Savant Syndrom, Synästhesie und mehr
„Na, das Wort hört sich doch lila an, also soll der Bereich lila eingefärbt werden.“ Äh – wie? Irgendein erfundenes technisches Teil eines erfundenen Raumfahrtgefährts aus einer erfundenen Serie, in der es um Sternen-Kriege geht, klingt offenbar lila, und deswegen soll dieses an der gleich real entstehenden Torte mit lila Lebensmittelfarbe versehen werden??
Bisschen viel für Muddi am Samstag Morgen… aber egal, die Backzutaten sind gekauft, die Torte konzipiert, es kann losgehen.
Mein Großer ist nicht der erste in der Familie, der mir sagt, dass manche Wörter Farben haben. Ich war in dem Moment vor allem so verdattert, weil ich mich plötzlich erinnerte, dass auch meine Mutter das mal erwähnte. Ich war gefühlte acht Jahre alt, als sie mir erzählte, dass sie zumindest in ihrer eigenen Kindheit bei einigen Wörtern Farben vor ihrem inneren Auge sah. Ich war damals so irritiert, weil es bei mir nicht so war (kann ich nicht auch mal IRGENDEINE Besonderheit haben?!), und weil ich bis dahin nicht wusste, dass Kinder anders sein können als ihre Eltern… ich hatte das alles wieder vergessen, bis mein Großer nun darauf zu sprechen kam.
Spezialinteresse oder besondere Begabung?
Aber nochmal zurück zur Torte: er hat sie also zunächst konzipiert, also die Torte vom Titelbild. Kochen und Backen entspannen ihn ungemein. Am vergangenen Samstag durfte er ein Dreigang-Menü für uns erstellen: Kartoffelpüree, Burger und besagte Torte. „Durfte“, weil wir wissen, dass wir hinterher mehrere Stunden die Küche aufräumen und putzen müssen. Wir wissen aber auch, welche unglaublich entschleunigende Wirkung diese Aktionen auf unseren Sohn haben, so dass wir beschlossen hatten, das Menü zu geniessen, und uns anschließend mit einem Glas Wein zu bewaffnen um die Küche wieder herzustellen. Mein Mann und ich sind da ein gutes Team, und in weniger als drei Stunden war das Schlimmste schon vorbei. Ähäm…
Jedenfalls, als er wusste, er darf, hat er sich am Freitag Abendhingesetzt und erstmal ein Tuschebild der Torte gemacht. Am Samstag Früh dann einen Einkaufszettel. Anschließend wurde eingekauft und losgelegt. Es gibt kein Rezept und keine Vorlage, es entsteht alles in seinem Kopf. Er weiß irgendwie, was gut zusammen schmeckt. Er weiß, welche Konsistenz Nahrungsmittel entwickeln und auch, wie die Optik sein muss, damit es dann ebenso gut aussieht, wie es schmeckt. Ich selbst koche sehr gerne und bin gar nicht mal schlecht, aber ich „fühle“ das nicht so wie er. Ja, so kommt es mir vor – als könnte er „fühlen“, wie was zusammen schmecken wird.
Mein Mann und ich wurden für unsere Tapferkeit belohnt: Der Burger war ein Meisterwerk. Mit Spiegelei und Bacon und dekoriert wie im Sternelokal. Und das Kartoffelpüree! Köstlich! Die ungekochten Kartoffeln werden im Backofen gebacken, mit Butter gestampft und mit eigens frittierten Kartoffelschalen garniert. So esse sogar ich ein Kartoffelgericht. Woher weiß er, dass das auf diese Weise unglaublich gut schmecken wird? Ja sicher, er hat es schonmal ausprobiert. Aber „Ausprobieren“ geschieht ja mit Vorsatz. Man legt ja nicht- HUCH- eine rohe Kartoffel in den Ofen, die einem dann – ACH DU SCHRECK – in einen Topf fällt, und naja, jetzt wo sie schon da liegt, kann man sie doch auch mit Butter zerstampfen und ihre Schalen frittieren und anschliessend essen. Diese Schritte überlegt man sich doch vorher.
