Na gut. Aber reicht dieses Vorurteil, um einen Job zu bekommen und ihn zu behalten? Denn: Autistische Menschen sind auffällig häufig gut ausgebildet und auffällig oft arbeitslos, so habe ich es mehrfachfach lesen können.
Wieso? Was ist das Problem? Was für Jobs suchen die denn? Und warum passt es so oft nicht? Und wie kann man es passend machen? Und warum sollte sich ein Unternehmen die Mühe machen, einen Job so zu gestalten, dass er von einem Autisten bewältigt werden kann? Warum sollte man nicht einfach jemand einstellen, der „systemkonform“ ist??
„Ha!“ Denken sich vielleicht einige Arbeitgeber. „Die meisten von denen haben ja einen Schwerbehindertenausweis. Dann bekomme ich doch Förderung. Andererseits: dann haben sie auch einen besonderen Kündigungsschutz… ist vielleicht nicht ganz das richtige in der heutigen Zeit.“ Oder?
Als Mutter eines Autisten, der sich grade durchs System Schule quält, sind das natürlich spannende Fragen. Wenn alles top läuft, quälen wir uns ja nur noch weitere fünfeinhalb Jahre mit unserem Großen durchs autismus-feindliche Schulsystem. Super. Und dann???? Wie geht die Quälerei denn dann weiter?? Ja, ginge es nach ihm, würde er anschließend einfach weiterlernen. Natürlich 1:1 mit einem Professor, der ihm den Inhalt seiner Wahl auf dem heimischen Sofa näherbringt. Gerne ein Stück Kuchen dazu. In seinen Vorlieben wechselt Monsieur da momentan mehrmals täglich zwischen Jura, Philosophie, Geschichte, Chemie und Physik. Sehr schön.
Aber mal angenommen, „wir“ schaffen das mit der Schule und dem Abitur, und „wir“ schaffen es anschließend auch, eine weitere Ausbildung im realen, neurotypischen System anzuhängen, welche auch immer, WAS PASSIERT DENN DANN??? Googelt man nach Beispielen erfolgreicher (Asperger) – Autisten, so werden einem unglaubliche Geschichten dargeboten, in denen Ausnahmeerscheinungen posthum das vermeintliche Gütesigel „Asperger“ aufgedrückt bekommen: Einstein, Mozart und Karl Lagerfeld, um nur einige Beispiele zu nennen. Das ist schön und gut, und mal gesetzt den Fall, dass diese Genies wirklich Asperger-Autisten gewesen sind : das ist damit ja noch lange keine klassische „Erwerbs“-Biografie, nur weil man im Hirn ein bisschen anders verschaltet ist.
Gemäß meiner neuen Vorsätze, mir häufiger fachliche Beratung zu holen, frage ich jemand, der er wissen könnte und spreche mit der Psychologin Teresa Reutemann. Sie sagt: „Was in der Gesellschaft fehlt, sind sichtbare Lebens- und Berufswege normaler Menschen im Autismusspektrum. Genau wie neurotypische Personen finden sich auch autistische in allen Branchen wieder, in der kreativen genauso wie in der sozialen, technischen oder der administrativen. Die Vielfalt ist hier nicht eingeschränkt.“
Teresa Reutemann ist Mitarbeiterin des Berliner Unternehmens DIVERSICON (www.DIVERSICON.de), das im Jahr 2017 von Dirk Müller-Remus, Vater eines Aspergers, und René Kuhlemann, selbst Asperger, gegründet wurde. Müller-Remus kennt sich mit sozialen Start-Ups aus, denn im Jahr 2011 rief er bereits den IT-Dienstleister AUTICON (www.auticon.de) ins Leben. Doch im Gegensatz zu Auticon, das seine IT-Jobs ausschließlich mit Fachkräften aus dem Autismusspektrum besetzt, versteht sich Diversicon als Job-Vermittler in alle Branchen. Denn nicht alle Autisten sind IT-ler. Sie sind auch Journalisten, Schauspieler, Bauzeichner, Controller, Musiker, PRler und vieles mehr (und das sowohl in männlicher, als auch in weiblicher und in diverser Geschlechterform).
