PDA und andere Katastrophen
Süß, so ein Panda, finde ich. Also – rein optisch. Und sie wirken so gemütlich und zufrieden! Sie sind Einzelgänger und Pflanzenfresser, es gibt nicht besonders viele von ihnen und so lange sie genügend Bambus zu sich nehmen können, bleiben sie völlig entspannt. Ein herrlich gemütliches, anforderungsfreies Leben – hach, wie schön! Kein „wir müssen loooohoos, beeil dich!“, kein „du musst noch Hausaufgaben machen, deinen Ranzen neu packen und dein Zimmer aufräumen“. Sie müssen nicht essen, wenn andere es sagen, und schon gar nicht wird ihnen „abwechslungsreiche, bunte und gesunde“ Ernährung fürsorglicher Eltern vorgesetzt. Sie bleiben bei ihrem Bambus. Allein. Glücklich mit sich und der Welt.
Lucas, 9 Jahre alt, ist auch ein Panda. Ein Panda-Menschenkind. Er lebt mit seinen Eltern und seinen zwei Geschwistern in der Schweiz. „Dieses Kind war schon immer anders!“ sagt seine Mama. „Anstrengend, herausfordernd, nichts lief. Anziehen nicht, Zähneputzen nicht, Essen nicht – zumindest weder die Speisen, die ich ausgewählt hatte, noch zu der Uhrzeit und schon überhaupt nicht an dem Platz, den ich vorsah. Von Beginn an! Schon das Abstillen war der reinste Horror! Gegen alles hat er sich geweigert. „Tja – typisch tyrannisches Verhalten“ würden einige sagen. „Nichts ungewöhnliches. Machen doch fast alle Kinder. Hat halt nen starken Willen.“
Hat sich Lucas‘ Mama auch gesagt und alles probiert. Einschlägige Literatur zu konsequenter Erziehung und zum Abstillen, Erziehungsberatung, Besuche beim Psychologen – geballtes Versagen beim dritten Kind, das eigentlich „so mitlaufen sollte“.
„Natürlich beherzigte ich die Ratschläge, auch die anderer Eltern, versuchte, konsequent zu sein und Routinen zu entwickeln. Geändert hat sich genau NICHTS. Solange wir ihn in Watte packen (rw), geht es. Aber soll er mit in SEINE Lieblingspizzeria, wenn er sich grade was anderes überlegt hat, gibt es ein Riesengeschrei und nichts geht. Es sprengt die ganze Familie. Er darf Dinge, die seine Geschwister nie durften und bis jetzt nicht dürfen: mit dem Händi im Restaurant sitzen zum Beispiel. Einfach, damit wir mal alle gemeinsam rauskommen und ein bisschen Frieden haben. Alles ist auf ihn ausgerichtet, nur damit ER nicht ausrastet. Und bis heute sitze ich zum Einschlafen an seinem Bett. Naja. Wenn ich ehrlich bin, liege ich eher IN seinem Bett.“
Au weia, denke ich. Die lässt sich ja ganz schön rumkommandieren. Ich muss das jetzt fragen: „Fühlst du dich nicht von deinem Kind total getrieben und unverhältnismäßig gefordert? Kannst du nicht einfach mal NEIN sagen?“ Sie schmunzelt. „Das hab ich so lang versucht. Bis mir eine kleine Episode irgendwie die Augen öffnete: Zum Schuleintritt wollte ich seine erste Federtasche mit ihm aussuchen gehen, so wie mit seinen Geschwistern. Doch der kleine Ausflug endete nach fünf Minuten, als er weinend und schreiend auf dem Bürgersteig lag. Er war völlig außer sich! Als ich ihn so sah, wurde mir klar: er KANN wirklich nicht. Er WILL eine Federtasche. Doch er KANN nicht mit mir gehen, er ist total verzweifelt über sich selbst. Er tat mir richtig leid. Er sollte doch nur mit mir zum kleinen Ecklädchen gehen und sich seine erste Federtasche aussuchen.“
Wie ging es denn dann weiter? „Im Internet bin ich auf die Seite der PDA Society in England gestoßen“ (www.pdasociety.org.uk) erzählt Lucas‘ Mama. „PDA steht für Pathological Demand Avoidance, also das pathologische Vermeiden von Anforderungen. Es gab eine Auflistung von Symptomen, anhand derer man das sog. PDA Profil erkennen kann. Ich habe meinen Augen nicht getraut! Es war, als hätte ICH dort Lucas beschrieben! Ich war völlig verdattert! “
MOOOMENT!!!! Echt jetzt? „Ich kann meinen Teller nicht abräumen, ich hab PDA. Oh, leider kann ich nicht zur Schule, ich hab ja PDA“. So einfach soll das sein? Dann ist die Welt aber voll von kleinen und großen Pandas!!!! (Oh, ich kann leider nicht mehr einkaufen, kochen und die Wäsche waschen, ich bin eine Panda-Mutter. PERFEKT!) Jetzt gehe ich auf die Suche. Ich will verstehen, worin der Unterschied des „bocklosen Kindes“ zu einem pathologischen Syndrom besteht.
