“Keine Ahnung. Ich fahr mal links“ – bisher bin ich noch immer irgendwie und irgendwann angekommen, doch mein Orientierungssinn arbeitet ausschließlich nach dem Try-and-error-Prinzip. Falls ich irgendwo noch nie war, oder den Weg nicht regelmäßig laufe oder fahre, kann ich nur versuchen, das Ziel irgendwie zufällig zu finden. Ja, heute hat jedes Smartphone ein Navi. Das hilft, aber es hat mir auch den letzten Rest an Eigenleistung auf dem Gebiet aberzogen… Noch vor einigen Jahren – ohne Händi-Navi -, da war es schon peinlich, wenn mal Gäste aus einer anderen Stadt kamen. Konnte ich anfangs immer noch auf „ich zeig dir mal ein bisschen die Gegend“ machen, erkannte der Besuch meistens schon am zweiten Tag, dass ich völlig orientierungslos durch die Straßen kurve und half mir erstaunt mit „aber wir wollten doch zu dem gleichen Café wie gestern, oder? Dann hätten wir doch eben rechts gemusst!“ durch die mir eigentlich ja bekannten Straßen, deren Zusammenhänge sich mir jedoch einfach nicht erschließen wollen. „Ja, ja, schon klar. Letzte Woche war da noch gesperrt, irgendwie dachte ich, dass ich immer noch hier rumfahren muss.“ ist eine meiner Standarderklärungen. Cool bis zur Herzspitze. Nicht aus der Ruhe bringen lassen. Lächeln und zum Volke winken. Heute kann ich mich ja auch nicht nur auf die Orientierung der anderen verlassen, sondern auch noch auf technische Geräte. Sehr praktisch! Kann ich mit noch mehr Grandezza zum Volke winken. (Wer jetzt denkt „Warum hat sie nicht einen Stadtplan genommen??“, dem sage ich: Hat sie! Das hilft aber nichts! Wenn man sich nicht auf Straßen orientieren kann, kann man sich auch nicht auf Zeichnungen von Straßen orientieren! Stadtpläne helfen Menschen, die sich orientieren können! Neulich hat mir eine Freundin voller Begeisterung den Plan ihrer Küche und wie die jetzt umgebaut wird gezeigt – während wir in ihrer Küche standen, wohlgemerkt. Ich habe mich wirklich mitgefreut, aber wenn sie mir gesagt hätte, dies sei ein Plan MEINER Küche, hätte ich ihr auch geglaubt).
Kennt Ihr diese Leute, die schon in der zweiten Klasse wussten, dass sie mal Tierarzt/In werden wollen? Oder Busfahrer, Raumfahrerin, Pilot oder Polizistin? Und die, die heute mit festem Blick sagen: ich wusste immer, dass ich mal 1/2/3/4 Kinder haben will, und dabei auf ihren entsprechenden Nachwuchs zeigen? Das fand ich schon immer echt bemerkenswert. Ich war mir über meinen Lebensweg nie im Klaren. Ich habe mich, soweit ich mich erinnere, nie in einem Beruf gesehen, oder mit soundsovielen Kindern. Nachdem die Phase „ich will eine berühmte Sängerin werden“ überwunden war, hatte ich mich selber eigentlich nie mit einem Wunsch oder einem Bild versehen. Nur als ich so 16 oder 18 war, da war ich mir völlig sicher, dass ich mal einen Ausländer heiraten werde. Österreicher fand ich wegen des Dialekts so interessant, Brasilianer wegen des tollen Landes in dem ich noch nie war, oder ein englischer Lord, ein echter Gentleman, das hätte mir auch gefallen. Ansonsten überleg ich mir nach wie vor, was ich werden will, wenn ich mal groß bin.
Vor knapp 13 Jahren wurde mein Großer geboren. Als wir nach einigen Tagen aus dem Krankenhaus nach Hause kamen, dachte ich “puh, ich müsste mich mal aufs Sofa legen und die Augen zumachen, mal so richtig ausschlafen“. Kleiner Lachkrampf bitte bei allen, die im gleichen Boot sitzen… Das wurde mir dann schnell klar: das Leben, in dem ich schlafen konnte, wenn ICH müde war, hatte vor ca. 72 Stunden aufgehört. Jetzt kann ich versuchen zu schlafen, wenn ER müde ist. Jedenfalls kam zu der Übermüdung eine ziemliche Verunsicherung. Die, die man eben verspürt, wenn das erste Kind plötzlich frisch geschlüpft im Arm liegt, und du dich fragst, wie es jetzt weitergeht. Ich war echt schlecht beim Thema „innere Ruhe, das wird schon alles“. Aber ich war von Anfang an gut darin, mir nix anmerken zu lassen. Nicht mal ich selbst hab was gemerkt. Voller Elan hab ich das Haus aufgeräumt, die Babykleidung gewaschen, die neuesten Ratgeber zu Ernährung für das Baby, Ernährung für die Mutter, Entwicklungsschritte, Entwicklungsförderung, Schlafen, Wickeln, Fingerspiele durchgelesen, mir Tipps und Tricks von überall geholt, ach, ich habe mich so wunderbar mit den Ansichten und Kenntnissen der Anderen beschäftigt! Es war wie im Auto: Puuuh- mein Besuch aus Delmenhorst wusste, dass ich am Berliner Savignyplatz links und nicht rechts abbiegen muss, um nach Hause zu kommen! Puuuuh, der Ratgeber sagt mir, was ich machen muss, wenn mein Kind nicht schlafen will. Ich verlasse mich mal besser auf die, die es schon können, mein Navi im Smartphone, den Ratgeber zum Kind. Ich kann mich derweil im „nichts anmerken lassen und schön zum Volke winken“ üben.
