Burn Out, Burn On – und was ist das Autistische Burn Out?
„Wie war es in der Schule?“ frag ich meinen Großen und bin gespannt, ob ich abgesehen von einem pubertär-genervten „hhmm“ eine Antwort bekomme. „Gut!“ sagt er (Oho! Er spricht und es war gut!) „Hab ne eins im Französisch-Referat“. „Ne!“ sag ich, „cool, du bist echt ne Rakete! Hast ja auch gestern Abend echt noch lang gesessen, was?“. „Hhmm. Und so richtig gut französisch spreche ich ja auch nicht, aber lief gut.“ sagt er noch und schon ist die Zimmertür zu. Naja. Fast sowas wie ne Konversation.
Ganz ehrlich: ich bin stolz auf ihn! Er hat das Referat offenbar ohne seine Schulhelferin fertiggestellt und Vortragen muss er ja auch alleine. So macht er das halt: Von Null auf Hundert, dann zurück auf Null. Wenn es drauf ankommt, zündet er das Triebwerk, und dann geht es steil nach oben.
Aber da sich Tests und Referate derzeit häufen, bin ich sicher: bald muss mindestens ein Ruhetag her, sonst hält er das nicht durch. Und dann erwartet ihn ein Sinkflug mit hartem Aufprall. Besser ist: solange es möglich und nötig ist, 100% feuern und dann, wie eine Rakete, geplant und kontrolliert in den antriebslosen Flug schalten. Nur schweben, nicht feuern. Am besten im dunklen Zimmer und auf der heimischen Matratze. Und das bitte rechtzeitig!
Angeblich ist das sehr autismustypisch, dieses 100% – 0% – 100% – 0% und immer so weiter. Aber ich glaube, dass viele Menschen das so machen. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass die meisten immer in so einem gleichförmigen 40-70% Modus laufen. Oder doch? Und ist das vielleicht ein Weg, sich vor Erschöpfungszuständen zu schützen, vielleicht sogar vor diesem gefürchteten Burn Out?
In der Raumfahrt beschreibt Burn Out ja diesen Moment, in dem die Triebwerke abgeschaltet werden und die Rakete in den antriebslosen Flug übergeht. Das ist also geplant. Bis die Rakete allerdings an den Punkt kommt, an dem sie dann so richtig schwerelos und ausgelassen antriebslos sein darf, muss sie ordentlich gefeuert haben. Und dann – im richtigen Moment darf sie abschalten. Einfach die Füße hochlegen und sich treiben lassen.
Auf den Menschen bezogen ist alles ein bisschen verwirrender. Burn Out ist keine wissenschaftliche Krankheits-Diagnose, so erklärt es das Robert-Koch-Institut (RKI)*, und es fehlen eine einheitliche Definition und ein Konsens bzgl. der Ursachen. Es scheint aber so, als sei das Burn Out wissenschaftlich und gesellschaftlich weitestgehend als existentes Phänomen anerkannt, auch wenn es stark polarisiert. Weiter beschreibt das RKI, dass man sich zumindest bzgl. der wichtigsten Symptome einig sei: Komplett ausgebrannt, auch die letzte Ressource ist erschöpft, Angst und Wut haben das emotionale Regiment übernommen und man findet sich zunehmend unzufrieden mit den eigenen Leistungen wieder. Im Fokus steht dabei der berufliche Kontext.
Manche möchten das Burn Out als Erschöpfungsdepression bezeichnet wissen, andere wollen es explizit von der Depression abgrenzen. Abgesehen von „keine richtige Diagnose“ scheint es bisher auch „keine richtige Therapie“ zu geben*. Abschalten, Füße hochlegen und einfach mal so dahinschweben scheint irgendwie nicht zu gehen.
Aber der echte Knaller kommt ja noch: das Phänomen des autistischen Burn Outs.