Es scheint so zu sein, dass das Auftauchen einer Anforderung eine echte, wahre Angst bei den Betroffenen auslöst. Dabei macht es offenbar keinen Unterschied, ob die Anforderung Zähneputzen oder Gummibärchen holen heißt. Es geht nicht um das Ziel der Anforderung, sondern um die Konfrontation mit einer Erwartung. Die Pandas wehren und winden sich, sie versuchen alle ihnen zur Verfügung stehenden sozialen Strategien von Freundlichkeit bis Manipulation, sie probieren es mit Selbstabwertung, Rollenspielen und Lügen. Überwinden sie ihre Angst – und gehen zur Schule, mit Mama zum Ecklädchen oder in die Pizzeria – sind sie anschließend oft total erschöpft, und manchmal erleiden sie auch einen richtigen Zusammenbruch.
Doch so einfach will ich uns hier nicht aus der Affäre lassen, so richtig verstanden hab ich das noch nicht. In Deutschland ist PDA noch nahezu unbekannt, aber es muss doch einen Profi geben, der mich aufklärt. Ich finde gleich zwei Expertinnen: Dr. med. Nico le Chou-Knecht, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im schweizerischen Schönenwerd und Elisabeth Carl, Erziehungswissenschaftlerin und Sozialpädagogin aus Halle (Saale). Sie haben mit www.pda-anders-autistisch.info die erste deutschsprachige Website zu PDA erstellt,wirken an Buchprojekten* dazu mit und machen es mit ihrem Fachverein-PDA-Autismus-Profil FAPDA (http://www.pda-autismus-verein.org) bekannt – die beiden sind bereit, mir Rede und Antwort zu stehen.
Zunächst erklären sie mir noch einmal, woran die Betroffenen zu erkennen sind: Es geht nicht um „Bocklosigkeit“. Es geht um Angst, fast Panik, die sie spüren, wenn sie Anforderungen, Ansprüchen oder Erwartungen ausgesetzt sind. Das kann soweit gehen, dass sie keine Möglichkeit sehen, ihrem Hungergefühl gerecht zu werden – denn auch das ist ja eine Erwartung: von sich selbst, an sich selbst. Und um die für sie angsteinflößenden Anforderungen zu vermeiden, nehmen sie häufig Anstrengungen auf sich, die in keinem Verhältnis zur eigentlichen Aufgabe stehen. „Ich hatte Lucas ja nicht gesagt, er soll mich huckepack zum Ecklädchen tragen und die Federtasche von seinem Taschengeld bezahlen! Und er wollte doch auch eine haben! Als er sich beruhigt hatte, haben wir gemeinsam eine im Internet ausgesucht. Er war dann sehr glücklich. Und ich hab an dem Tag sehr viel verstanden.“
„Die Reaktionen sind häufig extrem“, erklären mir die Fachfrauen. „Fast exzessive Impulsivität, verzweifelte Lügen und Panikreaktionen stehen auf der Tagesordnung, wenn der oder die große oder kleine Panda nicht als solcher erkannt wird und entsprechend behandelt wird. Die Eltern wissen nicht ein, nicht aus. Sie fühlen sich schuldig und unfähig – und die Kommentare des Umfelds verstärken das.“
Wo kommt das denn her? Warum ist Lucas anders als seine Geschwister? Wieso ist er nicht einfach ein verzogenes, bockloses Nesthäkchen, dem Routinen, Regeln und Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Lebens helfen würden?
