Ein Gespräch mit meinem Sohn
„Ich möchte ein sehr gutes Abitur machen, das beste unserer Familie. Ich möchte das höchstmögliche Bildungsniveau erreichen.“
Höre ich da grade MEIN Kind sprechen?? Ich sitze abends mit ihm auf dem Sofa, und wir sprechen über die Schule. Eigentlich will ich wissen, was ihn bewegt, jetzt, zwei Wochen nach dem Wechsel aufs Gymnasium – ob er sich da wohl fühlt, und ob er als erster und einziger (diagnostizierter) Asperger-Autist dort seinen Platz gefunden hat.
Aber mit „wohlfühlen“ und „Platz gefunden“ kann man meinem fast 12-jährigen nicht kommen. Er steigt gleich in die hard facts ein.
„Ich habe kein Problem, dort der einzige Asperger zu sein. Wie die Schule es sieht, weiß ich nicht, ich bin ja nicht in diesem „System Schule“, aber die Lehrer, mit denen ich bisher gearbeitet habe, scheint es kein Problem zu sein.“
Na, gut zu wissen. Hoffentlich ist es wirklich so.
Anfang des Jahres hatten wir ein sehr gutes Aufnahmegespräch mit dem Schulleiter. Unser Großer war dabei, und auch mein Mann. Uns wurde direkt gesagt, dass sie keine Erfahrung mit autistischen Schülern oder mit Schulbegleitern haben. Aber sie sind offen für die Erfahrung und freuen sich auf unseren Sohn als Schüler.
Unser Großer war damals (wie heute) total begeistert, vom Schulprofil und auch vom Schulleiter. Mein Mann und ich fanden auch alles gut, und eine Alternative gab es eh nicht. Also: zusagen, ausprobieren.
Ich will jetzt nochmal wissen, warum für ihn, meinen Großen, ausschließlich ein Gymnasium in Frage kam. Auf einer Integrierten Sekundarschule hätte man den Weg zum Abitur vielleicht etwas entspannter und mit einem Jahr mehr Zeit angehen können.
„Ich möchte immer das Beste erreichen, Mama. Wenn du dafür gearbeitet hast, das Beste zu bekommen, und das dann in dem Wissen annimmst, dass du es schaffen kannst, dich weiterzuentwickeln, dann klappt das auch! Auf einem Gymnasium ist das Bildungsniveau einfach höher!“
Wow– Er hat sich jedenfalls mehr Gedanken gemacht als ich…
Aber ehrlich gesagt bin ich grade ein bisschen irritiert. Über die Vehemenz in seiner Stimme, den festen Gesichtsausdruck, und auch über das, WAS er sagt.
Er ist jetzt nicht mehr zu stoppen:
„Bildung ist der Grundstein für alles, was du erreichen wirst. Hohe Bildung hilft dir beim Erreichen deiner Ziele.“ spricht er weiter. Der Ausdruck in seinem Gesicht sagt mir, dass er das ernst meint.
Es ist ja nicht so, dass es in unserer Familie keinen Ehrgeiz gibt. Aber diese Gespräche finden so nicht statt, das ist nicht typisch für unsere Familie, er wiederholt nicht, was wir am Abendbrottisch so von uns geben.
Es ist aber wohl ziemlich typisch für Asperger-Autisten, so perfektionistisch zu sein. Das habe ich vom Teilhabehelfer unseres Großen gelernt. Perfektionismus, sehr hoher Anspruch an sich selbst und das „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ sind offenbar fast schon charakteristisch.
Da meldet sich mein Mama-Herz. Wie kann er lernen, mit diesem Anspruch umzugehen? Das ist ja ein Wahnsinns-Stress, und er muss doch Strategien erlernen, wie er sich mit sich versöhnt, wenn er seinen Anspruch unterbietet. Ich versuch‘s mal: „vielleicht kannst du in einem Fach dann nur 80% geben, wenn du im nächsten 120% geben willst? Oder vielleicht kannst du auch in deinen Lieblingsfächern einfach nur mal 100% geben, und nicht immer 120%? „Mh-hm“, kommt es zögerlich zurück, kombiniert mit einem Nicken. Aber es ist eines dieser „das verstehst du nicht, lass uns das Thema wechseln“ – Mh-hm-Nicken.
„Ich möchte, dass die gute Beziehung zu meiner Familie so bleibt, ich möchte ein gutes Abitur machen, so dass es mir immer gut geht, finanziell und körperlich, und ich möchte Bundeskanzler werden.“
Na, think big, möchte ich sagen!
„Hast du dich auch mal dafür interessiert, Politikerin zu werden, Mama?“
Nee, echt nicht. Ich weiß bis heute nicht, was ich mal werden will, aber was ich sicher nie werden wollte, ist irgendwas im medizinischen Bereich – als eingefleischte Hypochonder*In wäre ich auf dem Weg der Ausbildung vermutlich verstorben –oder Politikerin -viel zu anstrengend. Permanent ist man schuld an allem und wenn man mal Urlaub machen will, kommt ganz sicher eine Überschwemmung, ein Handelsstreit oder eine Pandemie dazwischen. Dann doch lieber eine berühmte Pop-Sängerin wie Bonnie Bianco oder Alison Moyet. (Oh Gott, bin ich alt)
Seine drei Ziele kamen jedenfalls wie aus der Pistole geschossen. Hatte ich mit fast 12 Jahren drei Ziele, die ich formulieren konnte? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Natürlich hatte ich Wünsche – ein eigenes Pferd und sowas -, aber echte Lebensziele? Schwer zu sagen.