Seit 2,5 Jahren gibt Teresa Reutemann Kurse und Coachings bei Diversicon. Es ist ihr erster Job nach dem Abschluss ihres Psychologie-Studiums – und es ist das Beste, was sie sich vorstellen konnte, sagt sie. „Dieser unglaubliche Blick fürs Detail, der begeistert und inspiriert mich, mir zwischendurch selbst die Welt genauer anzuschauen und mich über leuchtende Farben, ein verstecktes Muster oder das Gefühl eines besonderen Stoffes auf der Haut zu freuen!“
Diversicon hat inzwischen ein ein breites Angebot an Kursen und Coachings entwickelt – denn vor der eigentlichen Jobvermittlung steht hier ein intensiver Kennenlernprozess. Reutemann und ihre Kollegen/Innen bearbeiten in ihren Kursen und Coachings erstmal unterschiedliche Fragestellungen: Ich bin (fast) fertig mit der Schule – was kann und möchte ich danach machen? Was ist mir wichtig an einer Arbeit? Wie finde ich Stabilität und Struktur in der Übergangsphase? Wie offen möchte ich mit meiner Diagnose umgehen? Und ganz im Sinne von Different Planet: eine Autismus Diagnose ist keine Voraussetzung, um bei Diversicon richtig zu sein. Das Gefühl, irgendwie anders zu sein und von den autismusspezifischen Angeboten profitieren zu können, reicht völlig aus.
Man spürt Theresa Reutemanns Begeisterung dafür, Menschen dabei zu begleiten, ihre Fähigkeiten und Potentiale zu entdecken und zu Selbstvertrauen und verlässlicher Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse zu gelangen. Das Leuchten in ihren Augen kann ich durchs Telefon spüren, wenn sie davon berichtet, wie die Teilnehmer der Kurse und Coachings „…endlich mal gute Erfahrung in einer Gruppe machen! Und auf einmal sind – oft zum ersten Mal im Leben – mehr Autist*Innen als nicht-Autist*Innen im Raum. Sie sind in der Überzahl, nicht mehr in der Minderheit. Das sind ganz besondere Momente. Sie verlieren ihre Vorbehalte vor Gruppenarbeit und erleben, wie man gemeinsam etwas erarbeiten kann. Das stärkt!“
Mittlerweile zu meiner Begeisterung erzählt sie weiter: „Wir erarbeiten gemeinsam herausfordernde Situationen: Wann bin ich gestresst? Woran merke ich das? Wann laufe ich auf einen Overload zu? und im nächsten Schritt: Wie kann ich mich mitteilen? Was sag ich dann? Und ist das überhaupt ok?“ Man merkt, dass Teresa Reutemann an der richtigen Stelle gelandet ist.
Aber was ist denn mit der anderen Seite: Warum sollten Unternehmen Autisten beschäftigen??
Dafür liefert sie echte, handhabbare Gründe. Ich erfahre folgendes: Als Arbeitgeber von Aspergern muss man sich notgedrungen disziplinieren: eindeutige Kommunikation, besser durchdachte Strukturen, präzisere Arbeitsaufträge. Nicht: „das muss bis nächste Woche fertig sein“, sondern „A muss das hier bis übermorgen in Schriftform fertigstellen und an B weitergeben. B muss daraufhin dieses und jenes bis Donnerstag liefern und an C berichten.“ Die Person, die den Arbeitsauftrag formuliert, muss sich des Auftrags viel bewusster werden.
Ich denke über meine eigene Arbeit nach – im echten Leben führe ich ja selbst ein kleines Team. Bei mir kommen die Gedanken ehrlich gesagt beim Reden. Ich formuliere so in die Luft hinein und bin darauf angewiesen, dass die anderen bei der Aufnahme meiner schwirrenden Sätze die passenden Bausteine dazulegen. „Wir müssen mal unsere Homepage überarbeiten“ und dann kann ich froh sein, wenn ein Teammitglied diese halbformulierte Aufgabe als ihre/seine ansieht, die Arbeitspakete aufteilt und in angemessener Zeit ein Ergebnis abliefert. Ist das dann nicht passend, geht es von vorne los… Was für eine Verschwendung von Ressourcen! Kann mit Autisten offenbar nicht passieren. Da müsste ich ganz konkret formulieren, was ich mir vorstelle, bevor sie überhaupt den Einstieg in die Aufgabe gefunden hätten. Anstrengend. Aber im Ergebnis doch sicher besser – und schneller!
