…und die Angst vor der Angst
Ich bin ja jetzt auf Instagram – gehört sich so als Bloggerin, dachte ich mir. Abonniert habe ich dort ein bisschen Querbeet, vor allem aber viele, die auch mit anderen Kindern leben oder selbst anders sind.
Eine Asperger-Mutter schrieb dort vor ein paar Tagen, dass sie am Wochenende erfolgreich als Familie einen Tierpark besucht haben. Nicht lange, aber immerhin. Keine großen Probleme, kein Meltdown*, alles irgendwie prima.
Sie war zu recht sehr glücklich und stolz. Ich habe mich mit ihr gefreut, und ich schrieb ihr dann, dass auch wir einen erfolgreichen Wochenend-Ausflug verbuchen können. Meine zwei Jungs und ich waren nämlich bei Freunden „auf dem Land“. Abgesehen davon, dass das Setting ein Traum war, hat einfach alles gut geklappt.
Komisch, denke ich bei mir. Was meine ich denn damit? Was war denn „erfolgreich“ und hat „gut geklappt“?
ICH hab gut geklappt, ist mein nächster Gedanke. (Ja, kann ich denn auch nicht klappen??)
Ich hatte keine Angst, schießt es mir als nächstes durch den Kopf.
Angst?? Wovor hatte ich keine Angst? Und wovor habe ich denn sonst Angst? Und da fällt mir ganz viel wie Schuppen von den Augen…
Schon IMMER war mit meinem Großen vieles anders. Es gab keine gemütlichen Besuche im Café mit anderen Muttis, weil er einfach nicht café-tauglich war. Never ever hat oder hätte er neben meinem Café-Tisch in seinem Wagen gelegen und geschlafen, oder fröhlich mit seinen kleinen Füßchen gegen seine Kette gestrampelt. Never ever hat oder hätte er die Geräusche, das Licht, die Gerüche, all die Reize so ertragen, dass der Besuch eines Cafés für mich in Ruhe möglich war. Und beim kleinen Bruder war es eigentlich genauso. Und ich habe es versucht! Bis heute gucke ich neidvoll auf die gemütlichen Mamas-im-Café-Runden. Die wirken so irritierend leicht und selbstverständlich. Heute weiß ich, dass es nicht meine „Schuld“ war, dass das mit uns nicht ging. Aber damals hab ich mich gefragt, was ich so falsch mache.
Um wieder in die Gegenwart zu kommen: wovor habe ich denn nun Angst?
Ich stehe offenbar unter der permanenten Grundanspannung, dass ein Ausflug oder eine Situation nicht klappt, weil bei meinem Großen dabei zu viele „Trigger-Punkte“** gedrückt werden. Und das ist ja richtig so! Bisher war mir das nur nicht klar, und diese ängstliche Gedankenschleife lief total unbewusst und automatisch mit. Werden zu viele Trigger-Punkte gedrückt, kann es jederzeit zum Overload und auch zum Meltdown kommen, und diese Situation habe ich dann nicht mehr im Griff. Und das macht mir Angst.
Es gibt genügend Beispiele. Einmal gab es an Bord unserer heute nicht mehr existierenden Stamm-Airline nicht mehr das „Kids Menue“. Nachdem bis dahin schon so viele Punkte gedrückt waren (Stress beim Packen, Stress auf dem Weg zum Flughafen, Lichter, Laute, viele Menschen, alles total wuselig, angespannte Eltern…), war das das i-Tüpfelchen. Mein Großer hat nicht geweint, er hat geschrien, all seine Verzweiflung kam heraus, es war grauenhaft. Wären wir nicht in der Luft gewesen, sie hätten uns rausgeworfen.
Von meiner großartigen Idee, mit mehreren anderen (um genau zu sein ca 20 Tausend) zu einem Taschenlampenkonzert zu gehen, möchte ich gar nicht reden. Wir haben keine drei Minuten erlebt… Overload. Meltdown. Ab nach Hause. Schnell!
Und der kleine Bruder hatte als Säugling mehrere Meltdowns, da bin ich mir heute sicher. Das war kein normales Weinen und Schreien, das waren jeweils komplette Überreizungen, das wusste ich schon damals. Heute habe ich Worte wie Overload oder Meltdown dafür. Ändert aber an der Sache nichts.
Das alles schult! Es schult die Vorsicht, die Angst und die Angst vor der Angst. Die „Zweite Gedankenschleife“ läuft immer im Hintergrund mit: wo lauern die Trigger-Punkte? Kann ich sie vorhersehen? Kann ich sie umgehen? Und was mache ich, wenn es doch passiert?
