„Autistische Gehirne schlafen nie“, hat mir mal jemand gesagt. Soweit ich weiß, ähneln sich auch in diesem Bereich die Bilder „Asperger“ und „AD(H)S“ sehr.
Seit Schuleintritt wird der Schlaf unseres Großen immer problematischer. Das Einschlafen kann Stunden in Anspruch nehmen, und es ist nicht gesagt, dass er dann durchschläft. Offenbar ist die Verarbeitung der Reize des Tages, und das „Zur Ruhe kommen“ des Gehirns eine fast unlösbare Aufgabe. In den Ferien und am Wochenende ist das natürlich halb so wild, aber wenn am nächsten Tag die Schule wartet, kann es wirklich eine Qual sein! Es gibt Phasen, in denen unser Großer erst nach Mitternacht einschläft, dann drei Mal in der Nacht „herumgeistert“, um dann morgens um 06.00h, wenn ich den Alltag beginne, bereits wach in seinem Zimmer zu sitzen und seinem aktuellen Spezialinteresse nachzugehen. In den Wintermonaten ist es besonders schlimm: spätestens mittwochs schicke ich in diesen Phasen quasi einen Geist in die Schule…
Kann man etwas Sinnvolles dagegen tun?
Ausreichend Bewegung
Natürlich achten wir darauf, dass er sich am Tage viel bewegt. Allerdings bedeutet „ausreichend Bewegung“ für ihn ganz sicher das, was ich als Hochleistungstraining bezeichnen würden: ein Tag, an dem das Bewegungspensum irgendwie nur okay ist, sieht so aus: mit dem Rad zur Schule und zurück (ok, pro Weg nur 15 Minuten, aber Vollgas!), zwei Stunden Schulsport und am Nachmittag 1-2 Stunden Fußball oder Kampfsport. Viel weniger geht eigentlich nicht. Da außerhalb der Schule oder einer „moderierten Situation“, wie zB das Fußballtraining mit seiner Mannschaft, kein Kontakt zu Gleichaltrigen stattfindet, stehen wir als Eltern vor der täglichen Herausforderung, ihn entweder in einer „moderierten Bewegungssituation“ unterzubringen, oder das selbst zu kompensieren. Mein Mann, ein ehemaliger Leistungssportler, und auch heute noch sehr sportlich unterwegs, legt hier eine bewundernswerte Ausdauer an den Tag und tut auch hundemüde alles, um das zu übernehmen, aber er ist beruflich auch sehr viel unterwegs. Ich habe meinen Job, den Vierjährigen und ehrlich gesagt: unser Großer ist 1.62m groß, wiegt mehr als ich und wenn ich den Torwart gebe, bin ich nach spätestens drei Schüssen verletzt… neulich habe ich zweimal versucht, mich als Trainingspartnerin für seine Kampfsportübungen bereit zu stellen: Beim ersten Mal hatte ich nach 10 Minuten eine gequetschte Rippe und beim 2. Mal nach bereits 30 Sekunden einen fast ausgerenkten Kiefer… Mama taugt hier echt wenig!
Der Fluch der bewegten Bilder
Man muss kein „anderes Kind“ haben, um zu wissen, dass man den Medienkonsum beschränken sollte. Jedoch ist es bei ruhelosen Gehirnen offenbar noch wichtiger. Trotzdem braucht man auch mal „Berieselung“, das verstehe ich total! Wir haben beschlossen, dass zum Ausruhen, z. B. nach der Schule, dafür Hörspiele in Frage kommen, aber nichts was sich bewegt. Unter der Woche bleibt glücklicher Weise dann auch kaum Zeit für Fernsehen oder ipad, und vor allem für die Diskussion darum nicht, denn die Tage sind letztlich restlos verplant, vor allem mit Bewegung. Dennoch erlauben wir, dass es zwischen Ende des Abendessens und dem Bettfertig-machen eine Zeitspanne von ca. 40 Minuten (für den Kleinen 20 Minuten) gibt, in denen bewegte Bilder konsumiert werden dürfen. Das ist natürlich echt völlig verkehrt, weil es so nah am Schlafen ist. Aber es ist lebensnah. Die Diskussionen halten sich echt in Grenzen. Das Regelbewusstsein eines Asperger kommt einem da sehr zu Gute. Man hüte sich nur vor einem: AUSNAHMEN! Aber davon werdet Ihr alle ein Lied singen können. Oder?