Die Expertinnen erklären weiter: „PDA ist ein neurologisches Problem. Das Nervensystem ist ständig hoch gereizt. Es läuft quasi immer gleich über. Und jede Anforderung wirkt dann wie das Knacken des Unterholzes, das unserem Angstzentrum signalisiert: ACHTUNG! Gleich frisst dich der Tiger! Es schreit ständig: FIGHT, FLIGHT or FREEZE! Es ist für die Betroffenen wirklich sehr, sehr schwer. Und da wir momentan meistens über Kinder sprechen: für ihre Familien auch. Dieses permanente Co-Regulieren, das Ausgleichen, die Rücksichtnahme. Die Angst vor dem nächsten Ausraster.“
Ok. Ich glaub, ich komm so langsam dahinter, was das bedeutet. Was macht man denn da? Was hilft? WER hilft??
„Wichtig ist es, jemand zu finden, der sich mit dem PDA-Profil auskennt. Noch gibt es im deutschsprachigen Raum wenige Psychiater*Innen, Psycholog*innen und andere Profis, denen das Syndrom geläufig ist – und es zu diagnostizieren ist nicht leicht. Die Betroffenen haben eine autistische Wahrnehmung. Auch bei ihnen ist das Reizfiltersystem durchlässiger als bei Nicht-Autisten. Während jedoch die „klassischen“ Autisten eher auf Rückzug und Routine zur Verarbeitung setzen, werfen sich PDA-Betroffene sogar noch vermehrt in die Reize. Denn Routinen und Regeln werden wie Anforderungen, also als Bedrohungen, wahrgenommen.“
Mann, ist das kompliziert! Sie sind Autisten, aber Routinen und Regeln helfen nicht, weil die wieder Angst machen?? Puh…
„Die Betroffenen haben scheinbar eine viel höhere soziale Kompetenz als „klassische“ Autisten. Dass auch ihnen i. d. R. das tiefe Verständnis für soziale Situationen fehlt, ist schwierig zu erkennen. Sie können ihr autistisches Erleben zumeist sehr gut kompensieren und maskieren. Doch zu Hause, wenn sie sich sicher fühlen, lassen auch sie alles los, zeigen ihre innere Verzweiflung mit extremen Stimmungsschwankungen oder mit zwanghaftem – oft auf andere, z. B. die Mutter – ausgerichtetem Verhalten, mit Versuchen, die Situation zu kontrollieren, in dem sie andere „herumkommandieren“.
Haben die kleinen Pandas Glück, wählen ihre Eltern instinktiv (und erschöpft) den richtigen Weg: Die Anforderungen reduzieren und die Autonomie des Kindes stärken: Ok, du kannst in deinem Zimmer essen, du musst heute nicht zu deinem Sportkurs, du darfst einfach SEIN. Und erhalten als Belohnung die Missbilligungen ihres Umfelds.“
(Da erinnere ich doch gerne an einen meiner Lieblingsaussprüche: „Nichts erzieht sich leichter als die Kinder anderer Leute.“)
So. Was machen wir jetzt mit unserer neu gewonnenen Weisheit? Angenommen, wir vermuten, ein PDA-Kind zu haben und die Strategien helfen auch dabei, zu Hause besser klarzukommen. Aber: Wo gibt es externe Hilfe? Die Kinder sind ja trotzdem irgendwann schulpflichtig und müssen auch ins Leben entlassen werden! Um z. B. Schulhilfe beantragen zu können, benötigt man eine fachärztliche Diagnose. Doch PDA stellt keine eigenständige Diagnose dar, hab ich verstanden…
Richtig, aber: „Im ICD-11, dem aktuellen Klassifikationsmanual der World Health Organisation, werden das Hauptsymptom von PDA – die Demand Avoidance, also das Vermeiden von Anforderungen – und die explosiven Ausbrüche wörtlich benannt, und ebenso wird das starke Maskieren hier beschrieben, und dass dies eine Diagnose im Autismus-Spektrum nicht ausschließt.“ sagen mir die Expertinnen.
Da lohnt sich doch eine letzte Nachfrage! Bei einer Berliner Facharztpraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie erfahre ich, dass sie sich dort aktuell nicht nur intensiv mit PDA auseinandersetzen, sondern dieses auch bereits in ihrer Praxis erkannt und als autistisches Erscheinungsbild diagnostizieren konnten. Es ist also angekommen in Deutschland. Kaum verbreitet, doch es wird daran gearbeitet. Und es gibt Aussicht auf Hilfe!