Es ist halt sein Spezialinteresse. Mein 12jähriger kocht und backt gerne. So war es für mich bis letzten Samstag. Und dann kam das mit den Farben und Wörtern, und ich habe gestern gelernt, dass dieses Phänomen Synästhesie heißt. Synästhesie hat sehr viele Ausprägungen, sechzig oder siebzig, und wird auf Wikipedia als eine Art „luxuriöse Spielart der Evolution“ beschrieben, bei der sich mindestens zwei unserer Sinne zu einer Art „gekoppelten Wahrnehmung“ miteinander verbinden. Eine Sinnesempfindung löst gewissermaßen eine andere automatisch aus. Es gibt Menschen, die immer einen Kaffeegeschmack im Mund haben, wenn sie mit einem freundlichen „Hallo!“ begrüßt werden, (Wie praktisch!)
„Ist das bei dir nicht so??“
Nach meiner erstmal oberflächlichen Recherche zur Synästhesie habe ich meinem Großen von den verschiedenen Ausprägungen erzählt. Das meiste davon war ihm völlig fremd, aber einen „Treffer“ hatte ich noch: die Wochentage sagt er, die sind in seinem Kopf angeordnet wie das Periodensystem der Chemie. Und der aktuelle Wochentag, der leuchtet so ein bisschen. Das nennt man offenbar „Zeit-Raum-Synästhesie“. Ich finde es richtig spannend, dass Menschen so unterschiedlich wahrnehmen, und dass die Natur da ein paar Varianten und Spielereien eingebaut hat. Das Thema hatte mich irgendwie gepackt – ich finde es so sinnlich, und ich bin fast ein bisschen traurig, dass ich das nicht habe. Es soll doch in der Familie liegen, sagt das WWW. Mein Mann hat es leider auch nicht. Komisch, nur meine Mutter und mein Großer?? Kann fast nicht sein, nach allem, was ich mir jetzt angelesen habe. Einer Eingebung folgend spreche ich meine Schwester darauf an. Ich erzähle ihr alles, und vor allem von dieser wohl recht häufig vorkommenden Variante der Zeit-Raum-Synästhesie. Als ich fertig bin, kommt erstmal nix. Ich dachte, sie hätte mir gar nicht richtig zugehört. Doch dann sagt sie: „Ist das bei dir nicht so??“
Das ist natürlich lustig! Sie wusste gar nicht, dass andere Menschen die Wochentage NICHT räumlich strukturiert vor ihrem inneren Auge sehen. Sie sieht sie anders angeordnet als mein Großer, aber sie ist Synästhetin. Ich freue mich! Wieso? Weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich zwar so normal bin, aber meine Familie einfach so spannend und vielfältig ist!
Kann man sich davon denn irgendwas kaufen, wenn man Synästhet ist? Eigentlich nicht. Vorteile haben Synästheten, wenn sie sich etwas merken sollen. Erinnerungstests fallen bei ihnen deutlich besser aus, vor allem visuelle. Bei manchen, da ist ihre Art der Synästhesie derart stark ausgeprägt, dass sie z. B. über das berühmte „absolute Gehör“ verfügen, oder dass sie zu Ausnahmeerscheinungen im kreativen Bereich werden, wie beispielsweise Kandinsky oder Rembrandt, denen man posthum diese besondere Wahrnehmung zuschreibt.
Auch unter Synästheten gibt es Einzelfälle, deren Begabung derart stark ausgeprägt ist, dass man dann von „Inselbegabung“ spricht.
Inselbegabung
Inselbegabte können etwas so auffällig gut, dass dafür andere Dinge auf der Strecke bleiben, sie also gleichzeitig unter ausgeprägten Defiziten leiden. So ähnlich war es auch bei Kim Peek, dem Inselbegabten, der in acht Sekunden eine Buchseite lesen konnte – PRO AUGE! – und eine Wiedergaberichtigkeit von 98% hatte, und dessen Leben später als „Rainman“ verfilmt wurde. Und was war „Rainman“??? Richtig! Unsere erste Begegnung mit dem Thema Autismus!
