Manchmal steht man ja ratlos vor seinem eigenen Kind. Kennen wir alle. Bei uns ist es grad mal wieder so…
Unser Großer hat momentan echte Schwierigkeiten, sich ins Leben einzupassen. Und ich stehe blöd daneben und übe mich in Ratlosigkeit, meistens befindet sich auch noch eine (ab)geschlossene Tür zwischen uns. “Geht es Dir gut?”, rufe ich dann durch die Tür. “Ja.”, kommt es zurück. Falls er überhaupt hört. Denn meistens hat er die Kopfhörer auf und hört Hörspiel, um alles andere von sich fernzuhalten. “Kann ich dir bei irgendwas helfen?”, frage ich nochmal. “Nein”, kommt es dann zurück. Die Antwort überrascht mich nicht, denn obwohl es angeblich keine doofen Fragen gibt, finde ich diese Frage komplett doof, weil – bei was soll ich denn helfen? Beim Herumliegen im Schlafanzug und mit zugezogenen Vorhängen? Ehrlich gesagt – am liebsten würde ich mich gerne einfach daneben setzen und ihm zusehen. Damit ich wieder ein Bild von ihm bekomme.
„Was machst Du grade durch?“ würde ich ihn fragen. „Wie kann ich dich unterstützen?“, „Welchen Platz in dieser Welt möchtest du gerne haben?“ und: „Wie sieht deine Welt eigentlich grade aus?“. Ich habe gelernt, dass es wenig nützt zu fragen, denn dann kommt immer sowas wie: „Gut! So gut wie im Moment ging es mir schon lange nicht!“. Alles, was ich von ihm sehe, zeigt ein anderes Bild: Merkwürdig derangierte, um nicht zu sagen „zerschnittene und zerrissene“, Kleidung, Zwangsstörungen (Tics, wie wir sie nennen), Erschöpfung, Schul“verweigerung“, Schlafstörung.
Sobald wir äußern, dass wir uns Sorgen machen, nimmt er all seine Kraft zusammen und spielt „normal“ und super-fröhlich. Ich glaube, er will so gerne „normal“ sein. Vielleicht uns zuliebe? Oder doch sich selbst zuliebe? Schwer zu sagen.
Und was machen wir mit der Schule? Er ist zerrissen – im augenscheinlichsten Sinne!- zwischen seiner Freude, zumindest an den naturwissenschaftlichen Fächern, und der kompletten Überforderung mit allem, was Schule außer Inhalt bedeutet: Aufstehen, wettergerecht Anziehen, Ranzen vernünftig packen, zeitgerecht fertig sein, Menschen, Lichter, Geräusche, unterschiedliche Räume, verschiedene Fächer, Kinder, die pubertär sind und Witze machen, die er nicht versteht. Ich glaube, ihm fehlt einfach ein Bild mit Rahmen von diesen Geschehnissen. Eine Art „Einornungshilfe“.
Gestern, am zweiten Tag nach den Ferien, hat seine Schulhelferin sehr schnell die Reißleine gezogen. Zum Glück. Ich hatte sie schon vorgewarnt. Der Abend davor war schon grausam. Der Morgen noch grausamer. Aber er ist tapfer losgegangen. Ich stand grad in Schuhen und Mantel in der Tür, bereit, ins Büro zu fahren, als die Nachricht kam: „Overload – wir kommen heim“
Ich war richtig froh, als er wieder in seinem Zimmer war, und in seinem Schlafanzug mit Kopfhörern vor seinen Tuschebildern saß. Da wusste ich, dass er zumindest sicher ist. Ob es ihm gut geht? Weiß ich nicht. Glaube nicht. Er lässt sich an diesen Tagen auch keine Aufgaben von mir abnehmen: Wehe, ich fasse seinen Ranzen an. Wehe, ich versuche, mit irgendwas zu helfen. Er will alles alleine machen, sogar sein Essen kochen.
