Ich werde natürlich häufiger auf meinen Blog und vor allem auf dessen Inhalte angesprochen. In der Regel sind es Kommentare wie: „deine Beiträge berühren mich immer sehr“, „Du zeigst soviel Mut, weil du mit diesem Thema in die Öffentlichkeit gehst“, „toll, dass es so einen Blog gibt, ich fühle sich richtig verstanden“. Das tut mir gut und motiviert mich, weiter zu machen.
Vor ein paar Tagen hat mich eine mir sehr nahe und sehr wohlmeinende Stimme stark beschäftigt. Sie meinte, dass die Verbreitung der Besonderheiten meines Sohnes und die Möglichkeit der Zurückverfolgung auf seine Identität auch negative Folgen für ihn haben könnten.
Dieser Gedanke ist mir weder neu noch fremd, und er ist in jedem Falle regelmäßig zu überprüfen!
Zunächst überlege ich, wie eine uns fremde Person auf seine Identität kommen könnte. Auf der Blogseite und ebenso auf der Facebook- und Instagramseite tauchen keine Namen auf, und ich habe auch keine Impressumspflicht. Hier gibt es kein „Loch“, das ich sehen würde. Aber: ich teile bisher mit meiner persönlichen Facebookseite die Beiträge von Different Planet, und so kann jeder, der meine Familie kennt, Eins und Eins zusammenzählen und weiss, um wen es geht. Und erhält nicht nur tiefe Einblicke in mein Seelenheil, sondern weiß dann auch um die Besonderheiten meiner Kinder. Hier ist die „Lücke“, vor allem, weil ich weltweit die Einzige bin, die die Beiträge von Different Planet teilt. Das werde ich zukünftig unterlassen. Vielleicht macht das irgendwann mal eine/r meiner LeserInnen.
Niemand kann die Folgen der Aktivität in sozialen Netzwerken tatsächlich voraussehen. Bisher war ich der Meinung, in meinem Fall wird unterm Strich ein großes Plus stehen. Doch wird es das wirklich? Hab ich das Recht darauf, mich zu erleichtern und damit zu riskieren, dass ein nicht wohlgesonnener Zeitgenosse meinem Großen aus den Inhalten meines Blogs einen Strick dreht? Geben meine Beiträge inhaltlich her, dass sie zu einem Problem für ihn werden können? Ich hatte bisher nicht den Eindruck, aber wissen kann ich es nicht.
Das Thema Asperger-Autismus und wie man damit lebt, ist noch lange nicht zu Ende besprochen. Und wenn man dann daran denkt, dass wir in einer aufgeklärten Großstadt in Deutschland leben – wie muss es erst woanders sein??
Mein Großer hat jetzt an ein „normales“ Gymnasium gewechselt. Eine wunderbare Privatschule, die wir uns gemeinsam angesehen haben, mein Sohn war naturgemäß beim Aufnahmegespräch dabei, und wir haben den Schulleiter gemeisam über die Besonderheiten eines autistischen Schülers aufgeklärt. Erfahrung, so sagt er, hat er damit nicht. Aber Interesse gezeigt, sich darauf einzulassen. Und das tut bisher auch alle! Mein Großer wollte dann unbedingt auf diese Schule, und nun geht die Arbeit richtig los. Dort hat auch niemand anders je so richtig von Asperger gehört (Rainman? Greta? So halt), und bisher ist den Lehrern offenbar auch das Phänomen „Schulhelfer“ unbekannt: ein Erwachsener, der mit im Unterricht sitzt! Dass das auf einige Lehrer fast bedrohlich wirkt, kann ich sehr gut verstehen! Und es ist auch überhaupt kein Versäumnis, das Thema nicht zu kennen. Aus allen Richtungen kommt Wohlwollen auf uns zu, und vom Sekretariat bis zur Schulpsychologin sind alle unglaublich bemüht, auf uns einzugehen. Das ist richtig toll!
Demnächst bin ich zur Lehrerkonferenz eingeladen. Meine Aufgabe: ich berichte, kläre auf, versuche, das Thema begreifbar zu machen. Beide Seiten wollen! Und dennoch: es bleibt ein riesiges Experiment. Keiner weiß, ob das Aussicht auf Erfolg hat. Doch ich kämpfe. Warum? Weil mein Sohn mir gegenüber formuliert hat, mehrfach und vehement, dass er Abitur machen möchte. Er wünscht sich ein von uns unabhängiges Leben mit einem Abitur und möglicher Weise dem Besuch einer Hochschule. Sagt er.
Also suche ich Schulhelfer, arbeite mich durch die Bürokratie (Jugendamt, Schulamt, Autismusbeauftragte, Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst, Gutachten, Stellungnahmen, …), beauftrage einen Anwalt zur Unterstützung, baue mit dem zukünftigen Klassenlehrer bereits in den Ferien eine „Brieffreundschaft“ auf, damit ich eine Einschätzung erhalte, wie er „so drauf“ ist: wieviel kann man ihm zumuten? Wieviel Lust und Kapazität hat er für einen besonderen Schüler, der jeden Tag dreiundzwanzig Extrawürste braucht? Ah, einen Doppelplatz ganz vorne für ihn und die Schulhelferin. Ach so, in jedem Fach und jedem Fachraum. Ja. Wie- er kann nicht schreiben? Das soll die Schulhelferin machen? Das geht nicht!! wieso kann er seine Unterlagen nicht selbst sortieren?? Er braucht ein separates Ordnungssystem, das nach Farben codiert ist??? Die Arbeitsmaterialien müssen umstrukturiert werden, damit er sie erfassen kann??? Er braucht regelmäßig einen Ruheraum???? Ruhetage????? Er kann vielleicht am Musikunterricht gar nicht teilnehmen, weil das zu laut ist?????? Zu Gruppenarbeit ist er gar nicht in der Lage???? Jetzt reicht es aber langsam! Will der hier zur Schule gehen, oder nicht?
