Gastbeitrag von Different Planet auf www.Atypical.Life, dem Blog von Anika und Sebastian. Sie sind Eltern eines sog. „Frühkindlichen Autisten“, auch „Kanner Autisten“ genannt. „Asperger-Autisten“ und „Kanner-Autisten“ zeigen oft deutlich unterschiedliche Ausprägungen ihrer Symptome. Anikas und Sebastians Gastbeitrag auf Different Planet heißt „Der Weg ins Spektrum“
Schon früh dachte ich „mein Kind ist irgendwie anders“. Mein Sohn war noch ein Säugling, und ich hatte keine Erfahrung, er war mein erstes Kind. Ich sagte mir dann oft, dass doch alle Eltern ihre eigenen Kinder besonders finden. Das ist nicht nur normal, sondern auch sehr gut so. Jedes Kind ist besonders, und niemand kann das besser sehen als Mama und Papa! Und trotzdem: wenn ich mich mit anderen Müttern ausgetauscht habe, blieb bei mir ab und zu der Eindruck zurück, dass ich entweder was falsch mache, oder dass mein Sohn einfach irgendwie anders ist.
Heute weiß ich, dass mein Großer ein Asperger-Autist ist, und ich sortiere viele Situationen auch von „damals“ unter diese Diagnose. Eigentlich sagt man ja, dass sich Asperger-Autismus erst nach dem dritten Geburtstag zeigt, doch heute würde ich als Mutter sagen, dass man entweder Autist ist, oder nicht. Man kommt als Autist zur Welt, man wird nicht zu einem. Das Gehirn spielt sich ja nicht am dritten Geburtstag plötzlich ein anderes Betriebssystem auf. Dennoch ist eine Art Kategorisierung für mich hilfreich: ich kann gezielte Unterstützung beantragen, zum Beispiel einen Eingliederungshelfer, einen Pflegegrad bei der Krankenkasse beantragen, ich kann mit Schulen sprechen und die Symptomatik handhabbar machen, und wer interessiert ist, kann unter dem Stichwort „Asperger“ im WWW allen Sinn und Unsinn nachlesen.
Wie ist denn jetzt ein Asperger? Weiß ich nicht! „Kennste einen Autisten, kennste einen Autisten“, sagt man so treffend. Autismus ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine „neuronale Verschaltung“. Ich weiß aber, wie mein Sohn ist. Er ist jetzt 12 Jahre alt, und ich habe mittlerweile einen ganz guten Eindruck davon, wie er ist, und was daran vermutlich „Asperger“ ist. Im Gegensatz zu den meisten frühkindlichen Autisten spricht mein Großer sehr gut. Er hat zwar spät begonnen, nach dem zweiten Geburtstag, aber seit dem spricht er hervorragend. Das ist sehr asperger-typisch: ausgefeilte, altkluge Sprache, sehr großer Wortschatz von Beginn an. Er redet auch sehr viel, und zwar immer und permanent über seine Spezialinteressen, auch das ist sehr asperger-typisch. Er sucht sich ein Thema – die Bandbreite ist unendlich: Haie, Fußball, Kochen, Landesflaggen, politische Parteien, Autos… – und das wird in Gänze durchdrungen. Bis ins letzte Detail. Und es wird unaufhörlich vorgetragen. Man lernt sehr viel! Dass der „Urhai“ Megalodon hieß zum Beispiel, und dass in den Pizzateig eine Prise Zucker reinmuss, dass die Flagge von Andorra eine blau-rot-goldene Trikolore ist, und dass irgendein Paul oder John aus der dritten englischen Liga ein Mittelstürmer-Ausnahmetalent war.
Dass Sprache auch eine soziale Komponente hat, das weiß er nicht. Aber er versucht, es zu lernen. Er liebt lernen. Er weiß mittlerweile, dass es Aussagen gibt, die andere verletzen können. Auch wenn, oder gerade WEIL sie die Wahrheit beinhalten. Er weiß es oft erst hinterher, wenn man es ihm gesagt hat. Ich weiß nicht, ob er es versteht – aber er glaubt mir mittlerweile, dass es so ist, und es betrübt ihn dann auch.
Doch er kann Beziehungen aufbauen. Hauptsächlich zu Erwachsenen. Unter Kindern gibt es keine Handvoll, zu denen er eine echte und wirkliche Beziehung hat. Aber die Beziehungen, zu denen er sich entschieden hat, die sind dann sehr intensiv und wichtig für ihn. Dieser Mensch wird dann nahezu aufgesaugt, fast ausgelaugt durch die Intensität der Bindung und der Zuwendung, die er im 1:1 Kontakt nimmt und auch gibt. Ein Wochenende nur mit ihm- das ist eine Wohltat für die Seele. Wir gehen ins Kino und zum Essen, wir beschäftigen uns mit seinem aktuellen Spezialinteresse, schlafen so spät wie möglich und haben keine weiteren Sozialkontakte. Eisverkäufer ausgenommen! Diese Tage sind unendlich kraftraubend und wirken doch wie eine Vollbetankung, weil er jede verfügbare Ressource nur auf dich verwendet.
Was ist denn schwierig? Der normale, neurotypische Alltag ist schwierig. Abläufe, vor allem abends, müssen eingehalten werden. Wir gehen nicht mal einfach so abends aus, wenn am nächsten Tag Schule ist. Denn meistens ist er dann noch wach, wenn wir kommen. Er wartet unruhig. Auch die geliebteste „Baby“sitterin kann dagegen nicht an. Er muss jeden Tag auf seinem Zettel nachlesen, dass er seinen Ranzen packen muss, und er kommt jeden Morgen ohne ihn runter zum Schuhe anziehen. Die natürlich keine Schnürsenkel haben, sondern Klettverschlüsse. Dann hole ich seinen Pullover, denn dass es kalt ist, merkt er nicht. Ich habe auf seinen Zettel nicht geschrieben, dass er eine Federtasche einpacken muss, also ist sie auch nicht drin. Handlungsplanung: Fehlanzeige. Es ist nicht schlimm. Ich weiß Bescheid. Und an manchen Tagen geht er halt ohne Pullover, ohne Brotbox und ohne Federtasche. Davon geht die Welt ja auch nicht unter.
Und wir haben auch nicht so einen großen „sozialen Kreis“, der aus anderen Familien besteht, mit denen die Wochenenden oder Ferien einfach mal so „ganz locker“ verbracht werden. Das bedarf einiger Planung und Überlegungen: wer kommt da, was wird dort gemacht, gibt es Struktur, oder laufen alle wild durcheinander, wird es laut sein oder leise, sind unserem Großen die Gesichter bekannt, und wird er dort irgendwas zu tun haben? Es ist eben alles ein bisschen „fester“, inflexibler und nicht spontan. Ist das manchmal doof? Ja! Aber bekommen wir dafür etwas zurück, was unersetzlich ist? JA! Und dieses Unersetzliche lieben wir so sehr, wie wir auch seinen Bruder lieben, und so sehr, wie alle Mamas und alle Papas ihre unersetzlichen Geschenke lieben!
Liebe K., das war eine richtig gute Idee, einmal ein Gastbeitrag zu veröffentlichen. Allerdings war es (für mich) gar nicht so einfach, nach dem Gastbeitrag, deinen Blog zu finden.
Du hast mit deinen Details wieder einmal leicht verständlich aufgezeigt, wie speziell und doch vielfältig die Symptome und Verläufe sind.
Weiter so liebe Grüße, dein Papa