Ich muss das alles hier schreiben. Weil es aus mir rausmuss, und weil ich jeden Tag so viele Nachrichten von verzweifelten Müttern bekomme, denen es genauso geht. Ihre Kinder haben keine Diagnose oder ganz viele, von Depression bis ADHS, von Autismusstörung bis Angsstörung, und uns alle verbindet Sorge und Ratlosigkeit. Und ein fehlendes Bild von der Zukunft. Manche können sich in guten Phasen ein Bild der nächsten Woche machen. Gibt es bei uns auch oft. Aber jetzt gerade, pünktlich zur dunklen Jahreszeit, schaffen es die meisten von uns gedanklich grad mal bis zur nächsten Stunde. Ehrlich gesagt fehlt nicht nur das Zukunftsbild, sondern auch eines der Gegenwart.
Für heute habe ich meinen Sohn überredet, sich mit seiner Schulhelferin zu treffen, um ein bisschen „Grund reinzubringen“. Einfach mal sortieren und einen Handlungsplan erstellen. Also – nicht zusätzlich zur Schule, sondern anstatt Schule. Er hat sich überreden lassen. Aber ich frage mich: war das richtig? Sein Signal war eigentlich: ich will einen weiteren Tag in meinem dunklen Zimmer mit Kopfhörern auf den Ohren verbringen. Ist es richtig, ein so zerstörtes Kind zu sowas zu überreden? Ich weiss es nicht! Aber: Drehe ich vielleicht langsam durch, mit ihm einen weiteren Tag hier so zu verbringen? Ihn immer in der gleichen derangierten Kleidung zu sehen, und immer mit Kopfhörern (IMMER heißt IMMER. Im Bad, in der Küche beim Kochen, beim Essen, beim Trinken, beim Herumliegen)? Ja, tue ich. Ich ertrage dieses Bild so schwer. Aber ist das relevant? Muss ich nicht gucken, was für IHN richtig ist? Und was ist richtig für ihn? Mein Bauchgefühl sagt mir: lass dieses Kind erstmal krankschreiben. Damit er zur Ruhe kommt. Damit er sich wieder ein Bild von sich machen kann, und damit wir uns wieder ein Bild der Situation machen können. Und irgendwas anderes in mir sagt: Das geht doch nicht. Er ist schulpflichtig. Man kann ihn doch nicht aus allem rausnehmen. Er verliert komplett den Anschluss, und das geht doch nicht.
Und dann gibt es ja auch noch die guten Tage. An denen er richtig aufgeräumt wirkt. Die schönsten Tage sind die, an denen er von sich aus anfängt zu erzählen. Von sich, seiner Zukunft, dem Bild, das er von sich und seinem Leben hat. Dann erzählt er, was ihm wichtig ist, und wie er sich perfekte Tage vorstellt, was er mal werden will, und wie er dahin kommen möchte. Dass eine perfekte Schule aus vielen Räumen mit Teppich bestehen sollte, dass es dort Hunde geben sollte, weil die so sind, wie Autisten, aber dass man erstmal die Angst vor ihnen verlieren muss, dann kann man ihnen ganz nahe kommen. Und dass Musik und Kunst ausschließlich als theoretische Fächer interessant sind, weil sie ein Teil unserer Kultur sind, dass man sie aber nicht anwenden muss, um sie zu verstehen.
Warum malt er dann den ganzen Tag diese Tuschebilder? Was hat es mit diesen Bildern auf sich? Die sehen richtig gut aus, finde ich! Die sahen schon im Kindergarten gut aus. Irgendwie passen die Farben immer so schön zusammen. Die Motive beschäftigen sich immer mit seinem Spezialinteresse, und trotzdem sind sie durch die Farben und die Art zu tuschen immer klar ihm zuzuordnen. Wenn er seine „Tuschephasen“ hat, malt er tagelang! Ansonsten meidet er Stifte und Papier ja wie der berühmte Eine das Weihwasser.
An den guten Tagen hat er auch ein Bild von sich und seiner Gegenwart. Dann kann er sagen, wie anstrengend manche Dinge für ihn sind, und dann formuliert er sogar, dass es vielleicht kein Weltuntergang ist, in Geo „nur“ eine drei zu bekommen, weil er seinen Fokus ja auf die naturwissenschaftlichen Fächer legen wollte. Das sind doch mal realitätsnahe Ansichten: in manchen Fächern bin ich nicht so gut wie in anderen. Mein Perfektionismus kann hier mal wegschauen. Puh, da fallen mir schonmal kleine Kieselsteinchen vom Herzen! Dann kommt er hoffentlich nicht mehr so schnell in diese unglaublichen Erschöpfungszustände.