Melatonin
Melatonin ist bekannt als „Schlafhormon“. Einige von Euch kennen es sicher, weil sie es nach Reisen in andere Zeitzonen einnehmen, um den Schlafrhythmus schneller wiederzufinden. Die Ärztin unseres Großen hat uns damals empfohlen, einfach mal auszuprobieren, ob er besser einschlafen kann, wenn er abends etwas Melatonin nimmt. Es gibt die freiverkäufliche Variante, und die verschreibungspflichtige „Retard-Variante“, die für Asperger und AD(H)Sler wohl besonders empfohlen ist.
Es hilft bei uns definitiv. Nicht immer, aber oft. Von Sonntag bis Donnerstag Abend nimmt unser Sohn in der Regel Melatonin. Er darf aber frei entscheiden. Es ist auch ok, wenn er es nicht nehmen will. Manchmal reagiert er sehr merkwürdig auf Melatonin, es wirkt dann, als würde es alles nur noch schlimmer werden. Er beschreibt den Zustand dann so, dass es seinen Körper so müde macht, dass er weh tut, aber sein Gehirn trotzdem nicht abschalten kann. Das sind die Abende, an denen er wie ein Häufchen Elend vor Verzweiflung vor mir liegt. In solchen Phasen nimmt er kein Melatonin, und die Abende werden sehr, sehr lang.
Ich finde einen Punkt an der Melatonin-Gabe zweifelhaft: Es signalisiert doch, dass man durch „Pillen“ Besserung und Erleichterung erfährt. Wird das in der Pubertät die Hemmschwelle senken, sich echter Drogen zu bedienen? Ich habe darauf keine Antwort, aber die Frage wabert oft durch meinen Kopf. Um dem Alltag gerecht zu werden, und weil ich auch selber irgendwann mal schlafen muss, verdränge ich sie auch gerne und stelle die Melatonin-Schachtel weiter auf den Abendbrottisch. Komplett verdrängen lässt sie sich aber nicht. Was meint Ihr dazu?
Vorlesen
Habt Ihr zum Einschlafen schon mal Kochrezepte vorgelesen? Ich schon…denn oft hilft – vor allem in Kombination mit Melatonin – auch Vorlesen. Natürlich keine schönen Phantasie-Geschichten, wie ich sie gerne hätte, sondern Bücher, die das derzeitige Spezialinteresse bedienen. In der „Koch-Phase“ habe ich abends halt Rezepte vorgelesen. Als es um Autos ging, habe ich die technischen Daten aller für ihn interessanten Sportflitzer runtergerattert: Hubraum, Pferdestärken und Ausstattungsmerkmale. Und in der Hai-Phase eben die lateinischen Namen der Biester und ihr Fressverhalten. Ich lese dann einfach so lange, bis ich die typischen, regelmäßigen Atemzüge höre. Wenn’s hilft!
Daneben liegen
Wir liegen hochbettbedingt eher darunter als daneben, wenn unser Großer versucht, ins Land der Träume zu wechseln. Es gibt Abende, an denen auch Vorlesen für ihn dann einfach irgendwie zu viel wird. Dann hilft oft die bloße Anwesenheit von Mama oder Papa dabei, zur Ruhe zu kommen.
Einschlaftipps für Asperger | Mein Sohn erzählt
„Am meisten hilft es mir, wenn ich mich gedanklich mit meinem derzeitigen Spezialinteresse beschäftige. Ich denke dann intensiv darüber nach und stelle mir Situationen oder Geschichten dazu vor. Ich konzentriere mich dann nur darauf. Das Schlimmste ist, wenn ich grade meine „Ticks“(*) gemacht habe, und dann werde ich gestört, z. B. weil meine Eltern rufen, ich solle jetzt endlich schlafen. Dann muss ich wieder von vorne anfangen. Wenn nichts anderes funktioniert muss ich mir nochmal ein Hörspiel anmachen, natürlich zu meinem momentanen Spezialinteresse. Die Berieselung hilft dann irgendwann.“
(*) das Thema greife ich sehr bald auf!
Großartig liebste K. Ich hab sehr gelacht, obwohl es für dich und euch natürlich sehr herausfordernd ist. Ich bin dennoch immer dafür mit Leichtigkeit, Offenheit und Pragmatismus an die Dinge heranzugehen. Du machst das wundervoll.
Dicken Kuss aus dem Zug
T