Ein Ausflug in die Gefühls- und Gedankenwelt von Hochsensiblen
Mein Kleiner schreit kurz auf, hält sich Nase und Mund zu und rennt ins Wohnzimmer. Was ist denn jetzt passiert? Ganz klar: sein großer Bruder isst mal wieder Schinken. Der Anblick, der Geruch und die Vorstellung der Konsistenz und des Geschmacks sind für den Kleinen derart unerträglich, dass er rausrennen muss. Abends, als ich ihm eine Geschichte vorlese, wird er fast irre, weil der Hosenbund nicht fest in den Socken steckt, so dass das Hosenbein immer ein paar Milimeterchen hochrutscht und er so einfach nicht einschlafen kann.
Jeder kennt vermutlich diese Situationen. Ein Schild im T-Shirt kratzt unerträglich im Nacken, die Gerüche hinter dem „Foodcourt“ der neuen „Mall“ sind eine Zumutung, und das Geräusch der 6-spurigen Straße vor dem Bürofenster gibt einem dem Rest. Kann hier mal jemand auf den Pausenknopf drücken?? So viele Reize, so viele Eindrücke, es ist manchmal schwer, sie auszuhalten, sogar, wenn man „normal“ ist.
Viele Menschen nehmen Reize aber anders wahr, und vor allem: sie verarbeiten sie anders als „Normale“. Darüber habe ich ja schon öfter im Zusammenhang mit meinem älteren Sohn berichtet. Aber nicht nur Asperger nehmen anders wahr, es gibt auch andere, die sich von ihrer anderen Wahrnehmung und Verarbeitung so gestört fühlen, dass sie Rat suchen, und dann möglicher Weise auch eine Diagnose und darüber Hilfe erhalten. Das ist gut so!
Hochsensibilität – nicht zu verwechseln mit Hochbegabung – ist auch eine dieser spannenden Besonderheiten! Sie ist keine Krankheit, und sie muss nicht behandelt werden. Sie ist eben eine besondere Art der Wahrnehmung und der Verarbeitung, und auch, wie das Autismusspektrum, eine andere „neuronale Verschaltung“. Jutta Jorzik-Oels, die den Blog www.hauptsacheherzbewegt.de betreibt, sagt: „Im Denken von Hochsensiblen Menschen ist alles mit allem verbunden. Nichts steht nur für sich; alles wird in Bezug gesetzt zur Gesamtheit. Hochsensible denken in Bildern. Riesige, unendlich vielschichtige, bewegte Bilder entstehen vor dem inneren Auge. Gleichzeitig erscheint dahinter schon ein neues Bild und noch eins. Die so oft erwähnte Empfindlichkeit für Reizüberflutung hat hier ihren Grund“
Oje, das mit der Reizüberflutung kennen wir ja. Mein Großer hat damit wirklich Probleme, und auch mein Kleiner ist nicht recht frei davon… Manchen fehlt einfach der Filter. Was lasse ich rein, und was muss draußen bleiben, damit ich nicht durchdrehe? Das können Normalsensible. Nicht immer, aber vom Prinzip. Viele können es aber gar nicht, der Teil ist einfach vergessen worden. So ist es wohl auch bei den Hochsensiblen.
Tja, ist ja dann wohl deren Problem, oder? Nicht ganz. Denn 15% von uns, also fast jeder sechste, sind nach aktueller Schätzung hochsensibel. Ja, auch Kinder in der Schule. Bei der aktuellen Klassengröße in Deutschland hat man im Schnitt also vier „Sensibelchen“ dabei. Und von denen soll man jetzt Reize fernhalten, oder was? Nee. Da gehört leider mehr dazu. Denn die andere Wahrnehmung und Verarbeitung hat offenbar auch zur Folge, dass sie anders lernen, sagt Jutta Jorzik-Oels. Und deswegen ist das eine Herausforderung. Sie nehmen anders wahr, sie denken anders, sie lernen anders. Und wenn das keiner weiß, und somit nicht berücksichtigen kann, dann führt das vermutlich unweigerlich zu Problemen in einer Klasse. Für alle Kinder.