Außerdem muss das Arbeitsklima oft ein wenig überdacht werden – und wird dadurch potentiell für alle verbessert: Autisten und viele andere „neurodiverse Personen“ benötigen eine reizärmere Umgebung und mehr Pausen, um sich nicht zu verbrennen. Der Job ist ein Langzeitprojekt und kein Sprint. Kräfte sinnvoll einteilen – das weiß ich von vom meinem Großen zu Hause – das ist ein Problem. Auch hier kann Diversicon beraten und den oder die neue/n Mitarbeiter/in beim „Ankommen“ im neuen Job begleiten. Das hilft dem Unternehmen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass er oder sie sich erfolgreich eingliedern kann. Das ist aus meiner Sicht von unschätzbarem Wert für beide Seiten. Ich weiß es. Ich arbeite nicht mit einem Autisten, aber ich ziehe einen groß.
Und wie könnten auch alle anderen davon profitieren? Dadurch, dass „Energie einteilen“ vielleicht für alle gut ist. Vielleicht ist es auch als Normalo gar keine schlechte Idee, die eigenen Ressourcen nicht auf das Abprallen lassen überflüssiger Reize zu verwenden. Das können die zwar besser, aber: Kann man nicht einfach für weniger Lautstärke sorgen? Müssen bei einem Anruf in der Zentrale sieben Telefone gleichzeitig klingeln??? Und: wenn wir schon das top-moderne Großraumbüro bezogen haben, und unser Autisten-Kollege das nur mit Noise-Cancelling-Kopfhörern aushält: wollen wir das nicht auch mal versuchen?? Vielleicht trägt das zu einem verträglicheren Stresslevel bei.
Und dann gibt es da noch ein unglaubliches Angebot von Diversicon: Teilhabeberatung! Kostenfrei und persönlich. Man, hätte es das bereits vor vier Jahren gegeben und hätte ich es gewusst, mein Leben wäre einfacher gewesen. Ich habe mir alle Puzzleteile selbst zusammengesetzt: was ist ein Eingliederungshelfer, und wie und wo bekomme ich den? Wer ist überhaupt für meine Fragen ansprechbar? Was ist das persönliche Budget und wofür kann ich es verwenden? Hat mein Großer Anspruch auf Therapien, und falls ja, auf welche und was verbirgt sich hinter diesen? Ich hätte puzzeln lassen können…traumhaft!
Wie finanziert sich dieser schöne Traum eigentlich? Das Geschäftsmodell hat mehrere Beine: Die Job-Center und Bundesagenturen für Arbeit geben Gutscheine an die Arbeitssuchenden aus, worüber dann verschiedene Leistungen abgerechnet werden, die Unternehmen zahlen Provisionen für vermittelte Arbeitgeber, außerdem sind die Weiterbildungsveranstaltungen kostenpflichtig. Die Teilhabeberatung ist ein zeitlich begrenztes Projekt und wird derzeit von der SKala Initiative finanziert. Und Diversicon erhält auch Spenden.
Different Planet hat heute gespendet. Dafür müsst ihr mich nicht beklatschen, es ist reiner Eigennutz. Das Unternehmen muss noch ein paar Jahre überleben, damit wir seine Leistungen in Anspruch nehmen können. Ich werde an Diversicon dranbleiben. Möglicher Weise findet sich auch noch ein/e erfolgreich vermittelter Kandidat/In, mit dem/der ich sprechen darf, oder ein Unternehmen, das eine/n Autisten/In von Diversicon vermittelt bekommen hat. Das werde ich dann gerne hier mit euch teilen.
Ein Kommentar