…und manchmal auch das ganze Faß.
„…- als Mutter, als jemand der jeden Tag und jede Nacht mit Autismus lebt und ihn liebt, weil er zu meinem Kind gehört-…“
Hab ich doch glatt neulich auf Instagram behauptet. Dass ich nicht nur täglich mit Autismus lebe, sondern ihn auch liebe, weil er zu meinem Kind gehört, und ich deswegen gar nicht anders kann.
Nur zehn Minuten zuvor habe ich mich mit meinem Mann dazu ausgetauscht, dass wir unter ständiger Anspannung stehen, weil es so schwer sein kann, mit den autistischen Facetten unseres Großen umzugehen und sie in unserem Alltag zu verarbeiten. Und dass wir immer wieder Phasen haben, in denen uns jegliche Geduld dafür fehlt.
Es ist ja IMMER schwer, sich in andere hineinzufühlen und aus den menschlichen Unterschiedlichkeiten ein alltagstaugliches Konstrukt zu basteln. Dazu muss das Gegenüber nicht auf einem anderen Stern leben. Da reicht es schon, wenn nur einer von beiden Blumen zum Hochzeitstag übertrieben findet. Aber wenn eines der Gegenüber dann eine „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ hat, sich also ganz anders entwickelt, als man es selbst getan hat und die meisten um einen herum, und man deswegen ehrlich gesagt auch nach 13 Jahren in sieben von zehn Fällen – falls überhaupt irgendwas – dann nur Bahnhof versteht, dann wird es zumindest nicht leichter. Und ich wundere mich immer noch darüber, wie oft ich falschen Annahmen über meinen Sohn unterliege. Wenn ich dann wieder eines Besseren belehrt wurde, und ich die ganze Angelegenheit im Rückblick und mit etwas Distanz betrachte, frag ich mich oft, wie ich die Situation vorher so falsch einschätzen konnte. Nach all den intensiven Jahren mit meinem Sohn hab ich Autismus immer noch nicht kapiert!
Warum hab ich jetzt auf Instagram diesen Post kommentiert? Weil der – mit aller Berechtigung- gefordert hat, endlich aufzuhören, Autisten umerziehen zu wollen, ihnen ihre Besonderheiten abtrainieren zu wollen, und sie im öffentlichen Leben, vor allem beim Thema Bildung, mit aller Macht konform ins System pressen zu wollen. Da stimm ich doch zu!
Aber: man darf im Alltag von den Einzelnen auch nicht zu viel erwarten. Oder zumindest: ich muss glaub ich meine Erwartungshaltung korrigieren. Und ich denke nicht, dass das dem Anspruch an Inklusion widerspricht.
Nach wie vor bin ich der Meinung, dass Bildung niemanden ausschließen darf, und dass beim Thema „Differenzierung“ noch sehr viel Luft nach oben ist. Erfolgsstories auf diesem Gebiet – und die gibt es ja – dürfen keine Einzelfälle bleiben und vornehmlich an Privatschulen geschrieben werden.
Das erste Dilemma, das ein Kind durchmacht, wenn es merkt, dass es anders ist, ist, dass es merkt, dass es anders ist. Was muss das für ein grauenvolles Gefühl sein? „Ich gehöre nicht dazu“. Jeden Tag geht es damit durch sein Leben. Unabhängig davon, ob die anderen finden, dass es anders ist.
Hier setzt vielleicht der Grundgedanke der Inklusion an: Jeder ist anders. Und jeder gehört dazu.
Meine klugen Reden haben einen Haken: diese Gedanken habe ich alle erst jetzt. Nach 13 Jahren einer täglichen Prise Autismus‘. Mal sind es nur ein paar Krümelchen, mal wird das ganze Fass gleich morgens über einem entleert. Derzeit sind es keine kleinen Prisen, aber auch nicht das ganze Fass. Eher so Esslöffel. So, dass ich derzeit zB immer mit den Entschuldigungen für die Schule warte und nach 2-3 Wochen einfach Sammelentschuldigungen schreibe. Ich kenne diese Phasen langsam. Lohnt nicht, sich täglich aufzuregen.
Aber wie um alles in der Welt soll ein/e Lehrer/In das so klaglos hinnehmen? Er oder sie ist möglicherweise einfach normal durch eine staatliche Regelschule gelaufen, hat vielleicht keine Kinder oder Selbstläufer und versteht die Welt nicht mehr, wenn einer, dem man das Anderssein erstmal nicht ansieht, trotz Schulhilfe und Hamburger Modells manchmal tagelang nicht in der Lage ist, die Schule zu besuchen. Dass er/sie das aufgrund der Diagnose entschuldigen MUSS, steht für mich auf einem ganz anderen Blatt als dass des echten Verständnisses für die Situation. Die KANN er/sie nicht haben. Woher denn? Die Lehrer meines Großen auf der neuen Schule bekommen je nach Stundenplan 2-3x in der Woche ein paar Prisen Autismus. Und die sind kontrolliert abgegeben durch die SchulhelferIn. Was, wenn sie das Ganze auch gar nicht verstehen wollen? Was, wenn sie einfach gerne Französisch-, Mathe- oder Musik-Unterricht geben und mit all dem Anders-Sein-Quatsch in Ruhe gelassen werden wollen? Ich finde, es ist ihr gutes Recht. Auch das ist Inklusion. Jeder ist anders.
Ich werde mich weiter für Inklusion stark machen. Mit viel Kraft, sehr viel Kraft, manchmal etwas zu sturer Kraft, sind wir auf dem Weg, dass unser Großer eines Tages eine Erfolgsstory geworden sein wird. Doch mir ist nochmal klar geworden, dass Inklusion zu Hause beginnt. Im Selber Leben und im Vorleben.
Wer sich interessiert: das Berliner Bündnis für Schulische Inklusion (www.Buendnis-inklusion.berlin) macht meiner Meinung nach tolle Arbeit. Und wer nochmal nachsehen wollte, was Inklusion bedeutet, und warum das was anderes ist als Integration, kann hier nachsehen: www.Aktion-Mensch.de/was ist Inklusion