Und woher weiß man, dass man ein hochsensibles Kind vor sich hat?? Der hochsensible Benjamin Pick (http://Www.benjaminpick.de) sagt mir, dass er sich schon früh anders gefühlt hat, spätestens in der 2. Klasse war bei ihm ein echtes „Störgefühl“ da. “Ich wollte andere Spiele spielen, weniger Wettbewerb und mehr Kooperation. Wo andere Kinder zuschlagen würden, habe ich versucht, Konflikte mit Worten zu lösen, schon im Kindergarten. Ich litt darunter, wenn ich andere leiden sah.“ Seine Mutter, ebenso eine Hochsensible, hat früh geahnt, dass auch ihr Sohn besonders wahrnimmt und verarbeitet, und hat ihn geschützt und in seinem Sein bestärkt.
Ich habe das mittlerweile schon so, so oft gehört! Im Nachhinein haben die Kinder es immer gewusst, und die Eltern auch. Irgendwas ist anders. Wenn das stimmt, dann müsste man sich vielleicht als Eltern öfter und schneller „ein Herz fassen“ und sich trauen, mit dem/der Lehrer/In über sein „Bauchgefühl“, dass das eigene Kind irgendwie anders ist, zu sprechen?! Gar nicht so leicht…finde ich. „Hallo. Ich bin Frau Müller. Mein Kind ist irgendwie anders. Vielleicht hochbegabt. Oder hochsensibel. Oder Asperger. Ich weiß es nicht. Aber bitte nehmen Sie Rücksicht.“ Naja…da ist noch Luft nach oben, würde ich sagen.
Wie lernen sie denn, diese hochsensiblen Kinder? Jutta Jorzik-Oels beschreibt anhand einer Leselernmethode, was es heissen kann, vom Ganzen zum Detail zu lernen: „Die andere Methode, sehr umstritten, für normalsensible und normalbegabte Kinder kaum zu bewältigen: Einen ganzen Satz lesen, ohne einen einzigen Buchstaben zu kennen. Und dann Wort für Wort, um erst dann die einzelnen Buchstaben zu lernen: Hochsensible Kinder lernen so am besten und schnellsten lesen.“ Puh! Spannend! Auch Jutta Jorzig-Oels selbst ist hochsensibel. Sie singt in einem Chor. Sie weiß ja um ihre Art zu lernen und weiß, dass es sinnlos ist, sich bei neuen Stücken erstmal ausschließlich ihre Stimme anzuhören, diese zu lernen um anschließend, wenn es sitzt, erst „das große Ganze“ anzugehen. Nein, sie hört sich erst das gesamte Stück an, erlernt das, und dann geht sie zu ihrer Stimme. Vom Großen zum Kleinen. So geht‘s. Für sie.
Benjamin Pick schreibt auf seinem Blog „Ich habe den Eindruck, Hochsensibilität wird vor allem mit Empathie und der emotionalen Sensibilität verknüpft. Wenn man dieses Bild im Kopf hat, wird man die kognitiv Hochsensiblen übersehen – ihre Domaine, die sie tief und intensiv verarbeiten, sind nicht eigene und fremde Gefühle, sondern Ideen und Konzepte!“
Jutta Jorzik-Oels sagt dazu: „Man kann auch sagen: Hochsensible denken radiär. Das heisst, von einem Punkt ausgehend strahlenförmig in alle Richtungen. Es werden zig Querverbindungen hergestellt, assoziiert, frühere Erfahrungen fliessen mit ein. Manche sprechen auch von analogem oder synergetischem Denken.“
Als hätten sie sich abgesprochen, beschreibt Benjamin Pick diesen Aspekt auf seinem Blog so: „Ich will alles durch-denken. Das ganze System, in all seiner Komplexität. Denn die Welt ist komplex. Und es ist doch ganz logisch: wenn ich an einer Stelle eine Stellschraube drehe, muss ich auch woanders etwas verändern, damit es im Gleichgewicht bleibt. Mir ist es wichtig, das große Bild im Blick zu behalten: was ist meine Rolle, was ist unser gemeinsames Ziel, und wie hilft uns die Struktur, dorthin zukommen.“
So, das ist ja mal wieder prima. Wir versuchen also im Rahmen der Inklusion die körperlich und geistig Behinderten zu… zu… ja, zu was eigentlich? Zu integrieren? Also, sagen wir, wir versuchen, sie zu integrieren. In die Klassen, ins Arbeitsleben und in die Gesellschaft allgemein. Dazu kommen natürlich noch die Asperger, die AD(H)Sler, die Diversen, wir machen eine Frauenquote – und jetzt haben wir nach den Savants und Synästheten der letzten Woche also auch noch Hochsensible. Wie soll denn das gehen??
