„Mama- ich hab heute das erste Mal woanders übernachtet“ Mein Großer fällt mir an der Tür um den Hals und sagt mir leise diese Worte ins Ohr. Und Schon rennt er mit seiner Freundin wieder an mir vorbei- ab in den Garten. Und ich? Gänsehaut. Bei 33 Grad.
Ein großer Tag für mein bald 12jähriges (Vor?)Pubertier. Ich freue mich für ihn. Ich spüre seine Erleichterung, die vermutlich meine Erleichterung ist. Ich hatte Angst, dass er die Nacht nicht schafft. Abgesehen davon, dass ich mitten in der Nacht über die halbe Insel hätte fahren müssen um ihn abzuholen, weiß ich, wie enttäuscht er von sich gewesen wäre.
Ich war völlig verdattert, als das Thema überhaupt aufkam. Eigentlich war nur ein kurzer Besuch bei unseren Freunden geplant, die an dem Tag auf der gleichen Ferieninsel ankamen, auf der wir bereits waren. Eine Übernachtung war in der Tat geplant. Aber für den Tag danach – und sie hätte bei UNS stattfinden sollen, was schon aufregend genug ist. (Kenne ich schon. Das Mädchen hat bereits einige Male bei uns übernachtet. Immer mit dem Erfolg, dass mein Großer vor Aufregung erst in den Morgenstunden bei uns im Bett einschlafen konnte)
Als er bei dem eigentlich kurzen Besuch also plötzlich sagte: „Kann ich heute hier übernachten?“ war ich glücklicher Weise erstmal sprachlos und suchte Rat in den Augen meiner Freundin, der Mutter des Mädchens. Sie sah mich fröhlich und aufmunternd an und sagte „Dann nimm du doch die beiden Kleinen mit, und ich mach hier was Schönes mit den Großen.“ Ne, is klar.
Ich muss irgendwas vor mich hingestammelt haben, was als Zustimmung interpretiert wurde, denn kurz drauf hörte ich gleich vier Kinder „Juhuu“ schreien. Der kleine Bruder des großen Mädchens ist nämlich auch noch der liebste Spielweltenfreund meines Kleinen (s. Beitrag „Der zweite Film“ vom 18.7.20)
Tja. Und jetzt? Lauter Gedanken blitzen durch mein Hirn. Und durch mein Herz. Wenn ich jetzt „Nein“ sage, könnte er nicht verlieren. Dann ist er zwar stinksauer auf mich, aber es würde ihm das Gefühl des Versagens ersparen. Das wäre doch besser als der harte Schlag in sein Selbstbewusstsein, wenn er die Nacht doch nicht schafft. Oder wäre das falsch?
Dann muss ich daran denken, dass mir immer wieder gesagt wird, dass ER sein bester Ratgeber ist. „Alles oder nichts“ hat mir sein Teilhabehelfer neulich gesagt, sei das Motto vieler Autisten. Also erlaube ich das jetzt?? Aber versteht er diese Situation? Was wird er hier tun, wenn er bis 02h wach liegt und alle anderen schlafen? Wenn er sich unsicher fühlt? Wenn seine Gedanken ihn nicht schlafen lassen, wenn er seine Höhle braucht und seine Rituale vermisst? Geht das Seelenheil nicht über alles?
Wer meinen Beitrag „Die Kindergartenreise“ gelesen hat, weiß, durch welche gedanklichen Qualen ich in diesen Minuten gegangen bin. Eine Auwärtsübernachtung. Der blanke Horror.
Meine mutige Freundin übernahm das Steuer. „Super, wir gucken dann nachher noch zusammen einen Film! Und eine Zahnbürste und irgendein Schlafshirt finden wir schon für Dich.“ Danke, meine liebe Freundin, das hast du gut gemacht. Du hast mich in diesem wichtigen Moment befreit aus der Lähmung und der Angst.
Nach einem kurzen (ehrlich!) und optimistischen Wortwechsel mit meinem Großen war ich entschlossen, ihm das zuzutrauen. Nicht die Nacht. Sondern die Entscheidung mit ihren Konsequenzen. (Man, mir wird jetzt noch heiß und kalt)
Was soll ich sagen. Es hat geklappt. Nach eigener Aussage hat er einige Stunden sehr tief und gut geschlafen. Er hatte einen tollen Abend und am nächsten Tag sind die Zwei noch mit dem Vater Klettern gegangen, bevor er wieder nach Hause kam.
Wie ist das denn nur passiert?
Die Zwei kennen sich, seitdem mein Großer auf der Welt ist. Bereits am 2. Lebenstag kamen sie uns im Krankenhaus besuchen. Das Mädchen war damals vier Monate alt und wirkte unglaublich riesig neben dem frisch geschlüpften kleinen Kerl. Ab da waren sie Spielfreunde. Nicht immer, aber sie haben ihre Phasen. Und heute, fast 12 Jahre später, nimmt sie ihn einfach, wie er ist. Sie spielt ausdauernd Fußball mit ihm, sie macht mit ihm Radtouren und ohne Judo zu können, kann sie irgendwie auch Judo. Sie ist hart im Nehmen, körperlich und mental, und das braucht es auch für so einen Freund. Und er hatte sich offenbar in dem Moment entschieden: alles oder nichts. Wo, wenn nicht bei ihr )
Mein Gott, wie albern stolz kann man (=ich!) eigentlich sein, nur weil ein (=mein!) Kind mit 11 Jahren und 10 Monaten das erste Mal woanders übernachtet hat? Ist doch eigentlich total normal. Aber autistische Kinder sind halt nicht total normal. Und als Eltern begegnet man ihnen logischer Weise auch nicht total normal. Da tut es so gut zu sehen, dass mein Junge zumindest einen funktionierenden Sozialkontakt zu einem gleichaltrigen Kind hat, eine echte Freundin, die ihn vielleicht sogar total normal findet. Weil sie ihn gar nicht anders kennt.
Am nächsten Abend waren alle vier Kinder bei uns. Das war dann zu viel für meinen Großen. Er war ständig laut und grob zu seinem Bruder, musste sich immer wieder allein zurückziehen und hat dann auch das Zimmer wechseln müssen, nachdem seine Freundin bei uns eingeschlafen war. Vier Kinder und zwei nicht „normale“ Nächte, da hatte uns offenbar irgendwie der Übermut gepackt. Aber wir haben es noch ganz gut hinbekommen. Er, eigentlich.
Ich würde sagen, dass ich an dieser Erfahrung gewachsen bin. Mein Großer mit Sicherheit auch, aber das lies sich (noch?) nicht besprechen. Er hat das mit sich ausgemacht.
Er hat sich ganz alleine zu diesem wichtigen Schritt entschieden, und er hat richtig für sich entschieden.
Ja, in der Nacht hatte ich das Händi auf voller Lautstärke fest im umso leichteren Schlaf umklammert, aber bei der nächsten Entscheidung, die er für sich trifft, werde ich ruhiger sein.
Eigentlich ist es das beste, was Menschen lernen können: die richtigen Entscheidungen für sich selbst zu treffen.
Und eigentlich ist es das beste, was Eltern lernen können: ihren Kindern zu ermöglichen, Entscheidungen für sich selbst zu treffen.
Ihre Beiträge sind toll, bitte unbedingt weiter machen. Vg
Liebe K., gut gemacht, sehr schön geschrieben und es ist offensichtlich super gelaufen.