Es ist ein herrlicher Samstag im Frühsommer. In der Sonne ist es bereits schön warm, aber meistens ziehen Wolken an ihr vorbei, und der Wind pustet recht stramm.
Als echte weibliche Frostbeule laufe ich draußen mit Jeans, T-Shirt, leichtem Pullover, der beliebten „Übergangsjacke“ und sicherheitshalber einem warmen Tuch für Hals und Schultern durch die Gegend. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich am liebsten eine Mütze…
Neben mir läuft mein Großer. In sommerlicher Hose und kurzärmeligen T-Shirt. „Ist dir nicht kalt?“ „Nein! Ich find‘s total warm“
Er findet es IMMER total warm.
Kurz drauf stehen wir an einem brandenburgischen See. Es ist kalt, aber herrlich. Die Jungs kicken mit einem Ball, ich wärme meine Hände an denen meines Mannes. Versehentlich oder nicht rollt der Ball in den See – war ja klar. Mein Großer zieht heldenhaft Schuhe, Socken und die Hose aus und holt den Ball zurück. 10 Minuten später ist er komplett nackt und badet im See. Ich glaub, ich spinne! Wenn ich auch nur einen Tropfen abbekomme, erfriere ich. Das Wasser hat höchstens 15 Grad und er BADET?! Und findets natürlich: total warm.
Soweit, so gut. Diese unterschiedlichen Empfindungen gibt es überall. Mein Großer ist da dennoch sehr speziell. Die Wahrnehmung körperlicher Reize läuft bei ihm irgendwie anders. Wenn er morgens die Sonne sieht, zieht er halt eine kurze Hose und ein T-Shirt an. Es ist noch nicht lange her, dass ich ihn – bereits draußen wartend – wieder ins Haus zum Umziehen geschickt habe. Denn dass es sich in Wirklichkeit um einen klirrend kalten Februar-Morgen mit -6° Celsius gehandelt hat, wusste er nicht nur nicht, er FÜHLTE es auch nicht, als er aus dem Haus trat. Er fand’s „total warm“. Dass ich nebenbei bemerkt in antarktistauglicher Montur da stand, fiel ihm offenbar auch nicht auf.
Das sind natürlich lustige Momente.
Schwieriger sind die Tage, an denen er weinend und verzweifelt vor dem Kleiderschrank steht und jedes erdenkliche Teil auf seiner Haut schmerzt. Alles kratzt, alles brennt, jedes Stückchen Stoff löst nicht nur Unbehagen, sondern echten Schmerz aus. Ich weiß nicht, warum es manchmal so ist, ich weiß nur, dass dann nur noch eine Pause hilft. Ihn sich Beruhigen lassen, bloß nicht in den Arm nehmen oder sonst wie berühren, Ruhe reinbringen. Irgendwann finden wir schon etwas zum Anziehen. Dann kommt er heute eben zu spät zur Schule.
Warum kann er das blaue Shirt an einem Tag vertragen, und am anderen nicht? Weshalb sind Neuanschaffungen IMMER kratzig und müssen zurückgebracht werden? Was quält ihn manchmal so, dass der Körper reagiert?
Allerdings: Es ist schon viel, viel besser geworden. Ich glaube, dass die Ergotherapie, zu der er lange gegangen ist, hier sehr geholfen hat. Die Therapeutin hat viel an diesem „Problem“ (= Sensomotrische Integrationsstörung) gearbeitet. Sein liebstes Spiel dort war „Pizza“. Dabei lag er platt auf einer Matte, und die Therapeutin hat ihn mit allen schweren Kissen bedeckt, die es gab, außerdem mit den gefüllten Therapiedecken und -matten. Und am Ende hat sie sich selbst noch oben drauf gelegt. Er fand es herrlich! Noch heute liebt er es, wenn mein Mann sich komplett ungestützt auf ihn legt und am liebsten dazu noch abkitzelt. Ich glaube, dann spürt er seinen Körper so richtig. Eine Zeitlang hat er auch unter einer dieser schweren Therapiedecken geschlafen. Aber mittlerweile müsste die für ihn so schwer sein, dass es eine Spezialanfertigung wäre…
Auch beim Thema Sättigungsgefühl ist mein Großer ein echter Lehrbuch-Asperger: Asperger sind wohl häufig entweder sehr dünn oder etwas kräftiger, weil sie Hunger und Sättigungsgefühl nicht richtig spüren. Schon sehr früh konnte er unglaubliche Mengen essen. Einerseits scheint er die Sättigung nicht zu spüren – was für (kleine) Kinder ja sehr ungewöhnlich ist – andererseits ist es ja auch ein sehr starkes Gefühl, wenn man viel zu viel gegessen hat. Als Erwachsener weiß man, wie sich das anfühlt. Man spürt Teile seines Körpers dann unter Umständen sehr intensiv, und sei es nur die Magenwand…
Natürlich haben das auch andere Kinder, aber soweit ich weiß, ist das im „Autismus-Paket“ immer automatisch mit dabei.
Mit sechs Jahren interessierte sich mein Großer sehr für das Tauchen. Er wusste – klar – alles darüber, inklusive Apnoetauchen, was ihn besonders faszinierte. Er lag mir damals ewig in den Ohren, dass er tauchen lernen möchte. Das WWW sagte mir zunächst, dass man erst ab 12 Jahren mit Tauchgängen beginnen kann. Da aber steter Tropfen den Stein höhlt, habe ich weiter rechcherchiert und irgendwann eine Tauchschule auf Mallorca gefunden (wo wir eh hinfuhren), die Kinder bereits ab acht Jahren zum Junior Scuba Tauchschein führt. Als er endlich acht war, sind wir also dort vorstellig geworden, und er liebte es! Das Gefühl der Schwerelosigkeit und gleichzeitig der Wasserdruck von außen – das muss unglaublich für ihn gewesen sein, fast rauschartig.
Für mich auch. Es gehört zu meinen größten Horrorvorstellungen, mich in einen feuchten Neoprenazug zu zwängen, um dann mit ca. 40 kg Ausrüstung und einer Atemmaske einfach unter der Oberfläche zu verschwinden. Der Moment, in dem mein Achtjähriger erstmalig plötzlich ins Nichts abtauchte, ich ihn nicht mehr sah und gesagt bekam, man würde ihn in ca. 1 Std. wieder heile an die Oberfläche bringen, hat auch mich in einen Rausch versetzt. Aber vor Angst. Mir blieb in dem Moment nichts anderes übrig, als zu vertrauen.
Er ist wieder heile auf- und auch danach noch häufig abgetaucht. Eines Tages jedoch wurde das Spezialinteresse „Tauchen“ vom Spezialinteresse „Fussball“ abgelöst. Nun wird das exzessiv praktiziert– bis die Füße und die Knie schmerzen, bis er Wadenkrämpfe und aufgeschlagene Ellbogen hat. Bis er den Körper richtig spürt.
Für mich war es toll, ihn beim Tauchen so kompetent zu erleben: er hat seine Ausrüstung sorgfältig vorbereitet, sehr gut zugehört, kannte alle wichtigen Handzeichen und war theoretisch auf alle Eventualitäten vorbereitet. Noch nie zuvor ist in unserer Familie jemand getaucht, und er hatte bereits mit sechs Jahren beschlossen, einen Tauchschein zu machen, den er dann mit acht tatsächlich in den Händen hielt. Er hat sich von diesem Vorhaben nicht abbringen lassen. Sowas beeindruckt mich. Ich weiß, ich wiederhole mich: ich bin stolz auf ihn.