Heute, wo wir eine Diagnose für unseren Großen haben, sortiere ich viele, längst vergangene Situationen, als frühe Anzeichen ein.
Die einhellige Meinung ist ja, dass sich Asperger-Autismus erst nach dem dritten Geburtstag zeigt. Dennoch hatte ich auch davor immer mal die Gedanken und das Gefühl: was mache ich falsch? Und wieso ist mein Kind nicht nur besonders, sondern auch irgendwie anders? Ob das nun wirklich „frühe Anzeichen“ waren, oder ob ich mir das jetzt einfach nur so erkläre, weiß ich nicht. Einige Situationen, die sich zum Teil auch vor dem dritten Geburtstag abspielten, möchte ich hier beschreiben – vielleicht erkennt der ein oder andere sein Kind darin wieder – Feedback dazu ist sehr willkommen!
Die Baby Zeit meines Asperger-Kindes | Schlafen, Trinken und (kein) Rhythmus
Als ich elf Tage über dem Termin war (ein Freitag), kündigte der Frauenarzt an, dass das Fruchtwasser knapp wird, und er am Montag die Geburt einleiten müsse, wenn er übers Wochenende nicht von selber käme (diese Aussage sollte ich sieben Jahre später beim kleinen Bruder wieder hören)
Als am Sonntag nichts geschehen war, wuchs meine Angst. Geburt einleiten? Müsste ich etwa eine Spritze bekommen?? (Das ist mein ganz persönlicher Horror!) Lauter Chemie durch meinen Körper pumpen lassen? 48 Stunden am Tropf liegen (also Spritze steckt im Arm fest!) und nix geschieht? Katastrophe!! Also bin ich mit meinem Mann zur Sonntags-Apotheke und habe mir den berühmten Einleitungscocktail gemixt: Aprikosensaft und Rhizinusöl. Mein Mann hat solidarisch mitgetrunken, nur das Rhizinusöl durch einen Schluck Vodka ersetzt 🙂
Fünf Stunden später setzten die Wehen ein, weitere drei Stunden später – um Mitternacht – stand ich parat im Krankenhaus. Es sollte noch über 12 Stunden dauern. Es war zum Verzweifeln. Er steckte fest, die PDA hat nicht gesessen, nix ging vorwärts. Um 12.21h lag er dann endlich gesund und munter auf meinem Bauch. Ich war unendlich glücklich – und total erledigt.
Es folgten sieben Monate, die mich zur totalen Erschöpfung führten. Mein kleiner Schatz entwickelte überhaupt keinen Tag- Nacht-Rhythmus, keinen Trinkrhythmus, er konnte nirgendwo ruhig liegen und daran, ihn mir in eine dieser Tragehilfen vor den Bauch zu schnallen, war nicht zu denken. Mit all seiner kleinen Säuglingskraft versuchte er, sich herauszuwinden. Ich war todmüde und restlos erschöpft. Dann bekam ich ein Buch empfohlen, das eine Anleitung dazu gibt, wie man seinem Kind das Schlafen beibringt, in dem man alle Schlaf- und Wachphasen und ebenso die Essenszeiten genau plant und auch einhält. Die Methode schließt ein, dass man das Kind beim Einschlafen und in der Nacht nicht sofort, sondern in immer größer werdenden Abständen beruhigt.
—> Achtung: Mir wurde neulich gesagt, dass das Buch mittlerweile vom Markt genommen wurde, weil man die Methode als sehr kritisch und folgenschwer einstuft <—
Für mein damals sieben Monate altes Baby kann ich nur sagen: es war wie ein Wunder! Nach 48 Stunden war unser Leben ganz neu! Mein Gott, hat er die festen Regeln und die Struktur genossen! Er hat sich wie eine Uhr stellen lassen – wir haben wie vorgegeben alles auf die Minute peinlich genau geplant und eingehalten, jedes Hinlegen, Aufwecken, Füttern. Er hat alles mitgemacht und wurde das fröhlichste Kind der Welt. Und wir wurden die ausgeschlafensten Eltern der Welt. Es war ein Traum!