Denn PDA, klassischer Autismus, nix davon oder was ganz anderes – völlig egal, die Liebe zum eigenen Kind, die bleibt ungebrochen, da sind wir uns sicher alle einig. Wir nehmen und lieben sie, wie sie sind. Doch manchmal sind Eltern völlig erschöpft. Sie brauchen Pausen, und sie brauchen Hilfe.
Die Liebe ist die Basis. Doch um im echten Leben bestehen zu können und an dessen realen Bedingungen nicht nur irgendwie nicht zu scheitern, sondern um wirklich teilhaben zu können, ist professionelle Hilfe eine wichtige Zutat – WENN wir den Auftrag der Akzeptanz und die Vision einer bunten Gesellschaft ernst nehmen wollen.
To be continued.
*Das Buch „Zirkus im Kopf. Diagnose: Autismus Störung – der tägliche Kampf im System“
erscheint demnächst im Verlag Hamburger Perspektivwechsel Media.
Auf Instagram findet ihr u. a. folgende hilfreiche Profile:
german_language_pda_learnings (Elisabeth Carl)
pda_schweiz (Dr. med. Nicole Chou-Knecht)
atpeaceparents (Ph. D. Casey Ehrlich)
Ein wunderbarer Beitrag zu diesem so wichtigen Thema, das dringend mehr Sichtbarkeit benötigt.
Ein toller Artikel, das trifft es großartig!
Das mit der Schulpflicht in Deutschland ist ein großes Problem. Mein fast 15-jähriger Panda ist gerade im Burnout und damit nicht schulfähig. Er hat jetzt erst einmal eine Krankschreibung. Aber mit Hochbegabung und ADHS wäre es eine Katastrophe für ihn, die Klasse wiederholen zu müssen, wo er Schule ohnehin schon hasst. Also muss er dieses Schuljahr noch einmal in die Schule, damit er benotet werden kann.
Guter deutschsprachiger Artikel! Aber wo sind die ganzen Experten, Netzwerke, Schulen und Konzepte in D, die betroffenden Familien in der Praxis helfen? Es gibt sie nicht.
Hallo Pandapapa – es gibt den Fachverband FAPDA, der in der Schweiz sitzt. Die Co-Präsidentin in Deutschland kann auch weiterhelfen unter sichtreiseberatungqweb.de
Gute Insta Accounts sind atpeaceparents von PhD Casey Ehrlich, hannah.mar.tin und der des FAPDA.
Sehr aufschlussreichen Beitrag. Mir stehen die Tränen in den Augen, weil ich meinen mittlerweile 14jährigen Panda zu 100% im Text wiedererkannt habe. Leider haben wir keine gesicherte Diagnose und sind auf der Suche nach Experten
Hallo Pandamutter – es gibt den Fachverband FAPDA, der in der Schweiz sitzt. Die Co-Präsidentin in Deutschland kann auch weiterhelfen unter sichtreiseberatungqweb.de
Gute Insta Accounts sind atpeaceparents von PhD Casey Ehrlich, hannah.mar.tin und der des FAPDA.
Vielen lieben Dank für diesen ausführlichen Beitrag. Ich fühle mich durch ihn als Mama eines kleinen Pandakindes sehr gesehen und abgeholt und er ist auch ein guter Einstieg für Familie und Freund*innen, die sich mit dem Thema PDA noch nicht auseinander gesetzt haben. Mich würde sehr interessieren um welche Praxis in Berlin es sich handelt, weil wir händeringend eine suchen, die eine gute, zugewandte Diagnostik anbieten. Wir hatten bisher wenig Glück und keine guten Erlebnisse für unser Kind.
Hallo! Die Praxis kann ich leider nicht nennen…ich habe es versprochen. Sie haben – wie fast alle – eine geschlossene Warteliste und können kaum ihre Bestandspatienten versorgen… Aber: die deutsche Präsidentin des Fachverbands PDA stellt gerne eine Liste mit Ärzten und Therapeuten zur Verfügung: sichtreiseberatung(at)Web.de Dort wird geholfen