliche Furcht vor weiteren sozialen Beschränkungen. Doch für meinen Großen kann ich derzeit nur ein positives Feedback ziehen! Das HomeSchooling seiner Schule ist inhaltlich und technisch einwandfrei strukturiert und umgesetzt. Das in Kombination mit der immer noch besten Schulhelferin der Welt führt zu einer wohltuenden, reizarmen Tagesstruktur- und ich habe das Gefühl, dass das seiner Entwicklung unglaublich gut tut! Der letzte Stressor ist sein kleiner Bruder. Aber der bleibt.
Vor drei Jahren haben wir begonnen, Schul- und Teilhabehilfe zu organisieren und mit deren Hilfe – und den therapeutischen Anregungen der Spezialpraxis – einen Alltag zu kreieren, in dem er sich zurecht findet. Man könnte sagen, dass wir damals angefangen haben, ein „Sicherheitsnetz“ um ihn herumzustricken. Und jetzt? Drei Jahre später finde ich mich in Gesprächen mit Teilhabehelfer und Schulhelferin wieder, in denen wir abstimmen, an welchen Stellen wir die Maschen im Netz schon wieder größer machen können. Oder sogar vorsichtig lockern. Das ist unglaublich erfüllend und kommt schneller als ich es je gedacht hätte! (Ich weiß, es muss nicht so bleiben…)
Hatte ich nach dem ersten Lockdown das Gefühl, dass er vor allem dem Kleinen zugute gekommen ist – wie ich hier im Beitrag „Der Kartoffelkönig“ vom 17.10.20 beschrieben habe – habe ich diesmal das Gefühl, dass mein Großer einen Entwicklungsbooster bekommen hat. Ob der Lockdown und die Reizreduktion wirklich damit in Zusammenhang stehen, oder ob es ein zeitlicher Zufall ist, werden wir nie erfahren. Aber dass es passiert, und dass das alles jetzt passiert – das kann ich zweifelsfrei beobachten.
Aber ich kann ja viel erzählen. Wichtiger – und vermutlich sogar interessanter – ist doch: wie sieht er denn das? Ich frage ihn, ob er auch Lust auf einen Rückblick hat, und ob er seine Gedanken mit mir und den Blog-Lesern teilen möchte. Er möchte:
„Seit der Diagnose ist alles viel besser. Ich fühle mich insgesamt besser, und im Gegensatz zu früher liebe ich Schule. Zu Hause fühle ich mich irgendwie richtiger. Ich habe kaum noch Wutausbrüche, also, im normalen Maß würde ich sagen.
(Für Neu-Leser: die Beiträge auf diesem Blog „Diagnose – ja oder nein“ vom 18.4.20 und „Die Zeit davor“ vom 19.9.20 gehen darauf näher ein.)
Was wir gut gemacht haben? Das mit der Schulhilfe, das ist richtig gut, und das Schicksal hat uns dazu auch noch Herrn M. geschickt (das ist der Teilhabehelfer). Wir halten die Schule zu Hause raus. Das ist auch richtig gut. Als ich nach der Diagnose unter veränderten Bedingungen und mit Schulhilfe meine erste „1-“ in der Schule bekommen habe, da hat für mich ein neues Leben begonnen, an diesen Test werde ich mich immer erinnern!
Das „Zu-Hause-Gefühl“ ist eine Mischung aus Erinnerungen und das Jetzt genießen. Es ist meine Welt, einfach mein Zu Hause. Wenn es hier eine große Veränderung geben würde, dann würde die das zerstören. Wenn ich auch noch kochen darf, dann lebe ich hier richtig.„ (Darf er. Nicht immer, weil es anschließend echte Aufräumarbeit ist. Aber er darf.)
Ich werde manchmal von anderen Eltern um Rat gefragt. Das ist dann nicht so leicht, denn ich kenne ja nur diesen einen Fall – uns! – und sehe den durch meine Brille. Wie sieht mein Sohn als Betroffener das denn? Er kennt zwar auch nur sich, aber dann sind wir ja schon Zwei! Also frage ich: „Was würdest du Eltern sagen, die ein Kind im Autismus-Spektrum zu Hause haben oder vermuten, eines zu haben? Und was kannst du Kindern und Jugendlichen sagen, die glauben oder auch schon wissen, dass sie anders sind?“
„Auch wenn man in seinem Anders-Sein keinen Vorteil sieht, dann muss man sich ja trotzdem irgendwie damit abfinden und alles versuchen, um sich damit einzuleben. Und wenn man denkt, dass man anders ist, wenn man davon irgendwie überzeugt ist, dann sollte man sich testen lassen. Vor dem Test hatte Anders-Sein nichts Gutes, weil ich das nicht „spielen lassen konnte“. Dieser Rat „es ist toll, anders zu sein“ ist einfach nur falsch und spießig. Anders sein ist NICHT TOLL. Es hat sich NICHT TOLL angefühlt. Jetzt gibt es für mich einen Unterschied zwischen anders und besonders. „Anders“ konnte ich nicht ausleben, da lebte ich einfach woanders. Aber durch die Diagnose werden ja auch die Besonderheiten, die Fähigkeiten, das Gute herausgefunden, und da kann man was daraus machen. Vor dem Test dachte ich einfach immer nur anders zu sein. Jetzt, nach dem Test weiß ich, WAS anders ist und kann etwas Besonderes daraus machen. Jetzt weiß ich, was das Besondere an mir ist, und was ich daraus für mein Leben ziehen kann, ich kann jetzt Pläne machen und so. Der einzige Weg ist, es zu akzeptieren. Und zu versuchen, sich einzugliedern, sich durchzukämpfen. Wenn man es schafft, den Nachteil des Anders-Seins durch Fleiß oder eine besondere Fähigkeit wett zu machen, dann muss man das versuchen.
Anders sein geht nicht weg. Wenn man denkt, dass sein Kind oder man selbst anders ist, dann muss man aus meiner Sicht testen. Es ist nicht peinlich, Asperger zu sein. Ohne Asperger wäre ich vielleicht ein schlechterer Mensch. Aus dem Anders Sein etwas Besonderes zu ziehen, das lohnt sich, dann kann das Leben richtig gut werden.„
Aus der kleinen zarten Seele wird grade ein junger Mann mit festem Willen. Ich sehe oft nur mich. „Was mache ich daraus?“ „Wie gehe ich damit um?“ Und so. Ich hatte irgendwie ausgeblendet, dass ER derjenige ist, der anders ist, und das fühlt, weiß und lebt. Ich liebe diese Gespräche mit ihm. Und es gibt noch was, was ich liebe: wenn ich ihm abends was vorlese und er schläft dabei ein. Ich lese und lese und lese, und irgendwann höre ich seinen tiefen, regelmäßigen Atem. Das hat sowas Ruhiges, Gewisses und Verbundenes. Dann ist alles andere egal.