Achtung: ich wiederhole, dass vor dem Buch mittlerweile gewarnt wird. Ja, ich habe gute Erfahrung damit gemacht, aber dieser Umstand rehabilitiert die Methode nicht. Was ich verdeutlichen möchte, ist, wie sehr unser Großer die feste Struktur und das peinlich genaue Einhalten dieser genossen hat. Diese Erkenntnis ist für das heutige Leben mit ihm unabdingbar.
Kleinkindzeit und Kindergarten
Mit ca. zwei Jahren begann er endlich zu sprechen. Hach, habe ich gewartet… spätes Sprechen soll ja „jungs-typisch“ sein. Als unser Großer dann endlich anfing, konnte er es dann aber auch! Als hätte er gewartet, bis sein Wortschatz für vollständig gebildete Sätze ausreicht. Dieses Muster ist geblieben: Während ich eher nach der Try-and-Error-Methode lebe, wartet er lieber, bis er die Sachen dann auch wirklich kann. Beim Ablegen der Windel war es ebenso: es sollte ewig dauern, aber als er sie dann endlich hergegeben hat, ist niemals ein Missgeschick passiert, weder am Tage noch in der Nacht.
Kurz vor seinem dritten Geburtstag kam er in den traumhaftesten Kindergarten (Elterninitiative), den man sich vorstellen kann: eine große Erdgeschoß-Altbauwohnung mit eigenem, großen Garten, zwei wahnsinnig zugewandten Erzieherinnen, meistens ein/e Praktikant/in, einer Person, die täglich frisch gekocht hat und insgesamt nur 16 Kindern. Die Eingewöhnung verlief in meiner Erinnerung unauffällig. Ich muss aber sagen, dass unser Großer einfach sehr früh schon „regelbewusst“ war. Und wenn die Regel nun hieß: „Du gehst ab jetzt jeden Tag in den Kindergarten“, dann hat er das auch gemacht. Das Einhalten von Regeln ist bis heute sehr wichtig.
Kindergarten | Die Freundebuch-Situation
Als mein Großer vier oder fünf Jahre alt war, überreicht ein anderer Junge meinem Schatz feierlich sein Freundebuch und bittet ihn, sich einzutragen. Hach, was für ein schöner Moment für mich als Mutter und absolutes Sozialtier! Mein Sohn sagt: „das kann ich nicht“. Ich (schon ganz nervös): „ich kann dir doch helfen!“ Freundebuch-Besitzer: „wieso kannst du nicht?“ Mein Junge, sehr unbeeindruckt und nicht böse oder gemein: „weil ich nicht dein Freund bin“. Autsch.
Im Nachhinein ist das eine „Paradesituation“. In keinem Falle wollte mein Großer hier etwas gemeines sagen. Für ihn war einfach völlig klar, dass man sich in ein Freundebuch nur als Freund eintragen kann. Und wenn er nicht sein Freund ist, kann er sich dort halt nicht eintragen. Diese Logik, ohne die Fähigkeit, auch nur den Hauch einer sozialen Komponente zu erkennen oder zu berücksichtigen, ist sehr typisch für meinen Sohn. Nach allem, was ich heute über Autismus-Spektrumsstörungen weiß, würde ich sagen, dass diese Situation asperger-typisch ist.
Kindergarten | „Reif und erwachsen“
Er war gut in die Kindergartengruppe integriert. Von seinen Erzieherinnen wurde mir berichtet, dass er zunehmend lieber mit ihnen Zeit verbringt als mit anderen Kindern. Er hat ohne Frage auch mit den Kindern gespielt, aber er war lieber und häufiger als andere Kinder bei ihnen und hat mit ihnen gesprochen oder den Tisch gedeckt. Eine der beiden Erzieherinnen sagte mal zu mir: „Dein Sohn ist irgendwie so…so – es klingt komisch, aber er wirkt schon so reif und erwachsen“. Auch in dieser Situation erkenne ich zwei Dinge: auch ca. sechs Jahre später kann ich mich daran erinnern als wäre es gestern passiert. Irgendwas hat diese Bemerkung also in mir ausgelöst. („Ist mein Kind „anders“?) und: heute, nach der Diagnose, würde ich auch das als asperger-typisch einsortieren.
