Mein Sohn beschreibt das Leben vor seiner Diagnose Asperger
„Leidest du darunter, ein Asperger zu sein?“ wurde mein Großer einmal gefragt. „Nein, seit der Diagnose nicht mehr.“ antwortete er.
(S. Auch Beitrag „Diagnose – ja oder nein auf Different Planet vom 18.04.20.)
Mich hat seine Antwort damals schon sehr glücklich gemacht. Und das macht sie mich bis heute!
In dieser Antwort entdecke ich gleich mehrere Aussagen: zum Einen, dass es in unserem Fall total richtig war, zu einer Diagnose zu kommen und sie auch mit unserem Sohn zu teilen.
Ich höre zum Anderen heraus, dass er kein prinzipielles Problem damit hat, ein Asperger-Autist zu sein.
Das kann natürlich auch daran liegen, dass er spürt, dass für uns, Mama und Papa, Autismus kein Problem darstellt. Fast im Gegenteil, möchte ich sagen, denn nach all den Jahren, in denen besonders ich mir überlegt habe, was ich falsch mache, und in denen wir und das Umfeld unserem Großen auf unterschiedliche Weise signalisiert haben, was ER alles falsch macht, war die Erklärung, dass er eine andere neuronale Grundstruktur hat und das Leben schlichtweg anders erfasst, verarbeitet und bewertet als wir „Neurotypen“, richtig entlastend und befreiend.
Aber seine Antwort beinhaltet doch auch, dass er sehr wohl mal gelitten hat!
„Meine Depressionsphase“ nennt er die zwei Jahre, die „davor“, also vor der Diagnose lagen.
Während einer Gesprächsrunde, die wir neulich mit ca. 20 Personen führten, wurde ich gefragt, wie wir unseren Alltag erlebt haben, bevor wir „das Kind beim Namen nennen konnten“, und was da in unserem Zusammenleben alles richtig oder falsch gelaufen sein könnte.
In meiner Erinnerung habe zumindest ICH „davor“ alles falsch gemacht, und wir haben in der Zeit unmittelbar vor der letzten Testphase zu Hause nur noch gestritten.
Nichts lief, wie es sollte. Er war träge und lustlos, immer schlecht gelaunt, konnte weder seine Schnürsenkel binden, noch sich morgens alleine richtig anziehen, seine Sachen waren irgendwie immer weg, und auch die einfachsten, alltäglichsten Dinge wurden zu einem Problem. Und an Sozialkontakte war überhaupt nicht zu denken. Außer, wenn wir ihn „überredet“, ihn also gegen seinen Willen irgendwie unter Menschen geschickt haben.
Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, was wir richtig gemacht haben sollten…außer, dass wir ihn natürlich jeden Tag von Herzen liebten. Damals, wie heute. Vielleicht, hoffentlich, hat er das immer gefühlt.
Nun, was bringt alles Rätselraten. Ich befrage meinen Sohn, wie er das alles in Erinnerung hat. Und bin sehr froh, dass er sich darauf einlässt, denn es sind ja keine schönen Erinnerungen, in denen wir jetzt bohren wollen:
„Wie hast du diese Zeit in Erinnerung?“, frage ich ihn.
„In der 3. Klasse war es noch ok. Ich war allerdings immer ziemlich enttäuscht, dass auf dem Zeugnis nicht alle Kreuze vorne waren (Anm.: es gab noch keine Noten, sondern ein Punktesystem. Je weiter „vorne“ das Kreuz war, desto besser war die Bewertung). Zu Hause war eigentlich alles noch ok. Die vierte Klasse wurde richtig schlimm. In der Schule lief es gar nicht mehr. Kein Fach hat Spaß gemacht, ich bin nicht mitgekommen und hatte schlechte Noten. Freunde in der Klasse hatte ich auch nicht“.
Wie sind denn deine Erinnerungen an unser zu Hause?, möchte ich weiter von ihm wissen?
„Nicht gut. Wir haben uns eigentlich jeden Tag gestritten. Ich war scheiße drauf. Wenn mir was nicht zu 100% gepasst hat, hab ich einen Wutausbruch bekommen. Die meiste Zeit war ich wütend. Auf das Leben. Ich hab mich sehr alleine gelassen gefühlt. Ich wusste, es gibt einen Ausweg geben, aber ich wusste nicht, wo und wie der sein kann. Ich war sehr traurig.“
Wie hast du denn Papa und mich in Erinnerung?
„Doof. Ich dachte immer: Wenn Mama und Papa exakt machen würden, was ich wollte, würde es besser laufen. Wenn das ganze Leben komplett auf mich und meine Bedürfnisse ausgerichtet gewesen wäre, dann wär es gegangen, vielleicht sogar ohne Diagnose. Damals hab ich nicht verstanden, wieso ihr das nicht einfach macht. Heute verstehe ich das. Ihr konntet nicht. Ihr wart berufstätig und mein Bruder war ja auch noch da. Jetzt ist es ein Glück, dass wir die Diagnose haben, und es so gut für mich läuft.“
Hattest du das Gefühl, einen Platz in dieser Welt und bei uns zu Hause zu haben?