An diesen guten Tagen möchte ich ihn nicht krankschreiben lassen. Da will ich ihn nur ermutigen, das Bild von sich weiter zu stärken. Wie kann ich meine Kräfte einteilen? Wie merke ich selber, dass mir alles zu viel wird, und wie kann ich mich dann mitteilen? Und ich möchte ihm signalisieren, dass es kein Versagen ist, erschöpft zu sein. „Normale“ haben das auch! Die sind auch müde, wenn freitags in der siebten und achten Stunde noch Musikunterricht wartet. Die sind eben nur in der Lage „zuzumachen“, die können die Reize einfach abprallen lassen. „Reize abprallen lassen“ ist leider im autistischen Betriebssystem vergessen worden… Das ist einer dieser vielen, kleinen, aber bedeutsamen Unterschiede.
An den „guten Tagen“ möchte ich meinen großen Jungen auch darin bestärken, sich mit seinem Zwiespalt (das Bild von der Zerrissenheit setzt sich grade durch…) zwischen „ich bin anders“ und „ich will normal sein“ zu beschäftigen. Das ist bestimmt total schwer, und ich kann ihm ehrlich gesagt gar nicht dazu raten. Ich bin halt leider einfach total normal, und abgesehen von der total normalen pubertären Identitätskrise hab ich nichts weiter durchgemacht... Aber ich kann ihn vielleicht doch mit dem Gefühl ausstatten, dass egal, was grade bei diesem Zwiespalt herauskommt, ok ist.
So sitze ich also hier. Am Freitag Morgen um 05.45h. Gleich muss ich ihn wecken. Ich bin gespannt, ob heute ein guter oder ein schlechter Tag ist. Ich glaube, er wird gut. Der gestrige Abend war gut. Die Nacht war gut. Es würde ins Bild passen, wenn jetzt auch noch der Tag „gut“ wird.
Liebe K., gerade habe ich wieder – wie immer am frühen Samstagmorgen – deinen Beitrag gelesen und würde gerne auch wieder einmal einen Kommentar dazu schreiben. Leider muss ich dir aber gestehen, dass mir einfach dafür die Worte fehlen. So bleibt mir nur zum Ausdruck zu bringen, wie sehr ich dein Engagement für unseren Großen (Enkel) bewundere. liebe Grüße und bis zum nächsten Wiedersehen, dein Papa
Liebe K.,
ich muss deinem Vater recht geben, mir fehlen auch die Worte. Ich habe alle Beiträge gelesen, alle haben mich berührt, doch dieser hier heute ganz besonders. Ich ziehe meinen Hut vor dir und M. so sehr. Egal welche Phase gerade ist, du versuchst immer positiv zu denken. „Es wird immer alles gut“, sind deine üblichen Worte, die ich schon sehr oft gehört habe. Das könnte nicht jeder. Ich bin froh, dass du durch den Blog eine Art „Verarbeitung“ gefunden hast.
Ich denke an euch und wünsche euch viele viele gute Tage!
Deine V.
Sehr berührt. Danke, dass Du das Chaos und die Gedanken und Gefühle in unserem Normalo-Mama-/-Papa-Kopf so treffend und behutsam in Worte fasst. Und uns am Leben Eures Sohnes teilhaben lässt. Die Taschentuch-Box ist nach diesem Artikel wieder um einige Lagen leerer.
Und dann: wie wundervoll, die eigenen Eltern so mit im Boot zu haben. Liebe Grüße an Dich und an Deinen Papa – Großeltern, die sich auf unsere Kinder einlassen können, sind ein riesengroßes Geschenk. Aber wenn sie sich einlassen, so richtig, dann bekommen sie soo viel zurück von unseren Kindern. Sagen zumindest meine Eltern 🙂 Mittlerweile die größten Fans von meinem Großen (Aspi). Und nein, das war nicht immer so. Aber dann… haben sie sich mit uns auf die Reise begeben in dieses Land, das Autismus heißt. Und Menschlichkeit.
Antje