Als ich nach der 6. Klasse aufs Gymnasium wechselte, hatte ich viele Sorgen. Ich war grade 12 geworden, und das Leben änderte sich radikal. In der Grundschule war der Klassenlehrer eine echte Bezugsperson, die meisten Fächer fanden im Klassenraum statt, nur zu Musik und Sport musste man mal wechseln. Die Schule war klein, die Räume auch, ebenso die Stühle und Tische. Irgendwie war alles klein. Und von einem Tag auf den anderen wurde alles groß. Die anderen Kinder, die Räume, das Mobilar – alles. Man wechselte permanent den Raum, und an Klassenlehrer hab ich gar keine Erinnerung mehr.
Meine Sorgen wogen umso schwerer: Das Mädchen aus der b-Klasse hatte grundsätzlich coolere Schuhe als ich, und irgendwie konnte ich mit meiner Madonna Platte auch nicht so recht landen. Man brauchte offenbar eine MC von Cindy Lauper um echt cool zu sein. (Ich wurde später Dauergast bei WOM) Meine Frisur war „voll Baby“, und als ob das nicht schon genug Probleme gewesen wären, ging der tolle Junge mit dem Pierre-Cosso-Schlafzimmerblick lieber mit meiner Blonde-Langhaar-Tischnachbarin nach der Schule ein Eis essen als mit mir.
Der Rest bereitete mir keine Sorgen: Räume wechseln, Stundenpläne einhalten, Unterlagen dabei haben. Das wird wohl daran gelegen haben, dass ich einfach wahnsinnig wenig Interesse ich für diesen Teil des Schulgeschehens übrig hatte. Der wichtige Teil, der soziale, war das, wofür ich morgens aufstand, und dem meine Energie und Aufmerksamkeit galt.
Manche würden jetzt sagen: „Schöne Sorgen!“ Denn angeblich gibt es ja verschiedene Schweregrade von Sorgen. Ich kenne sprichwörtlich „große“, „kleine“ und „schöne“. Ich finde die Bewertung ehrlich gesagt mühsam und müßig. Und so richtig anstrengend finde ich, wenn andere die eigenen Sorgen bewerten. „Na, du hast schöne Sorgen! Du hast einen Schulhelfer für dein Kind. Ich muss alles selber mit meinem zu Hause machen.“ Ich könnte antworten: „Na, du hast schöne Sorgen! Dein Kind ist nicht autistisch, und es ist somit in der Lage, mit deiner Unterstützung die Anforderungen der Schule zu meistern.“ Könnte ich. Mach ich aber nicht. Mein Gegenüber hat offenbar Sorgen. Was hilft es ihm oder ihr, wenn ich auch Sorgen habe? Nüscht.
Sorgen sind wohl eine subjektive Empfindung, die sich einordnen in das eigene Lebensgefüge, wie man leben kann und wirklich lebt, und wie wichtig einem der eine oder andere Teil des Lebens ist. In manche Sorgen seiner Mitmenschen kann oder will man sich eindenken, in andere weniger.
Am kommenden Montag, also in ca 48 Stunden, beginnt bei uns wieder die Schule. Mein Großer wechselt von einer Grundschule mit 100 Kindern, 14 davon in seiner Klasse, auf ein Gymnasium mit 800 Kindern. 20 davon sind seine Mitschüler. Für ALLE Wechsler wird das ein Sprung! Der Klassenlehrer verliert vermutlich auch heute noch als Bezugsperson an Bedeutung, und man wechselt permanent von einem Fachraum zum nächsten. Die Schüler haben unterschiedliche Fremdsprachen belegt, nach dem Matheunterricht sucht also der Paul den Spanisch-Raum, während die Lisa den Französisch-Raum finden muss. Vor allem aber werden sich diese halbstarken Zwölfjährigen mehr einander zuwenden: welche Händimarke hat mein Sitznachbar? Welche Jacke ist hier angesagt, und welche Frisur? Welche Musik mag das coole Mädchen aus der zweiten Reihe? Und dass ich selbst zu Hause noch ein paar Kuscheltiere im Bett habe, behalte ich mal lieber für mich.
Das werden wohl so die Gedanken sein. Da kann ich mich immer noch ganz gut eindenken.
Doch was werden die Sorgen meines Großen sein, wenn er übermorgen ein neues Leben beginnt? Was wird Leid und Freud (m)eines Aspergers werden?
Für die Händimarke der anderen wird er sich nicht interessieren. Er interessiert sich nicht für Händis, weil er sich nicht für Kommunikation im Allgemeinen interessiert. Er interessiert sich weder für seine Jacke, noch für irgendeine andere, und auch beim Musikgeschmack ist er sehr…ähhh… „individuell“. Zumindest findet er Musik nicht gut, weil sie angesagt ist. (Außer die Neue Deutsche Welle hätte grade eine Renaissance und ich habs nicht mitbekommen?) Er hat seine Welt, in der gibt es zwei bis drei Spezialinteressen und die werden verfolgt.