Unter dem leiden viele autistische Menschen, und die Beschreibungen der Betroffenen sind unglaublich eindrücklich und vielfältig. Der Haken an der Sache ist, dass wohl nicht nur die Ursachen eines autistischen Burn Outs anders sind als die eines klassischen Burn Outs, sondern es vor allem wichtig ist, dass die Behandlung wirklich bedarfsentsprechend sein muss, um nicht alles noch schlimmer zu machen. Jetzt gibt es zwei Probleme: 1. muss dazu bekannt sein, dass der oder die Ausgebrannte mit einer autistischen Wahrnehmung durch das Leben geht. Und 2.: muss ebenso das autistische Burn Out mindestens dieser Person oder dem/der ArztIn/TherapeutIn bekannt sein und ggf. dem/der Betroffenen zugeordnet werden können.
Sucht man im weltweiten Netz etwas darüber, trifft man auf viele Berichte autistischer Menschen, die es erlebt haben oder erleben. Auf wissenschaftliche Untersuchungen wirklich kaum. Man benötigt kaum die Finger einer Hand, um sie zu zählen. Daher ist davon auszugehen, dass ÄrztInnen und TherapeutInnen selten Kenntnis davon haben. Doch genau die bräuchte es, um den Betroffenen wirklich helfen zu können.
Auch beim autistischen Burn Out kann ein Hauptstressor im Job liegen. Dann jedoch ist es hauptsächlich in der sozialen Anpassung begründet, derer es bedarf, um den beruflichen Alltag zu meistern. Offenbar sind besonders häufig die autistischen Personen betroffen, die als „hochfunktional“ gelten, also keine intellektuelle oder sprachliche Einschränkung aufweisen und gute bis sehr gute Fähigkeiten im berühmten „Maskieren“ haben.
Dieses berühmte Maskieren bedeutet, ein/e regelrechte/r Meister/in in sozialen Anpassungsstrategien zu sein, und diese Anpassung ist unglaublich kräftezehrend. An 365 Tagen im Jahr versucht man von morgens bis abends so zu sein wie die anderen und das viel durchlässigere Reizfiltersystem dem „normalen“ System anzupassen – vor allem, wenn man selbst nichts von seinem Autismus weiß.
Sehr häufig geht es lange gut. Warum auch immer können sich vor allem Frauen lange gut tarnen und sich selber immer wieder zur Anpassung zwingen. Doch ist man bis man ca. 40 Jahre alt ist noch immer nicht als AutistIn erkannt, bricht man in der Regel zusammen, so beschreibt es die in Zürich lebende Psychologin Daniela Dankova*. Angst-, Zwangs- und Essstörungen können einen regelrecht überwältigen, und auch Depressionen und/oder Burn Out werden häufig beobachtet – und hier kommt wieder das autistische Burn Out ins Spiel.
Der für mein Gefühl beste Artikel zum autistischen Burn Out im deutschsprachigen Raum stammt von der Bloggerin Ani, deren Artikel auf dem schweizerischen Portal https://eat-team.com erscheinen. Sie schreibt in ihrem Artikel zum autistischen Burnout: „Es ist so normal, nicht wir selbst zu sein, dass wir nicht mal mehr merken, wie weit wir uns von unseren eigenen Bedürfnissen entfernt haben; wenn wir sie denn überhaupt wirklich kennen.“ https://eat-team.com/autistischer-burnout/
Autistische Kinder kommen häufig doppelt so erschöpft nach Hause wie nicht autistische. Denn sie müssen nicht nur das Lernen lernen und die Inhalte des Unterrichts verstehen, sie müssen auch viel Kraft zur Bewältigung der sozialen Situation aufbringen. Und autistischen Erwachsenen geht es so in ihrem Alltag, ob Büro, Ausbildung, Haushalt oder ein Geburtstagsfest.
Auch Ani beschreibt den Punkt, an dem nichts mehr geht: völlige Erschöpfung, gepaart mit Schlaflosigkeit, weil die Gedanken stetig kreisen, fehlende Emotionsregulierung mit kleinen und großen Zusammenbrüchen, Ängste bei jeder Kleinigkeit und ein hohes Bedürfnis nach dem Ausleben der beruhigenden Routinen, die den Betroffenen jeden Rest von Spontanität und Flexibilität nehmen. „Die kleinste Kleinigkeit wird zur Herausforderung, das leiseste Geräusch zur unerträglichen Lärmquelle“. Es bleibt meist nur der komplette Rückzug. In sich selbst. Autismus im wahrsten Wortsinn. Betroffene beschreiben, dass die einzige Hilfe ist, sich von allen Reizen zurückzuziehen: von Lichtern, Geräuschen, Gerüchen, besonders aber von Situationen, in denen man sozial interagieren muss.
