…oder doch nicht? Bin ich eine Stütze für mein Kind, oder mache ich alles nur schlimmer? Bin ICH vielleicht die, die Hilfe braucht??
In meiner mir eigenen Art war ich in der letzten Woche mal wieder fröhlich dabei, einen riesigen Blumenstrauß – nein eher Blumengroßhalle – neuer Fragen aufzumachen. Was passiert in der Pubertät? Welche ist die richtige Schulform? Wie kommen Menschen im Autismus-Spektrum zu einem Beruf, wie informiert man sein Umfeld angemessen über die Andersartigkeit eines Familienmitglieds, wie kann schulische Inklusion wirklich funktionieren, welche Komorbiditäten gibt es (wenn ich ein Wort SCHRECKLICH finde, dann „Komorbiditäten“) und welche ist die richtige Ernährung für meine Kinder? (Es gibt nämlich sehr interessante Theorien darüber, dass Autismus im Darm sitzt oder sitzen könnte, und dass die Einschränkung des Konsums von Gluten und Kasein deutlich zur Verbesserung der zum Teil quälenden Symptome beitragen könnte.)
Auf meiner Suche nach Antworten komme ich viel in Kontakt mit anderen Anderen, Eltern anderer Kinder, und auch mit Experten: Psychologen/Innen, die auf das Thema Autismusspektrum spezialisiert sind, Unternehmen, die sich auf die Jobvermittlung autistischer Menschen konzentrieren, Familientherapeuten, Diagnostikern, Inklusionsbündnissen, usw.
Außerdem hatte ich mich ehrlich gesagt schon daran gewöhnt, für meine Blog-Artikel und Beiträge in den sozialen Netzwerken über den grünen Klee gelobt zu werden. Läuft doch prima. Ich mache mir ja meine Gedanken sowieso, schreibe gerne, dabei kommt dann was passendes für alle raus und zu Hause hab ich im Großen und Ganzen alles im Griff.
Ja?
Da schreibt mir doch eine Psychologin, eine Expertin zum Thema Autismusspektrum, ich hätte lauter Fragen anstelle von Antworten, würde meinen Sohn durch meine Unsicherheit destabilisieren und am Ende durch meine Offenheit noch traumatisieren. Außerdem wäre Tony Attwood- mit dessen Büchern ich ehrlich gesagt nicht richtig warm werde – DER Experte für Asperger Autismus und ich möge mir über ihn und andere gute Leute mehr Wissen aneignen, damit ich meinem Sohn auch eine Hilfe wäre, außerdem bräuchte ich erstmal selber welche. Erst dann könnte ich über eine Therapie für meinen Sohn nachdenken.
Geht’s noch???
Ich war irritiert. Wir kennen uns nur aus den sozialen Netzwerken, und ich weiß nicht, wie sie das alles beurteilen will. Ich war fast verletzt von ihren Worten, denn woher will sie wissen, wie sich unser Leben für uns anfühlt? Sind Attwoods Bücher nicht reine Theorie, die sich vielleicht einfach nicht in die Praxis übertragen lassen? Außerdem will ich meinen Sohn nicht therapieren. Ich will ihn so haben, wie er ist.
Nachdem ich diese Phase überwunden hatte, habe ich mich gezwungen, die Nachricht von ihr noch einige Male zu lesen. Ich weiß nicht, wie es von ihr gemeint war. Woher auch. Ich hab ja nicht mal gefragt. Aber ich weiß, wie es bei mir angekommen ist. Und das sagt ja bekanntlich mehr über den Empfänger der Nachricht (also mich) aus, als über den Absender. Und ich glaube, es war gar nicht „so“ gemeint, aber es ist „so“ bei mir angekommen:
Hab ich mehr Fragen als Antworten? Verunsichere ich mein Kind? Kann ich keine Hilfe stellen, weil ich selber Hilfe brauche? Sollte ich mir Fachberatung – „Psychoedukation“ wird sie in dem Fall offenbar genannt- holen und auch mal mit jemand sprechen, der mir mit meiner „emotionalen Verwirrung“ hilft?
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich dazu, dass das eine gute Idee sein könnte. Alle Kinder, normal oder anders, sind doch dankbar, wenn sich ihr Elternhaus durch Stabilität, Vorhersehbarkeit und eine gewisse „Festigkeit der gelebten Werte“ auszeichnet. War es für uns selbst als junge Menschen nicht einfacher, mit unseren Eltern in eine Diskussion zu gehen, wenn sie in ihren Ansichten klar und sicher waren? Konnten wir uns nicht viel besser über unsere spießigen Alten grün und blau ärgern und uns von ihnen differenzieren, wenn sie immer gleich spießig und alt waren, und nicht täglich eine neue Erziehungsidee an uns ausprobierten? Sie waren der Kuchen, wir der Krümel. Wie hätten wir uns gefühlt, wenn sie nur ein loser Krümel-Haufen gewesen wären?
Nun möchte ich mich nicht unbedingt mit einem losen Krümel-Haufen vergleichen, zumindest nicht, was meine Grundhaltung und Lebensfestigkeit angeht. Allerdings habe ich doch schon immer dazu geneigt, lauter Dinge zu beginnen, und dann mal zu gucken, was davon zu Ende gebracht werden kann (wird heutzutage „Agiles Arbeiten“ genannt ;o)) – ist in Bezug auf meinen Großen aber vermutlich kein besonders guter Weg.
