WELCHE HILFE LEISTEN SCHULHELFER/INNEN?
„Naja…so ein bisschen wird die ja schon mithelfen“ – das ist ein Satz, den ich in Bezug auf die Schulhelferin meines Großen oft höre.
Stimmt das? Nicht ganz. Die hilft nämlich nicht ein bisschen, die hilft ganz viel!
Was macht die denn nun den ganzen Tag? Braucht dieses 12jährige Kind wirklich einen Babysitter, der den ganzen Tag neben ihm sitzt und ihn bedient? Ist ja wohl klar, dass er so unselbständig bleibt. Und kommt er sich dabei nicht komisch vor?
Es ist so unglaublich schwer, sich als neurotypischer Mensch in das Gehirn eines Autisten zu versetzen. Das weiß ich am besten. Nicht mal als Mutter bekomme ich das nach 12 Jahren hin. Und die Fragen da oben – die hab ich mir anfangs auch ganz oft gestellt.
Doch grade was die Schulhilfe angeht, bin ich mittlerweile ganz fit, denn die erlebe ich nicht nur seit zweieinhalb Jahren, ich erkläre es seit dem auch permanent. Und: ich lasse es mir auch immer wieder erklären, nämlich von der Schulhelferin. Und ich höre ihr auch gut zu, wenn sie es anderen erklärt: Ämtern, Diensten, Lehrern, Schülern, Eltern. Das muss man nämlich ständig, weil man Gelder für die Finanzierung beantragen muss, und weil mein Sohn ja auf eine „normale“ Schule geht, und es nur verständlich ist, dass man dort erstmal aufklären muss. Zumal Autismus ja gemeinhin als „unsichtbare Behinderung“ beschrieben wird. Man bemerkt erstmal nichts, denn mein Großer hat zwei Arme und zwei Beine, er ist weder blind, noch taub.
Was also tut sie, die Schulhelferin?
Es beginnt damit, dass unser Großer – wie eigentlich alle Autisten- eine Vertrauensperson in größeren sozialen Gruppen benötigt. Um es mit den Worten der Psychiaterin, die das Gutachten angefertigt hat, zu beschreiben „in größeren sozialen Gruppen führt diese (Anm.: Autismusspektrumsstörung) jedoch zu einer emotionalen Dekompensation…“ Um es mit meinen Worten zu sagen: stünde sie morgens nicht vor dem Schulgebäude, würde er sich gar nicht reintrauen. Zu groß wäre das Risiko, vor lauter Reizen den Überblick zu verlieren, sich zu verlaufen und in Panik auszubrechen.
Ebenso fällt es den allermeisten Autisten sehr schwer, einen Handlungsplan zu entwickeln. So auch bei meinem Sohn. Und – um wieder das Gutachten zu zitieren – diesen und die sog. „zentrale Kohärenz“ ohne Unterstützung herzustellen, ist ihm kaum möglich, besonders dann nicht, wenn er durch äußere Reize (Stimmen, Lichter, Gerüche) schon beeinflusst ist. Um wieder meine Worte zu nutzen: er registriert jedes Puzzleteil, kann diese aber nicht zu einem großen Bild zusammenzufügen. Also sorgt die Schulhelferin dafür: wir sind jetzt im Musikraum, der Lehrer steht da vorne, und Du benötigst jetzt in diesem Moment deinen Musikhefter. Der Unterricht beginnt. Das ist das Bild, das all die Dinge, die Du wahrnimmst, für uns Neurotypen ergibt.
Die Ursache liegt hier nicht in einer geistigen Unterentwicklung, sondern in einer „Verschiebung“ der Wahrnehmung. Während wir aus allen Details ein Gesamtbild erkennen und daraus eine Handlung für uns ableiten, fokussiert er jedes Detail für sich: das Licht ist heller als im Flur, Paul raschelt an seinem Ranzen herum, die Tische stehen nicht in einer Reihe, es riecht nach Leberwurstbrot, an der Leiste fehlen drei Kacheln, die zweite Lamelle am Vorhang ist verdreht, letzte Woche stand hier noch eine Trommel, an der Decke leuchten vier Reihen à sechs Spots.
Nun beginnt der Unterricht. Mein Sohn Ist ein Lehrbuch-Asperger: Alles oder nichts. 150% oder gar nicht. Für mich unvorstellbar, dass man die Schule besucht, um wirklich etwas zu lernen, und nicht, um sozial zu interagieren (= Freunde finden, gemeinsam Abhängen und so) Für ihn ist es umgekehrt unvorstellbar. Jedenfalls läuft er ab Minute eins auf Hochtouren. Reizbewältigung, zuhören, denken, melden, sprechen, “oh Gott, jemand anderes wurde rangenommen und wusste auch noch die richtige Antwort, Katastrophe!” – alles gleichzeitig. Er beginnt, auf seinem Stuhl zu hibbeln, seine Kleidung anzukauen, unregelmäßig zu atmen. Im Gutachten heisst es dazu: “…und einem verstärkten Auftreten der Grundstruktur bei nicht mehr vorhandener Anpassungsstrategie.” Jetzt ist die Schulhelferin wieder gefragt. Sie sitzt ein Stück hinter ihm, sie stärkt ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Rücken. Sie legt ihm die Hand auf die Schulter. Er registriert sie und kommt langsam wieder etwas runter.