Ich möchte noch mal sortieren: die Symptome der beiden Burn Out Phänomene überschneiden sich offensichtlich. Doch das autistische Burn Out resultiert nicht aus dem Leistungsgedanken oder dem Perfektionsanspruch, der Überladung von Aufgaben und der aberzogenen Fähigkeit „STOP“ oder „NEIN“ zu sagen.
Es resultiert daraus, die Dinge auf eine für sich „falsche Weise“ zu tun.
Als wäre die Welt voller Macs, während du auf PC-System läufst. Du musst hier ein bisschen optimieren, da ein bisschen anders verknüpfen, dort noch etwas umcodieren, dahinten noch ein Kabel umstecken,… um am „normalen“ Leben teilzunehmen muss ein Mensch mit autistischem Erleben immer noch die Anpassung des Betriebssystems vornehmen. Das übrigens leider eine schlechtere Akkuleistung hat.
Therapeutische Patentrezepte gibt es weder für AutistInnen, noch für Nicht-AutistInnen. Doch autistische Menschen im Burn Out müssen zunächst einmal ihr Betriebssystem komplett vom Stecker nehmen. Nach dem Neustart gilt es, zu akzeptieren, dass das aufgespielte Betriebssystem nicht auszutauschen ist, um dann zu verstehen, wie es funktioniert und wie man es an „die Welt da draußen“ anpassen kann – und wie weit man das überhaupt möchte. In einer Studie* um PhD Dora Raymaker aus dem Jahr 2020 wird zur Therapie und Prävention u.a. vorgeschlagen, das „Ent-Maskieren“ zu erlernen, also Situationen und Anforderungen auch mal autistisch anzugehen, anstatt noch besser im Anpassen zu werden.
Und nun kommen noch der Psychiater Prof. Dr. med. Bert te Wildt, Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen, und sein Kollege Timo Schiele, der leitende Psychologe eben dieser Klinik, um die Ecke, und beschreiben ein wieder neues Phänomen: das Burn ON*. Damit ist das kontinuierliche Hangeln am Burn-Out-Abgrund gemeint. Immer weiter funktionieren, immer länger werdende To-Do-Listen anfertigen, jeden Punkt wie im Tunnel erledigen, alles noch Unerledigte weiter aufschieben, nie zur Ruhe kommen, hyperaktives Weglaufen vor den Symptomen der Erschöpfung, immer grad noch so die bereits leicht kullernden Steinchen unter den Füßen ausbalancierend, um sich nicht in Stücke zerrissen im großen Knall des Burn Outs wiederzufinden. Vor lauter Ausbalancieren schafft man es aber auch nicht mehr in den rettenden Schwebezustand. Nix mit Rakete…
Wann kommt denn bei all dem dieser idyllisch anmutende Teil, bei dem man lernt, auf Knopfdruck in den Schwebezustand zu gehen, um nicht zu explodieren? Ich glaube, Autismus hin oder her, und ob man nun lernen muss, sein Betriebssystem zu akzeptieren oder gleich zu dem Teil übergehen kann, bei dem man der Aufgabenflut eine gesunde Grenze setzt: vielleicht sollten wir alle mal häufiger zur Tool-Box greifen, den Schraubenzieher rausnehmen und sich selbst den Schalter einbauen für den rettenden Moment des „Stop! ICH geh jetzt schweben, und ihr könnt mich alle mal gerne haben.“
* Quellen:
https://www.rki.de/DE/Content/Service/Sozialberatung/BGBL_Burnout.pdf?__blob=publicationFile
https://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta332_bericht_de.pdf
Daniela Dankova. Autismus-Spektrum-Störung. Asperger Syndrom. 2. Aufl., 2020.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32851204/ (Studie Raymaker, 2020)
Bert te Wild, Timo Schiele. Burn On: Immer kurz vorm Burn Out. Juni, 2021. Droemer ebook. https://www.google.de/books/edition/_/4bwFEAAAQBAJ?hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjxu7TYtYX_AhXPNuwKHdctBf8Qre8FegQIERAG