Zu Hause spielen und Erwachsene
Mein Großer war immer am liebsten zu Hause, auch als sehr kleines Kind. Nichts machte ihn zufriedener, als mit einer erwachsenen Person, die nur für ihn da war und zu Hause seine Spiele nach seiner genauen Anleitung mit ihm spielte. Auf Spielplätzen kam nie ein Kontakt mit anderen Kindern zustande. Ich dachte damals gar nicht, dass man in dem Alter untereinander Kontakte knüpft, so dass es mir nicht so auffiel. Ehrlich gesagt hatte ich einfach auch wenig Vergleichsmöglichkeiten. Ich glaube aber, dass es wohl Kinder gibt, die auch schon in den ersten Lebensjahren „Spielbeziehungen“ zu Gleichaltrigen aufbauen wollen und können. Meiner wie gesagt hatte hauptsächlich seine immer gleichen Spiele im Kopf. Das lässt sich aus meiner Sicht rückblickend wunderbar in die Diagnose Asperger einsortieren.
Die ersten Spezialinteressen
Man sagt ja, dass Asperger sehr häufig ihren Spezialinteressen nachgehen. Mein Großer ist der König der Spezialinteressen! Bereits mit drei Jahren fing es an, wobei ich es damals natürlich nicht so benennen konnte. Mein Großer entdeckte mit drei Jahren einen heute sehr populären Feuerwehrmann. Es handelt sich um eine Comicfigur, die mit seinen Kollegen stets heldenhaft die Welt rettet, oder zumindest Pontypandy, den Ort ihrer Herkunft. Mein Sohn liebte diese Figur nicht nur, er WAR diese Figur. Er durchdrang Sprache, Mimik und Gestik. Die Art wie er mit seinen Kollegen sprach und die Situationen aus den Büchern und Filmen mussten in jeder freien Minute nachgespielt werden. Er war der Held und gab den mitspielenden Erwachsenen genaueste Regieanweisungen zu Sitzposition, Armhaltung, Gesichtsausdruck, Reaktion, etc. – es war eine Zumutung! Auf Spielplätzen haben wir geübt, wie die exakte Beinhaltung ist, wenn ER an der Feuerwehrstange runterrutscht. Aber wir haben tapfer mitgespielt. Bis heute ist es so: Es gibt ein Thema – jetzt langsam können es auch mal zwei parallel sein, wobei eines immer das Hauptthema ist – und das wird in Gänze durchdrungen. Egal, wie lange es dauert. Wir hatten Autos, Haie, Star Wars, Star Trek, Fußball, Kochrezepte… man weiß nie, wie lange es dauert, und es gibt Gebiete, die wiederkehren. Sicher ist jedoch, dass er dann ALLES aufsaugt.
Es gibt noch viele, viele weitere „besondere Situationen“, die mir wie Blei im Gehirn hängen, auch einige, bei denen ich mir heute große Vorwürfe mache, weil ich in meiner Einordnung einfach völlig falsch reagiert habe. Diese Situationen fanden ungefähr zwischen dem fünftem Geburtstag und der Diagnosezeit statt. Ich berichte davon in einem weiteren Beitrag und werde auch meinen Sohn fragen, ob er einige davon kommentieren möchte.
Liebe Katrin,
ich finde es toll und mutig, dass du diesen Blog eingerichtet hast. Bei den Beiträgen musste ich oft schmunzeln, denn bei unserem Aspi finden sich auch zahlreiche beschriebene Verhaltensmuster wieder.
Ich finde es toll, dass dieser Blog auch anderen Eltern Mut und Hilfestellungen bieten soll, denn unsere Kids vom Planeten Asperger sind so liebenswerte und besondere Wesen.
Ich freue mich auf weitere Beträge und mein Mann und ich können uns gut vorstellen, dich hier und da mit einem Beitrag zu unterstützen.
Danke für dein Engagement und deine Ehrlichkeit.
Vielen lieben Dank für diesen Kommentar! Er ist auch der erste auf meiner Seite – großartig! Es wäre toll, wenn Ihr beiden Profis und asperger-erfahrene Eltern ab und zu etwas beitragen würdet, das würde sicher vielen hier helfen. Danke! Herzliche Grüße