Während ich meine Gedanken kreisen lasse, sehe ich beim Nachbarn im Garten nicht etwa den Nachbarn, aber sowas ähnliches, nämlich seinen Gärtner. Der kennt sich aus! Womit? Mit Pflanzen. Der Baum dahinten braucht eine solche Menge Wasser, der Strauch hier vorne eine andere. Das Gewächs an der Seite muss gedüngt werden, die Pflanzen dadrüben ausgebuddelt und ins Warme gebracht werden. Um die Rose wird ein Band gebunden, damit sie nicht umfällt. Alles zusammen ergibt dank der Kompetenz und der Zeit des Gärtners einen bunten, gesunden Garten.
Lisa kann immer noch nicht lesen, man wird irre. Was stimmt denn nicht mit der? Warum stört denn Lukas schon wieder, immer ruft der rein! Er muss sich jetzt anpassen. Und Levin kommt immer noch aus dem Mustopf, wenn ich ihn nach dem Einmaleins frage. Alles muss man hundertmal erklären, seufz…
Was ich sagen will: Pflanzen wird beim Gedeihen offenbar ein Höchstmaß an Individualität zugestanden, während man die Menschen, vor allem Kinder in der Schule, irgendwie immer noch gleich machen möchte. Ich sage nicht, dass es überall so ist. Besonders an Grundschulen tut sich da nach meinen (natürlich eingeschränkten und sehr subjektiven) Beobachtungen einiges. Aber vom Prinzip gibt es aus meiner Sicht keine ausreichenden Ressourcen, um wirklich die unterschiedlichen Wasser-, Dünge- und Temperaturbedürfnisse der (kindlichen) Menschen zu berücksichtigen. Und wenn man dann in mühseliger 10-,12- oder 13-jähriger Arbeit alle zu einer mehr oder weniger homogenen Gruppe gemacht hat, sollen plötzlich alle wieder alle Rücksicht auf die Individualität nehmen und Diversität leben. Irgendwie schließt sich der Kreis da noch nicht.
Ich komme immer wieder zu dem Schluß: unsere Gesellschaft soll von einem bunten und vielfältigen Garten träumen, in dem sich jeder Jeck ausleben kann. Diversität und Inklusion sind die Schlagwörter unserer Zeit. Ich befürchte, es wird mehr Energie in die vorsichtige Wortwahl als in die Ausbildung der Gärtner investiert.
Zur Hochsensibilität gibt es noch so viel mehr zu sagen! Über die verschiedenen Bereiche, in denen man hochsensibel sein kann, und was Vor- und Nachteile sind, wenn man hochsensibel ist. Und über die Abgrenzung zu und Überschneidungen mit Asperger, ADHS, Hochbegabung, Borderline, Depressionen und vielem mehr. Das alles findet man auf Jutta Jorzik-Oels und Benjamin Picks Blogs, ebenso in ihren Beratungen und Seminaren, und natürlich ist das gesamte WWW voll damit. Ich kann eine der eigenen Zeit angemessene Recherche dazu nur jedem empfehlen!
Ich kann immer nur einen kleinen Ausflug mit Euch machen, in Welten, in denen anders wahrgenommen und verarbeitet wird, in die Welt der menschlichen Vielfalt, die jeder von uns im eigenen Haus oder spätestens vor der Türe hat, und der man neugierig gegenüberstehen kann, wenn man möchte!
Hier mein Blog-Beitrag, aus dem oben zitiert wird: https://benjaminpick.de/2018/09/17/kognitiv-hochsensibel/