Kurz vor dem Knall | Wann sollte ich der Einschätzung meines Sohnes vertrauen? |
Das ist für mich ja irgendwie ein Problem. Einerseits versuche ich, eine gute Mutter, ein gutes Vorbild und Zuchfluchtsort (natürlich mit guten Ratschlägen…) zu sein. Und gute Entscheidungen für meinen Jungen zu treffen. Andererseits: ich lebe nicht in seiner Welt. Ich kann mich belesen und mir von ihm und anderen Betroffenen schildern lassen, wie es sich anfühlt, mit einer anderen neuronalen Grundstruktur zu leben. Aber ich werde es niemals erleben und selber fühlen. Also übe ich mich darin, ihn mehr mitbestimmen zu lassen, als ich es vielleicht bei einem „normalen“ Kind tun würde. Doch: wo ist die Grenze? Was gehört zum Asperger, und was ist einfach nur vorpubertär? Wo schiebt er sein Asperger nur vor? Nehmen wir zum Beispiel die „Ruhetage“. Durch den fehlenden Reizfilter nimmt unser Großer alle Reize ungefiltert auf: alle Geräusche, alle visuellen Reize, auch alle körperlichen Reize. Wenn er versucht, dem Unterricht zu folgen und draußen fahren Autos, kann er die eine Geräuschquelle nicht von der anderen trennen, bzw. „priorisieren“. Wir Normalos nehmen möglicherweise das Müllauto auf der Straße wahr, aber wir können das Geräusch „hintenanstellen“, Asperger können das nicht. So wurde es mir gesagt, so ist die einhellige Meinung. Muss ich glauben. Ebenso ist offenbar das Erfassen eines Arbeitsbogens ein Problem. Wo ist die Hauptaussage? Welcher Text bezieht sich auf welches Bild? Warum ist eine Ente abgebildet und kein Erpel? Spielt das überhaupt eine Rolle? Dazu die akustischen Reize – Horror! Wenn das alles so ist, kann man sich vorstellen, dass der Schulalltag für einen Asperger viel, viel anstrengender ist, als für uns Neurotypen. Also haben wir eingeführt – auf Empfehlung und mit dem Einverständnis der Schule – dass unser Großer „Ruhetage“ einlegen kann, wenn er sie braucht. Er bleibt dann einen Tag zu Hause. Das hört sich wunderbar an, aber wer sagt, wann es soweit ist? Was macht er dann an dem Tag? Und wer bleibt bei ihm?
Wir haben hier ein einigermaßen gutes System gefunden. Er sagt mir Bescheid, wenn er nicht mehr kann und einen Ruhetag braucht. Ich gebe mich dann sehr streng und bitte ihn, nochmal darüber nachzudenken, ob das jetzt wirklich nötig ist, oder ob er einfach keine Lust hat. (Innerlich hab ich schon längst zugestimmt). Meistens bespreche ich kurz mit der Schulhelferin, ob sie den Eindruck teilt, dass das Maß mal wieder voll ist. In der Regel teilt sie die Einschätzung unseres Jungen. Komfortabel ist, wenn er rechtzeitig Bescheid sagt, so dass man vereinbaren kann, WANN der Tag sein soll. Also nicht heute oder spätestens morgen, sondern vielleicht erst in zwei oder drei Tagen, weil in der Schule vorher noch ein Test oder eine Arbeit stattfindet, die er sonst nachschreiben müsste, oder weil ich nicht freinehmen kann. Aber das ist natürlich alles ein ständiges Abwägen. Ich mache mir so viele Gedanken darum: ist es jetzt richtig, ihm den Ruhetag zu gewähren? Muss er nicht viel eher Strategien entwickeln, sich in der Schule mehr rauszunehmen? Ist mein Handeln verantwortungsvoll oder einfach nur nachlässig? Muss ich ihm für den Ruhetag Aufgaben geben, damit es sich nicht so nach „frei“ anfühlt und er das ständig in Anspruch nehmen möchte? An guten Tagen entscheide ich mich dazu, ihm einfach zu glauben. Er ist der Asperger, nicht ich. Ich weiß nicht, wie sich das alles anfühlt. Es gibt hier nur einen Experten für das Thema, und das ist er. An schlechten Tagen versuche ich, mit Kontrollwahn und strenger Mutterattitüde dagegen vorzugehen und es wird eine riesige Diskussion daraus. Ich habe für mich beschlossen, ihm öfter zu glauben. Er wird bald zwölf Jahre alt. Seine Schulnoten sind gut, seine Lehrer bescheinigen ihm waches Interesse am Unterricht, er hat es mit viel Ehrgeiz selber geschafft, ein super Zeugnis hinzulegen, seine Schulhelferin ist begeistert – also: wer ist hier der Experte? Doch wohl er, oder? Ich kann mir meine Energie für andere Situationen aufheben. Zum Beispiel dafür, dass er nun bald auf eine Schule in einem anderen Bundesland gehen soll, und es grade wahnsinnig umständlich ist, Schulhilfe zu beantragen. Wir leben in Berlin, und die ausgewählte Schule befindet sich in Potsdam. In den vergangenen Wochen hat sich nicht einmal klären lassen, welches Bundesland mein Ansprechpartner ist. Das wird noch spannend, und ich werde hier berichten!