Um beim Bild mit dem Auto zu bleiben: ich habe meinem Orientierungssinn für die Fahrt durch mein Leben als Mutter nicht vertraut. Ich habe mir Bücher als Pläne geholt, die ich nicht verstehe, und mir von den Beifahrern die Richtung zeigen lassen. Immer weiter bin ich vom Steuer weggerutscht, hab den Driver‘s Seat gerne geräumt, und mich auf meine Spezialität besonnen: Strahlend lächeln, Haltung bewahren und mit festem Blick zur Seite sehen. Zum Volke winken nicht vergessen.
Je schwieriger es mit meinem großen Jungen wurde, desto mehr andere Menschen habe ich befragt, hab das Steuer aus der Hand gegeben, weil ich so fest daran glaubte, dass ich den Weg nicht finden werde.
Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die damals die Autismus-Diagnose stellte, die hat mal zu mir gesagt: „Die Mutter hat immer recht.“. Damals, da ist der Satz, und vor allem seine Bedeutung, nicht bis zu mir durchgedrungen. Ich habe ihn gehört, aber ich konnte ihn nicht auf mich beziehen. Möglicher Weise haben Mütter mit gutem Mütter-Orientierungssinn recht. Aber dazu gehöre ich ja nicht.
Das Auto fuhr also weiter und weiter mit mir durch mein Leben als Mutter. Ich habe es immer besser ausgerüstet, mit mehr und mehr Hilfsmitteln, mit mehr und mehr, was mir den Weg weisen kann und es schön sauber gehalten. Doch es ist wie mit dem echten Navi. Auch den letzten Rest Eigenleistung habe ich mir aberziehen lassen. Tempomat, Einparkhilfe, Erkennung des Tempolimits, Überholwarnung im Außenspiegel, rote Lichter blinken, wenn man die Spur verlässt und wenn man vergessen hat, wohin man nochmal wollte, steht’s ja im Navi.
Es liegt an einem selbst, wie viel Fremdsteuerung man zulässt. Und im Auto mag es alles funktionieren und sehr hilfreich sein, wenn man selbst den Weg nicht findet. Doch wenn es um das eigene Kind geht, dann lässt sich das nicht mehr so leicht machen. Natürlich kann man andere um Rat fragen. Auch und besonders Fachärzte oder Experten ihres Gebiets. Der Satz der Psychiaterin aber, dass die Mutter immer recht hat, den verstehe ich heute so, dass einem als Mutter (und ich gehe einfach mal davon aus, dass Väter inkludiert sind), am Ende aller Expertisen und Diagnosen die Bewertung und Interpretation der Ergebnisse obliegt. Quasi die Anwendung der Berechnungen auf die eigene Situation. Objektiv wurde das und das berechnet. Aber passt das zu meinem Kind? Finde ich mich und ihn oder sie dort wieder? Oder sind wir einer der statistischen Ausreißer, die gerne gelöscht werden, damit sie das Bild nicht verzerren, so dass wir hier gar nicht gemeint sind?
In meinen Beiträgen bemühe ich mich immer darum, möglichst bei mir zu bleiben, nicht für andere zu beurteilen. Ich kenne mittlerweile viele meiner Leserinnen, weil sie mir schreiben, wie es bei ihnen ist, was sie berührt hat, was ihnen aufgestoßen ist, was ihnen geholfen hat, und was ihnen völlig fremd ist. Mit den meisten Leserinnen, die auch ein oder mehrere andere Kinder haben, eint mich die anhaltende Verunsicherung. (Vermutlich auch mit noch vielen weiteren Müttern, die ja alle besondere Kinder haben, aber vielleicht keine anderen, und von denen ich es einfach nicht weiß.) Die Ideen zur Kindererziehung entstehen ja nicht jeden Monat neu – von Trends mal abgesehen. Vom Prinzip werden sie weitergegeben, bewusst oder unbewusst weitergetragen durch die eigene Erziehung, Aspekte, die man bei anderen gesehen hat, oder auch nur Dinge, die man sich ganz fest vorgenommen hat, als das erste Mal der zweite Strich auf dem Teströhrchen zu sehen war. Und BÄM- es wird alles anders. Gefühlt alle Kinder des Umfelds werden so und so, nur das eigene ist ganz anders. Es gewöhnt sich NICHT an die neue Umgebung. „Etwas mehr Loslassen“ (einer der schlimmsten Ratschläge überhaupt!) geht grundsätzlich völlig nach hinten los. Es findet eben KEINE Freunde in der Schule, und auch die Art der Wissensvermittlung, die bei allen funktioniert, klappt überhaupt nicht, obwohl auch der dreihundertste quälende Test eine normale Intelligenz bescheinigt. Und so erlaube ich mir heute, wenn ich von Leserinnen gefragt werde, was ich zu dieser und jener Sache denke, den Rat, für einen Moment alles zu vergessen und sich zu fragen, was SIE glauben, was Sache ist. Was hat dein Kind, und was kannst Du für es tun? Du bist die Mutter. Du hast recht.
„Die Mutter hat immer recht“ – heute lasse ich den Satz auch für mich gelten. Es hat dreizehn Jahre gedauert, und es gibt noch Rückschläge, aber hey: die Pubertät hat grad erst angefangen. Angeblich unterscheidet sich die Pubertät bei Autisten deutlich von der Entwicklung nicht-autistischer Kinder. Also? Es ist Zeit, auf den Fahrersitz zu klettern, alle Pläne und Navis rauszuwerfen, den Handschuh auszuziehen und das Steuer endlich selbst zu ergreifen. Und wenn mein Großer dann sagt „MAMA! Wir hätten eben rechts gemusst!“, kann ich ja antworten „Deine Mutter hat immer recht“.