Diese Inselbegabten, die man auch Savants nennt, haben also „Teilleistungsstärken“ (ein Hoch auf die deutsche Sprache! An Sinnlichkeit und Schönheit kaum zu überbieten…) in Verbindung mit einer Behinderung oder einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, in der Regel (Asperger-) Autismus: 50% der Savants sind gleichzeitig Autisten, und sechs von sieben Personen mit dem Savant Syndrom sind männlich. Der Autismusforscher Simon Baron-Cohn hat herausgefunden, dass Synästhesie bei Autisten ungefähr 3x häufiger vorkommt als bei Neurotypen.
Schließt sich hier der Kreis zu meinem Großen? Dass er Asperger-Autist ist, das wissen wir. Ich unterstelle ihm nach meinen Recherchen der letzten Tage jetzt einfach mal eine Synästhesie. Und wer weiß – vielleicht entpuppt sich sein Spezialinteresse „Kochen und Backen“ als Inselbegabung?
Asperger, Synästhet, Savant? Wow! So viele mögliche Zuschreibungen für einen kleinen Menschen.
Vielleicht gibt es gar kein „normal“?!
Die Natur hat uns Menschen unglaublich viel Variation in die Wiege gelegt. Wir nehmen so unterschiedlich wahr. Meine Sinne funktionieren anders als Deine. Bei mir ist der Montag einfach Montag, bei dir leuchtet er gelb. Ich genieße schwarzen Kaffee, während du keinen Schluck davon runterbringst. Der gleiche Windzug, der mir unangenehm ist, erfrischt dich als wohltuende Brise, und es ist der gleiche Sonnenstrahl, der meine Haut so schön wärmt, aber dir in den Augen schmerzt. Und es ist der selbe Himmel, in dem ich die Schäfchenwolken sehe, und du das zu Hause deines Gottes.
Ich verstehe immer mehr, dass es kein „normal“ gibt. Wenn mein Großer das Schreiben nicht mehr lernt, dann ist es so. Er wird jemand finden, der das Schreiben für ihn übernimmt. Vielleicht jemand, für den er immer kochen und backen wird. Ich werde für ihn den Ranzen packen, weil ich es gut kann, dafür soll er mir am Wochenende Kartoffelpüree machen, weil das seine Stärke ist. Wenn seine Sinne nicht für das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel in einer Großstadt gemacht sind, bekommt er halt ein neues Rad. Und wenn die Straßen vereist sind, werde ich ihn mit dem Auto fahren, und anstatt mir dann Gedanken darüber zu machen, ob ich ihn grade zu sehr „verwöhne“, lasse ich mir lieber erzählen, ob die Wörter „Eis“ und “Schnee“ vielleicht Farben für ihn haben.
Ich werde versuchen, mir keine Sorgen mehr darum zu machen, dass er anders ist, ich werde es vielmehr genießen, so dass eines Tages auch er sich und seine Art zu Sein genießen kann.
Ein kleines P. S.: ich habe zu den Themen „Synästhesie“ und „Savant Syndrom“ nicht sehr tiefgründig im www recherchiert. Der Artikel kann NICHT als Quelle für Fakten genommen werden. Ich habe recherchiert, gelesen und meine eigenen Interpretationen hinzugefügt.
Wirklich großartig beschrieben, liebe K.,
Vielen Dank für diesen Beitrag!
Liebe K., wieder einmal ein Beitrag, der für mich nicht nur über Euren Großen viel Neues aufzeigt. Noch nie habe ich etwas über Synästhesie gehört,weder abstrakt, noch in dem Zusammenhang mit unserer Familie. Das ist nun nichts Sensationelles, sondern zeigt die unglaublich große Bandbreite der Eigenschaften/Begabungen/Defizite auf, die uns die Natur mitgegeben hat. Nun sind in der Vergangenheit über „unseren“ Großen manche Defizite, aber auch viel Kreativität, aufgezeigt worden. Mit Spannung können wir vielleicht künftig bei ihm mehr und mehr Spezialbegabungen entdecken? Warten wir es mit Geduld und Unterstützung gemeinsam ab. Dein Papa.