Jetzt werden die Intrumente gespielt. Ein wildes, lautes Durcheinander. Zu viel für meinen Sohn. Die Schulhelferin merkt es im rechten Moment, schnappt ihn, nickt dem Lehrer zu, und sie gehen raus. Einfach mal die Flure langgehen, zehn Minuten Auszeit. Gleich geht es wieder, dann gehen sie zurück. Später wird die Schulhelferin den Lehrer fragen, ob sie irgendwas verpasst haben, vielleicht eine Aufgabe, die bis zur nächsten Musikstunde erledigt werden soll?
Als nächstes sollen Noten von der Tafel ins Notenheft abgeschrieben werden. Jetzt wird es echt schwierig. Die Tafel ist doch viel größer als das Notenpapier! Wie hängt denn das zusammen? Die Tafel sieht doch auch ganz anders aus! Allein die Form der Tafel ist ganz anders als mein Papier. Wo fängt man nochmal an – oben rechts??
Zum Glück ist die Schulhelferin ja da. Sie schnappt sich das Notenpapier und überträgt das Tafelbild. Nachher werden sie nur eine kurze Mittagspause machen, und dann wird sie ihm erklären, was sie da übertragen hat. Üben muss er es dann zu Hause. Kein Problem. Während alle schreiben, erhält er ein separates Übungsblatt, damit er was Sinnvolles tun kann.
Das Schreiben ist eh so eine Sache. Mein Großer hat so eine typische Asperger-Schrift. Große, zackige Buchstaben. Sie hüpfen auf den Zeilen herum, manchmal fallen sie übereinander her, oder nur ein Buchstabe verselbständigt sich und springt irgendwo aufs Blatt. „Dyspraxie“ haben 80-90% aller Asperger. Der Körper macht nicht, was er soll. Viele haben eine richtige motorische Einschränkung. Unser Sohn ist in seiner Grob- und Feinmotorik stark eingeschränkt. Für das Gutachten ist auch das getestet worden. Die Skala beginnt bei einem Punkt, der Normbereich bei sieben. Mein Großer hat bei Grob- und Feinmotorik einen Punkt. Er strengt sich wirklich an, aber das Schreiben bleibt eine unglaubliche Qual. Auch für die, die es lesen sollen. Deswegen schreibt die Schulhelferin alles. In Diktaten durfte er bisher in Lückentexten beweisen, dass er die Wörter, die überprüft werden sollten, beherrscht. Das kann er durchhalten. Dazu hat er ja auch all die Jahre Ergo- und Lerntherapie gemacht.
Aufsätze hat die Schulhelferin bisher geschrieben. „Hilft sie da nicht doch immer ein bisschen mit?“ Bestimmt. War aber auch egal, denn er war von der schriftlichen Benotung freigestellt. Da kann sie bei „nämlich“ das „h“ gleich weglassen. Den Inhalt hat unser Großer geliefert. Der wurde auch benotet. In Englisch ist die Lehrerin oft mit meinem Sohn nach nebenan gegangen und hat ihn abgefragt. Man kann ja auch mündlich buchstabieren.
Wie immer, wenn einer Extrawürste bekommt, fragen alle, ob das gerecht sei. Zu recht! Aber man kann ja nicht einem Kind die Schulbildung verweigern, weil es nicht schreiben kann. Ob es nun keine Hände hat, oder eine motorische Behinderung. Man wird einen Gehbehinderten ja auch in Sport entweder nicht benoten, oder zumindest anders. Und man wird ihm sicher nicht ständig eine Verspätung ins Klassenbuch eintragen, weil er aufgrund seiner Behinderung die Raumwechsel nicht in der Zeit schafft. Und einem sehbehinderten Kind wird man auch die Sehhilfe nicht deswegen wegnehmen, weil die anderen Kinder auch keine haben. Und manche Kinder haben Eltern, die zu Hause mit gutem Willen und tollen digitalen Endgeräten ihren Kindern helfen, die Referate zu erstellen, andere nicht.
So war das alles in der Grundschule. Jetzt, auf der weiterführenden Schule, wird es etwas komplizierter. Aber es wird einen Weg geben. Inklusion ist ja gewollt. Sagt man. Sie ist nicht leicht umzusetzen, aber wenn alle an einem Strang ziehen, wird sich schon ein Weg finden.
(Mindestens) eine Frage blieb bisher unbeantwortet: stört es ihn denn gar nicht, dass ihn jemand den ganzen Tag unterstützen muss? Dass er irgendwie schon dadurch auffällt, dass ein Erwachsener bei ihm sitzt? Nein – tut es nicht. Wir haben ihn schon öfter dazu befragt. Er kann sich nicht vorstellen, dass das jemand merkwürdig findet, denn er würde es ja auch nicht merkwürdig finden. Das ist Autismus, das ist sein Vorteil. „Soziale Naivität“ nennt man das. Wird leider oft ausgenutzt. Aber das ist wieder ein anderes Thema…
Liebe K., Das hast du wieder einmal großartig beschrieben was es bedeutet, Voraussetzungen, Aufgabe, Sinn und die Bewältigung der Anforderungen einer Schulehelferin zu vermitteln. Der zentrale Satz war für mich der Vergleich der körperlichen mit der motorischen Behinderung. Du hast recht.
Wie fast immer bei deinen Beiträgen, habe ich meinen Enkel durch diese Ausführungen wieder noch besser kennen gelernt.
Dein Papa