„Mama, ich hab dich übrigens sehr lieb!“, sagt mein Großer, als er heute Morgen in die Küche schleicht und sich einen Tee macht.
Er hat Hals- und Kopfschmerzen, so wie sein kleiner Bruder, beide Kinder bleiben also zu Hause. Ich bin kurz vor dem Durchdrehen. Der dritte Tag zu Hause. Der dritte Tag, der ganz anders geplant war: Büro, Sport, Keller ausmisten. So steht es auf meiner Liste. Voller Elan und Tatendrang, ab nach draußen, durch die Stadt hetzten, ich wollte mir effektiv und effizient vorkommen.
Mh.
Hat mein Großer eben zu mir gesagt, dass er mich lieb hat? Dass er mich SEHR lieb hat, sogar?
Effektiv und effizient – Hab ich direkt mal gegoogelt. „Lohnend, nutzvoll, am Aufwand gemessen viel bewirkend“, bedeuten die Wörter. Wenn ich Dinge abhaken kann, die auf meiner Liste stehen, komme ich mir offenbar nutzvoll und lohnend vor. Prima!
Mein Großer kommt zurück in die Küche und will was erzählen. „Kind!“ fahre ich ihn an „ich kann nichts dafür, dass ich tausend Dinge erledigen muss und ihr ständig zu Hause rumlungert. Ich hab echt keine Zeit!“
„Ok“ antwortet er und schleicht wieder nach oben.
Am geringen Aufwand bemessen hab ich jetzt echt viel bewirkt. So schnell sagt er sicher nicht wieder, dass er mich sehr lieb hat.
Ich widme mich also meinen liegen gebliebenen E-Mails und bemitleide mich sehr effizient selbst.
Warum auch immer fällt mir dabei eine Übung ein, die mein Großer und ich mal regelmäßig machen sollten: sich ruhig gegenübersitzen und in die Augen sehen. Es ist eine Art „Verbindungsübung“. Autisten fällt die natürlich wahnsinnig schwer. Da aber wohl besonders Mütter autistischer Kinder oft dieses innige, verbundene Mama-Kind-Gefühl vermissen, weil autistische Kinder das eben nicht so gut entgegenbringen können, ist sie hier sehr empfohlen (kann aber natürlich jeder mit jedem machen)
Jedenfalls hat man nachgewiesen, dass nach ca 12 Minuten in-die-Augen-sehen Oxytocin ausgeschüttet wird. Oxytocin wird auch „Kuschel-„ oder „Bindungshormon“ genannt und wird bei sozialen Kontakten und Berührungen ausgeschüttet. Es wirkt entspannend, glückbringend und sorgt für Bindung. Mein Großer und ich haben es mit etwas Übung auf bis zu dreieinhalb Minuten gebracht. Immerhin!
Haben wir lange nicht mehr gemacht. Sollte man mal wieder.
Die wichtigsten Mails für die Arbeit sind erstmal erledigt. Dann fange ich mal an, meine Asperger-Arbeit aufzunehmen. Am besten beginne ich mit der Abrechnung für das Jugendamt. Oder sollte ich lieber heute die Konferenz mit den Lehrern meines Sohnes vorbereiten? Ich könnte auch schonmal damit beginnen, die Förderziele aufzustellen. Au weia, dieses spezielle Kästchenpapier muss ich ja noch besorgen, das normale ist einfach nicht das richtige für ihn. Oder – jetzt, wo er schon zu Hause ist – könnten wir auch mal die Bedienung des Diktiergeräts üben, damit er bald eine sinnvolle Alternative zum Schreiben hat. Vielleicht rufe ich auch erstmal bei seiner Ärztin an, das Gutachten muss ja aktualisiert werden. Und ich wollte ja auch noch bei der Pflegeversicherung was nachfragen. Oder…
Toll, dass er mir sagen kann, dass er mich lieb hat. Sehr sogar. Ist wahrscheinlich auch nicht ganz selbstverständlich. Autist hin oder her.