„Nein. Ich hab mich total fehl am Platz gefühlt. Irgendwie wusste ich, dass ich schon einen Platz bekommen könnte. Ich wusste nur nicht, wie. Aber ich hab nie gezweifelt, dass ihr mich wirklich liebt.
Ich hab mich immer sehr gegängelt gefühlt, weil Du, Mama, versucht hast, mich zu Verabredungen, Geburtstagsfeiern oder sogar zu Klassenfahrten zu überreden. Ich hab die ganze Zeit versucht, mich zu erklären, aber du hast es nicht kapiert.
Das Schlimmste war die Schule. Nichts hat mir geholfen. Das iPad war mein einziger Rückzugsort. Nicht mal das hat mir wirklich Spaß gemacht, nix hat Spaß gemacht, aber es war wenigstens etwas. Dann habt ihr mir ja auch das begrenzt…“
Und dann?
Auf noch mehr Tests hatte ich wirklich so gar keine Lust. Aber du hast mir versprochen, dass all unsere Probleme gelöst werden, und dass ich ein richtig guter Schüler werden kann. Daran hab ich fest geglaubt und dann doch mitgemacht.
Papa war damals so unverständig, er war fast einer meiner Feinde. Heute ist mein Papa mein über alles geliebter Papa, und nicht nur das. Heute ist er auch mein bester Freund.
Du Mama, hattest ja teilweise Verständnis. Du bist meine Mama. Und heute mein wichtigster Rückzugsort.
Ich sehe mittlerweile keine Ähnlichkeit mehr mit dem trägen, pummeligen, wütenden, schlechten Schüler von damals, der nur sein Zimmer und sein iPad als Rückzug hatte. Heute treibe ich Sport, interessiere mich für Gesellschaft und Politik und vieles mehr, ich bin gut in der Schule und glaube daran, ein sehr gutes Abitur machen zu können.
Mein jetziges Ich will den Jungen von damals irgendwie gesund machen können. Er bleibt ja in meiner Seele, und ich versuche, ihn zu heilen. Er soll ein Teil des selbstbewussten Jungen von heute werden. Es wird passieren, ich werde ihn heilen. Das war ein anderer Mensch in meinem Körper. Der muss ein gesunder Teil von mir werden. Natürlich bin ich noch der gleiche, und doch ein anderer. Dieser Junge von damals. er muss geheilt werden, damit er der wirkliche L. wird. Wenn der ursprüngliche Junge, also der bis zur 4. Klasse, auch geheilt und damit richtig stark wird, dann werden die beiden zu einem starken Menschen zusammenwachsen.
Der Abgrund von damals ist jetzt grad erst außer Sichtweite. Der Weg ist noch lang. Niemand kann oder soll mir dabei helfen. Mein jetziges Ich zieht dieses andere Kind hoch. Ich bin jetzt schon sehr glücklich, aber erst wenn das geschafft ist, werde ich wirklich richtig mit dieser Erfahrung leben können.“
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Ich bin schon wieder völlig sprachlos.
All diese Gedanken sind in meinem Kind?
Und dass er das alles mit mir teilt, auch das verschlägt mir die Sprache. Different Planet begann als Therapie für mich. Momentan, wo ich meinen Sohn zunehmend in die Beiträge einbeziehe, und er das auch sehr gerne mitmacht, führt das zu einem ganz neuen Kennenlernen.
Ich bin verblüfft, gerührt und begeistert.
Wir haben eine Art „Turnaround“ geschafft. Ja, aus großem Leidensdruck heraus, ja mit viel Hilfe von allen Seiten. Wir haben eine tolle Ärztin gefunden, eine begleitende Therapeutin, einen Familiencoach, die beste Schulhelferin und den besten Teilhabehelfer auf Erden.
Aber ohne dieses unglaublich starke Wesen, das behauptet, mein Kind zu sein, wäre es nie so gut geworden. Das Wort „Dankbarkeit“ wird in letzter Zeit ja sehr inflationär benutzt, es scheint gewissermaßen en vogue zu sein, dankbar zu sein.
Aber ich sag Euch was: ich BIN dankbar. Und damit gerne en vogue!
Liebe K.,
Ein großartiger Beitrag in jeder Hinsicht. Herzliche Grüße – auch an unseren Asperger. Dein Papa.
Sehr berührend und mit viel Hoffnung auf die Zukunft. Ihr macht das richtig gut.
Liebe K., mich haben eure Ausführungen zu Tränen gerührt. Es tut so gut, wenn man merkt, dass man damit nicht alleine ist, egal, was auch immer am Ende als Diagnose feststeht. Mir helfen mein Sport Zuhause und unsere Pferde…Danke für diesen tollen Beitrag. Lg M.