„Die Allgemeinbildung, die ich auf dem Gymnasium bekommen werde, wird mir helfen, meine Ziele zu erreichen.“ spricht mein Kind. Ja, vermutlich. Ich meine: hoffentlich! Also, kommt halt auf die Ziele an. Aber als Bundeskanzler kann Allgemeinbildung ja erstmal nicht schaden.
Jedenfalls frage ich erst mich und dann ihn, wie seine perfekte Wünsch-Dir-was-Schule aussehen würde.
„Sie würde auf meinen Schlafrythmus Rücksicht nehmen, also erst so gegen 10.30h beginnen. Hier zu Hause. Nur ich und ein Lehrer. Und keine Fächerwechsel! Einen Tag Mathe, am nächsten Englisch, dann Bio und so weiter. Diese Wechsel brauche ich nicht. Und schon gar nicht brauche ich eine Geräuschkulisse, Raumwechsel oder unterschiedliche Lichter in den Räumen! Und Pausen auch nicht.“
Unser Wohnzimmer eine Schule?? Auf keinen Fall! Aber das ist ein Detail. Ich verstehe, was er meint. Das Modell klingt sehr nach ihm (wer braucht schon Sozialkontakte), aber HomeSchooling ist in Deutschland leider verboten. Noch. Aber er ist ja auch noch nicht Bundeskanzler!
Wenn das das Beste für dich wäre, was wäre dann das Schlimmste, frage ich ihn. „Na, das liegt ja wohl auf der Hand. Ohne I. (seine Schulhelferin) ginge das alles nicht. Dann könnte ich nicht in die Schule gehen. Wenn sie nicht mehr mitkommen könnte oder dürfte, wäre alles dahin.“
Seine Schulhelferin, die ihn schon sehr lange begleitet, und damit auch unsere gesamte Familie, ist eine nicht wegzudenkende Stütze. Sie macht unseren Sohn gewissermaßen schulfähig. Alles das, was „das Asperger“ ihm versagt, gleicht sie aus. Wie die Brille für Sehbehinderte oder der Rollstuhl für Gehbehinderte. Nur menschlicher. Sie strukturiert Arbeitsmaterialien so, dass er sie erfassen kann, hilft bei Raumwechseln, geht bei Reizüberflutung rechtzeitig mit ihm raus, moderiert Gruppenarbeit mit Mitschülern, erdenkt (Ordnungs-)Systeme, die ein Asperger-Autist bewältigen und ein neurotypischer Lehrer akzeptieren kann – und schreibt für ihn die meiste Zeit. Asperger haben meistens eine eingeschränkte Feinmotorik. Diese Einschränkung ist bei unserem Sohn besonders stark ausgeprägt, und nach sechs Jahren Grundschule, vielen Jahren Ergo- und Lerntherapie haben wir eingesehen: besser wird es nicht. Er wird motorisch nie so schreiben können, dass es jemand lesen kann, und dass er nicht die gesamte Klasse damit aufhält.
Sie, I., braucht er also, und wir brauchen sie auch.
(Dem Thema „Schulhilfe“ und wie man sie bekommt werde ich noch einen eigenen Beitrag widmen)
Wen oder was brauchst du noch, frage ich ihn. „Meinen Teilhabehelfer! Er ist wahrscheinlich einer der schlauesten und gebildetsten Menschen, die ich kenne. Er kennt sich außerdem hervorragend mit Aspergern aus, man kann sich toll mit ihm unterhalten und er kennt sich mit meinem Kopf aus.“
Ja, Herr M. ist die zweite Stütze unserer Familie. Den Inhalt seiner großartigen Arbeit und wie wir zu ihm gekommen sind, habe ich in meinem Artikel vom 25.4.20 „Ich will Kontakt zu anderen Kindern“ auf Different Planet vorgestellt. Er hilft unserem Sohn, sich auf unserem Planeten zurechtzufinden. Und er hilft mir, die Regeln des Planeten auf dem mein Kind lebt zu verstehen. Seitdem Herr M. uns regelmäßig besucht, können auch wir uns gegenseitig leichter besuchen.
Und wir – Papa und ich? „Ihr helft mir mit der ganzen organisatorischen Sache sehr. Haltet euch inhaltlich aber bitte lieber raus.“ Klare Ansage! Sekretariatsdienste und Brote schmieren sind erwünscht, aus dem Rest bitte raushalten. Ein Stück Normalität, würde ich sagen.
Was würdest du anderen Kindern raten, die das alles noch vor sich haben? Deinem Bruder zum Beispiel: „Nimm schnell eine Vormachtsstellung beim Thema schulische Leistung ein. Streng dich an und versuche immer, es richtig gut zu machen. Auf diesen Erfolg kannst du immer aufbauen.“ Puh. Hier kommt ja Zug rein. Mal gucken, wie es dann so ist, mit ihm als Bundeskanzler.
Wie so oft begleitet mich das Gespräch mit meinem Großen noch viele Tage. Immer, wenn ich denke, ich kenne ihn, überrascht er mich. Ich glaube, dass ich mittlerweile eine gute Intuition dafür entwickelt habe, was er von Mama braucht, und was davon ich ihm geben kann. Aber von „seinem Kopf“ hab ich immer noch so wenig Ahnung... ich bleibe dran!
Liebe K., wieder einmal -wie so oft- alles aus einem anderen Blickwinkel. Kein Wunder, dass wir das alles so nicht mitbekommen, wenn selbst Du Überraschungen erlebst. Bin schon gespannt, was wir künftig noch alles so erfahren werden. Dein Papa.