Morgen kann er aber wieder zur Schule. Hoffentlich gelingt heute Abend das Einschlafen einigermaßen, und wir müssen nicht bis 22h vorlesen… seinen Ranzen für morgen packen wir am besten schon deutlich vor dem Abendessen gemeinsam, sonst wird das wieder so eine Riesenaktion. Hauptsache, er geht morgen dann auch. Manchmal, wenn der Abstand so groß geworden ist, tut er sich richtig schwer, sich innerlich wieder auf die Situation Schule einzustellen. Zum Glück hat er seine Schulhelferin! So weiß er immer, dass er eine vertraute Person an seiner Seite hat. Neulich musste er den Unterricht verlassen. Es war einfach zu laut. Und es war auch ein Vertretungslehrer da. Ach, wer weiß, was es war. Jedenfalls bin ich gottfroh, dass seine Schulhelferin rechtzeitig gesehen hat, dass er auf einen Overload zusteuert und mit ihm rausgegangen ist. Sonst hätte ich ihn sicher tagelang nicht in die Schule bekommen! Was schreib ich da bloß als Begründung auf die Entschuldigung? „Musste in der 6. Stunde fehlen wegen drohenden Overloads“?? Ich weiß nicht… Ich werde mich mal beim Klassenlehrer erkundigen, was er dazu meint.
Neulich, als er ausnahmsweise mal wusste, wo sein Händi ist, und es sogar aufgeladen war, hat er mir ja eine Nachricht geschickt „Mama, ich hab dich sehr lieb“. Ach, das fand ich so berührend. Von Wohnzimmer zu Schlafzimmer werden hier Liebesbekundungen ausgetauscht, das ist doch mal was für mein Tagebuch!
Menschenskinder, ich muss mich unbedingt darum kümmern, dass wir unser angestammtes Zimmer auf dem Familienbauernhof im Herbst bekommen! Das wird doch ein Riesendrama, wenn das nicht klappt. Nicht, dass wir abreisen müssen, bevor wir überhaupt die Koffer reingebracht haben. Ich könnte ja gut mal ein anderes Zimmer nehmen, mal ein bisschen Variation. Aber ich glaube, das wäre zu viel. Bis er sich an das neue Zimmer gewöhnt hat, ist der Urlaub vorbei. Falls er überhaupt anfangen könnte. Dann mache ich das doch jetzt mal grad.
Mein Großer steht plötzlich wieder vor mir. „Mama, was gibt es heute zu Essen?“ „Du hast doch nicht ernsthaft jetzt schon Hunger??“ Nein, Mama, er hat keinen Hunger. Er braucht Nähe und Gewissheit. Keine Mama, die in einen Bildschirm guckt. Mein Bauch sagt das, aber mein Kopf hält das Gefühl fest, dass ich meine Aufgaben nicht schaffe. „Zu Hause“, das haben wir mit seiner Therapeutin besprochen, soll der „geschützte Raum“ sein. Da, wo er sein kann. So wie er ist. Wo er nicht „normal“ spielen muss, sondern L., der Asperger sein darf. Egal, was das bedeutet. Aber es muss auch mein Raum sein. Und es muss auch das echte Leben beinhalten dürfen, das eben auch daraus besteht, dass Eltern sich nicht immer um die Kinder kümmern können, sondern Aufgaben und sogar eigene Bedürfnisse haben. Das gilt für Neurotypen genauso wie für Andere.
Dennoch: diese Momente, in denen mein Großer signalisiert, dass er Nähe und Zuwendung von mir braucht, die sollte ich noch mehr nutzen. Für mein Oxytocin. Für sein Oxytocin. Für unsere Bindung. Dafür, dass wir ihm mit einem echten Zuhause, einem wirklich geschützten Raum, die für Asperger so typische Depression ersparen können. Drei von vier Aspergern bilden eine Depression aus. Ich will, dass mein Kind einer der vierten von Vier ist.
Jede Mutter und jeder Vater kennt den Zwiespalt aus dem Bedürfnis, sich um die Kinder zu kümmern und dem, sich „seinen eigenen Dingen“ widmen zu wollen. Aber ich werde vielleicht noch wehmütiger als andere auf die raren Momente der Liebesbekundungen zurückblicken, wenn – FALLS – unser Großer seinen eigenen Weg eingeschlagen hat, und seine Zuneigung lieber einer jungen Frau oder einem jungen Mann signalisiert.
Ich bin so froh darüber, dass er Liebe, Nähe und Zuneigung ausdrücken kann. Und ich bin erleichtert, dass ich wahrnehme, dass es für ihn etwas Besonderes ist, und dass ich manchmal die Situation irgendwie „verpasse“. Dadurch hab ich sie ja dann doch nicht so ganz verpasst. Ich speicher sie ganz tief in meinem Herzen und hole sie raus, wenn er in seinem abgedunkelten Zimmer liegt, und ich nicht mal mehr den Bettrahmen berühren darf. Ich kann von Glück sagen, dass ich dieses Kind bekommen habe, das mich so oft in eine ganz andere Welt mitnimmt. Der Aufwand ist sehr hoch. Aber es lohnt sich.