Ja – er hat recht! Das ist eine Zumutung! Und meine tägliche Arbeit ist es, dafür Raum zu schaffen. Aufzuklären. Zu vermitteln, dass er will aber nicht kann. Lösungen zu finden, die passen. Beide Seiten zurechtzufeilen, damit sie zu einem Teil zusammengelegt werden können (s. Beitrag „Unsichtbar“) Wenn die Schule nicht damit klarkommt, wird mein Großer dort scheitern. Ich muss der Schule helfen, um meinem Sohn zu helfen. (Und vielleicht auch nachfolgenden anderen Kindern?!) Und ich kann schon heute sagen: was den Klassenlehrer und alle an der Schule angeht, die ich bisher kennengelernt habe, steht die Tür sperrangelweit auf! Wir müssen erstmal nur durchgehen. Und uns dann auf der anderen Seite gut einrichten.
Das alles passiert auf diese, meine oben beschriebene Weise, weil ich so bin wie ich bin. Andere Eltern machen es anders. Das ist genauso gut! Aber ich kann es nur auf meine Weise tun. Und zu meiner Weise gehört, dass ich diesen ganzen „Load“ wieder loswerden muss. Meine Schlaf- und Essstörungen wurden im Früjahr langsam problematisch. Seit dem Start des Blogs im April geht es langsam wieder. Mit jedem veröffentlichten Thema kann ich Frieden schließen. Das gehört zu mir und meiner Weise. Für andere ist das anders. Ich kann jetzt öfter wieder länger schlafen als bis 04h (manchmal schon bis 06h!) und hey – Essen wird wieder schön und ist nicht nur Mittel zum Überleben.
Wo also ist die Grenze dazu, dass ich das alles schaffe, es aber nicht zum Nachteil meines Kindes wird, für dessen Vorteile ich mich den ganzen Tag einsetze? Der Blog ist in erster Linie meine Eigentherapie. Er ist egoistisch. Er tut viel Gutes. Mir. Auch anderen Eltern – zumeist Müttern- , die mir schreiben und dankbar sind, dass ihnen jemand eine Stimme gibt. Dass sie wissen, dass sie nicht alleine sind, und dass jemand sie versteht. Das ist schön. Und dient wieder mir selbst.
Ich bemühe mich um Verbreitung des Themas. Damit es leichter und mehr gesehen wird. Verständlicher und handhabbarer. Damit es mir hilft. Es kommt immer wieder darauf zurück, dass es sich um eigennützige Motive handelt. Mir ist das klar, und ich habe kein Problem damit. Ich gebe nicht vor, dass ich anderen helfen will. Ich will MIR helfen. Wenn das zusätzlich auch anderen hilft: schön. Freu ich mich. Freu ICH mich. Schon wieder ICH.
Die Ausgangsfrage bleibt: wo ist die Grenze? Wo muss es aufhören, damit es meinen Kindern nicht schadet?
Muss der Blog ein Tagebuch werden, das in meiner Schublade bleibt? Muss die Facebookseite eine geschlossene Gruppe werden? Ich werde weiter darüber nachdenken. Ich bin dankbar für solche Stimmen, denn zu „meiner Weise“ gehört auch, dass wenn ich mich mal für einen Weg entschieden habe, ich mir Scheuklappen aufsetze, Ohrstöpsel einsetze und losmarschiere. Ich will dann nicht mehr abgelenkt werden. Da muss man dann schon mit Megaphon und Leuchtrakete kommen, wenn man sich bemerkbar machen will. Leise Töne höre ich dann nicht mehr.
Eine Anmerkung noch zur Schulform, weil ich schonmal gefragt wurde, warum es denn nun ein Gymnasium sein muss. Reicht nicht auch eine Sekundarschule? Muss man das Kind so quälen und unter Leistungsdruck setzen? Es ist so: auf dem Weg zur Autismus-Diagnose steht auch ein IQ-Test. Die meisten Asperger-Autisten sind überdurchschnittlich intelligent oder hochbegabt. Mein Großer gehört zu diesen „meisten“. Vom Prinzip steht einem Abitur also nichts im Weg. Das „neurotypische System Schule“ ist die Herausforderung. Die Art der Vermittlung, die auf uns Normalos passt, aber nicht zu einem autistischen Gehirn. Und diese Art der Vermittlung des Schulstoffs ist an einer Sekundarschule nicht anders als auf einem Gymnasium. Hinzu kommt sein nicht untypischer Ehrgeiz. Und er will unbedingt Abitur machen, und er will es auf einem Gymnasium machen. Er liebt Leistung. Er ist interessiert und will lernen. Für die Probleme, vor denen wir stehen, ist nicht die Schulform entscheidend, sondern, ob wir es hinbekommen, dass er den Stoff so vermittelt bekommen kann, dass er ihn aufnehmen kann.
Nun bereite ich mich mal auf die Lehrerkonferenz vor. Ich packe sicherheitshalber ein Megaphon ein…