Bisher war ich der Meinung, dass ich ausreichend viel über Asperger-Autismus weiß, und dass ich vor allem viel darüber weiß, wie mein Kind ist. Denn wir wissen ja: kennste einen Autisten, kennste einen Autisten. Aber ja – nach all den Jahren könnte ich Tony Atwood vielleicht eine zweite Chance geben. Möglicher Weise war ich damals, direkt nach der Diagnose, einfach überfordert mit der Fülle an Informationen und nicht aufnahmebereit für theoretisches Fachwissen. Und mein Vorhaben, Veranstaltungen von Autismus Deutschland e. V. Zu besuchen, habe ich ja auch immer noch nicht umgesetzt. Ist in Zeiten der Pandemie vermutlich auch nicht einfacher geworden, aber dann lauscht man eben vom Sofa aus.
Ich würde immer noch mein Kind in den Vordergrund stellen wollen, und mich auf den Teil des Fachwissens beschränken wollen, der uns hier tatsächlich betrifft. Und viele Dinge, die ich bereits gelernt habe, passen für meinen Großen auch einfach nicht. Dazu glaube ich, dass jede Familie ihren eigenen Weg im Umgang mit Störungsbildern finden muss. Da gehört „Ausprobieren“ auch einfach dazu. Jedoch hat ihre Mail bei mir einen offenbar wunden Punkt getroffen – sonst hätte ich mir den Schuh ja nicht angezogen: ich selbst habe den Eindruck von mir, dass ich meinen Großen oft nicht richtig stütze, sondern zusätzlich in Unruhe versetze – durch Vorschläge, Ideen und meine Meinung. Das wird auch so bleiben müssen, aber ich könnte die Themenfelder, zu denen ich Vorschläge mache, reduzieren. Wir müssen uns nicht um Schulorganisation, Komorbiditäten und geeignete Ernährung gleichzeitig kümmern, man kann sich auf ein Thema konzentrieren. Und die Beiträge, die ich dann leiste, könnten besser theoretisch unterstützt sein.
Er hat aber eine sehr wichtige Sache bereits gelernt, vielleicht genau dadurch, dass ich zu oft zusätzliche Unruhe reinbringe: er formuliert mittlerweile sehr unmißverständlich, wenn er seine Ruhe benötigt, und wenn ich mich einfach raushalten soll. Das ist wichtig für alle Menschen, aber für Autisten (und ebenso Menschen mit AD(H)S, Hochsensibilität, etc.) noch viel wichtiger, denn die „Abschaltfunktion für Reize“ ist bei ihnen ja vergessen worden.
Und seine Schulhelferin hat mir neulich eine ganz wunderbare Begebenheit erzählt, die dazu passt: in der Schule ging es um die Bedeutung der Familie für den Einzelnen. Abgesehen davon, dass für ihn Familie das wichtigste der Welt ist – das wusste ich schon – hat er erzählt, dass seine Eltern ihm beigebracht hätten, dass Gefühle zu haben, „ok“ ist, und dass man sie auch äußern darf, und wie das mit dem Äußern der Gefühle überhaupt geht. Es hat mir viel bedeutet, das zu erfahren! Das lernt man nämlich nicht in der Schule, und viele leider auch nicht zu Hause. Aber er hat es zu Hause gelernt, in seinem „geschützten Bereich“. Es bedeutet mir viel, dass das gelungen ist, und es zeigt, dass hier auch manches „richtig“ läuft.
Dennoch: mehr Fachwissen und die Fokussierung auf das, was jetzt wirklich wichtig ist und dadurch mit weniger Fragezeichen herumzulaufen – das sollte das Gebot der kommenden Zeit werden. Mit der Idee fühle ich mich gut. Ich bin dankbar für den Blick von außen.
In diesem Sinne: ich hol jetzt mal ein Buch!
Liebe K., heute hast du ein Thema aufgemacht, aus dem sich deine Familie immer herausgehalten hat. Ausgerechnet „irgendeine“Dir nicht bekannte Psychologin gibt Dir einen einen Ratschlag, den Du heute publik gemacht hast: Du brauchst Hilfe. Ich kann nicht für unsere ganze Familie sprechen aber ich glaube, dafür würde sich bei uns eine Mehrheit finden. Das bedeutet keinen Zweifel an Deiner Kompetenz und Deinem Engagement. Auch Experten/Innen können Hilfe für sich selbst brauchen. Das belege ich Dir mit einem meiner Lieblingswitze: Treffen sich 2 Psychologen und der eine sagt „guten Tag, Ihnen geht es gut – wir geht es mir?“ In diesem Sinne ein schönes WE, Dein Papa.
Lieber Papa- ich kann dir lachend und schmunzelnd versichern: die Familie hat sich zu dem Thema NICHT herausgehalten! Das ist übrigens völlig ok, aber die Erkenntnis kommt eben, wenn sie kommt. Ich habe die Aufforderungen wahrgenommen, aber es war halt noch nicht an der Zeit. Schön, dass es euch gibt, und danke für deine vielen wertvollen Kommentare! K.