Was also wird ihn bewegen? So wie ich ihn kenne, wird er zunächst unter der Hitze leiden. Dann wird er mit den Gerüchen und dem Lichteinfall kämpfen. Er wird froh sein, wenn sie als Gruppe im neuen Klassenzimmer angekommen sind. Es wird aufgrund der Aufregung der Kinder so laut sein, dass er bis zuletzt stehen wird, und darauf warten wird, dass der Klassenlehrer ihm seinen Platz noch einmal zeigt. Er wird die Geräuschkulisse nicht richtig filtern können und einfach warten, bis er eine klare Beschreibung der Handlung bekommt, die von ihm erwartet wird. Zum Beispiel: setzt dich jetzt auf diesen Stuhl und stell deine Schultasche neben dir ab. Dann beginnen wir mit der ersten Unterrichtseinheit. Am besten mit dem Zusatz “sie wird 90 Minuten dauern und danach ist erstmal eine Pause, in der Ihr Essen und Trinken könnt.“ Klare Ansage.
Er wird sich vielleicht nach seinen Noise-Cancelling-Kopfhörern sehnen, über die er zu Hause zur Zeit immer seine Hörspiele hört („immer“ heißt IMMER, außer ich verbiete es ihm. Wenn er in seinem Zimmer liegt, wenn er sich ein Brot macht, wenn er auf die Toilette geht, wenn er im Hof Fußball spielt, wenn er sich die Zähne putzt, IMMER)
Er wird einfach versuchen, in der Unübersichtlichkeit des Neuen nicht den Halt zu verlieren. Glaube ich. Und dann wird die Zeit zeigen, ob er mit all dem, was für uns „Normalos“ so normal ist, klarkommen kann: Räume finden, Unterlagen nicht auf seine Weise bereit haben, sondern auf „normale“, Zeitstrukturen erkennen, notwendige Handlungen planen und umsetzen, usw. Seine Schulhelferin wird im wahrsten Sinne des Wortes zauberhaft sein müssen.
Sicherer bin ich mir, was meine Sorgen angeht. Meine Hauptsorge gilt dem Umstand, dass ich mich nicht in seine Sorgen eindenken kann. Man sollte ja glauben, dass ich so langsam „Bescheid weiss“. Es stellt sich aber täglich wieder heraus, dass ich nicht den blassesten Schimmer habe, was in einem Asperger-Gehirn vorgeht. Ich bin immer schon froh, wenn mein Großer das merkt, mir dann das Geschehene erklärt, und ich es irgendwie einordnen kann. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich das auf eine nächste Situation anwenden könnte… wie mag es ihm nur gehen??
Meine zweite Hauptsorge ist, dass er nicht klarkommt. Dass er scheitert. Er wünscht sich so sehr, auf einem „normalen“ Gynasium Abitur zu machen. Ich wünsche mir so sehr für ihn, dass es klappt. Jetzt endlich haben wir die Verlängerung der Schulhilfe bewilligt bekommen – unglaubliche 30 Wochenstunden! Auch wenn es erstmal nur bis zu den Herbstferien ist und dann neu bewertet wird – wird das ausreichen? Bei 36 Wochenstunden Unterricht plus Hausaufgaben? Wird der neue Klassenlehrer Kapazität haben, sich auf diesen anderen Schüler einzustellen? Wird die Zusammenarbeit Lehrer-Schüler-Schulhelfer-Eltern klappen? Wird er – wie so viele – aufgrund seiner „sozialen Naivität“ das beliebteste Mobbingopfer der ganzen Unterstufe werden? Wir er seine Tics etwas kontrollieren können, wird er glücklich sein? Einigermaßen wenigstens? Kann er wenigstens einen Freund finden, wenn er sich das wünscht?
Ich glaube nicht, dass „normale“ Sorgen „schöner“ wären. Aber ich könnte mich jetzt doch besser in ein Mädchen eindenken, das sich für nichts mehr interessiert als für eine App zum Chatten, ob eine Musik-App, von deren Existenz ich grade aus der Zeitung erfahre, wirklich verboten wird, und ob die richtige Marke ihre Kleidung ziert.
Um meine wirren Gedanken zu einem runden Ende zu führen: wahrscheinlich sollte ich MEINE Sorgen über Bord werfen, damit ich Kapazität für die Sorgen meines Großen hätte, für den Fall, dass er sie mit mir teilen möchte. Ich habe ein anderes Kind. Also habe ich auch andere Sorgen. Und wir sind weder die ersten auf der Welt, die das haben, noch die Einzigen.
Es wird gut werden. Irgendwie.
Liebe K,
Jetzt wird es wirklich spannend. Dir, euch und eurem großen wünsche ich einen guten Start In die gymnasiale Epoche.