Ich habe – meistens instinktiv, manchmal ganz bewußt – schon so viel NICHT gemacht, aus Angst, es könnte eine Situation entstehen, die ich nicht in den Griff bekomme. Ich habe Feiern, Urlaube und normale „Zusammenkünfte“ mit Freunden oder der Familie nicht stattfinden lassen, weil die „Zweite Gedankenschleife“ nach der Analyse „nein“ gemeldet hat.
Auszüge aus der Analyse
„Wie kommen wir dahin, wer wird da sein, viele Kinder?, hoffentlich kleinere, was gibt es zum Essen, wird es wuselig, wird es laut, gibt es räumliche Rückzugsmöglichkeiten, was werde ich zu tun haben, werde ich mitbekommen, wenn es meinem Großen zu viel wird, wird der Kleine Spielpartner finden, so dass ich mich im Notfall um meinen Großen kümmern kann, kann mein Mann mit dabei sein, sind Ortswechsel vorgesehen, wird es spontane Planänderungen geben? Wenn wir da sind: ist alles so, wie ich es gesagt habe, gibt es das angekündigte Essen, wenn nicht: jetzt sagen, wann gibt es essen, eine möglichst genaue Zeitangabe ist wichtig, nicht „werden wir sehen“ sagen, was hab ich nochmal gesagt, wie lange wir hier bleiben werden, ist das realistisch, wenn nicht, jetzt sagen, neue Zeitangabe machen, nicht „werden wir sehen sagen“, hat mein Großer einen Platz gefunden und jemand, der für ihn da ist, gibt es vielleicht sogar jemand, der sich für sein momentanes Spezialinteresse erwärmen kann, wie guckt er denn, macht er viele Selbstregulationsbewegungen, ist Stress im Anmarsch, kann er sich irgendwo hinsetzen und was essen, dann kommt er immer zur Ruhe, wie ist eigentlich der Kleine drauf, findet der einen Spielpartner, kann ich mich notfalls um den Großen kümmern, oder spielen die Zwei vielleicht mal zusammen, hoffentlich streiten die nicht sofort, das bekommt der Große jetzt echt nicht hin, er hüstelt und hüpft ja schon permanent, das kann ich jetzt auch nicht abfedern, am besten trenne ich sie direkt von einander…“
Bis zu diesem Instagram Post, auf den zum Glück so viele reagiert und von ihren gleichen Erfahrungen dazu berichtet haben, hab ich mir die „Zweite Gedankenschleife“ gar nicht recht bewusst gemacht. Ich wusste zwar, dass da irgendwas bei mir „komisch“ läuft, und ich habe mir oft überlegt, ob ICH den Stress vielleicht überhaupt erst verursache?! Vielleicht bin ICH das eigentliche Problem?! Jetzt denke ich eher, dass es doch eine Reaktion auf die Besonderheiten ist, und dass meine Freundin „die Schleife“ aus gutem Grund existiert.
So langsam wird mir klar, warum ich abends so erschöpft bin, warum Ausflüge so anstrengend sein können, warum auch der Besuch der Stammpizzeria so unglaublich schief gehen kann, und warum ich abends – und manchmal auch am Tage- einfach nicht mehr kann. Weil IMMER diese Gedankenschleife im Hintergrund rattert. Wie bei einem Computer, bei dem im Backend immer noch ein Programm geöffnet ist – der muss auch schon nachmittags mal ausgeschaltet werden, anstelle von abends (soweit ich weiß)
Und ich halte für mich jetzt einfach mal fest: es ist ok, wenn ich (instinktiv) soziale Situationen meide. Mein(e?) Kind(er?) ist (sind?) anders. Und darauf reagiere ich nunmal. Das tun andere auch. Die haben auch die Gedankenschleife. Es ist richtig und wichtig!
Vielleicht sage ich manchmal zu voreilig nein. Vielleicht wäre es doch gut gegangen! Vielleicht hätte alles super geklappt, und wir hätten einen tollen Ausflug/Urlaub/sonstwas gehabt. Aber nur vielleicht. Es gibt Tage und Situationen, an denen rufe ich laut „Ja! Da kommen wir mit!“ und bin dann in der Lage, zu sehen, was passiert. Und es gibt Tage, da habe ich einfach Angst. Vor mir. Dass ich es nicht kann. Dann sag ich „nein. Wir kommen nicht mit“ und bin vielleicht traurig, weil ich es nicht mal versucht habe.
Und es gibt Ausflüge, die gehen einfach richtig gut. Wie am letzten Wochenende. Da gelingt einfach alles. Vielleicht Zufall? Vielleicht. Vielleicht aber auch, weil die Besuchten so wunderbar waren, wie sie es nun einmal sind. Oder weil ich vertraut und durchgeatmet habe. Vielleicht, weil ich so war, wie ich war. Heute bin ich einfach mal stolz auf MICH.
* ein Meltdown wird eine eine Art Zusammenbruch, oder kompletter emotionaler Ausbruch genannt. Er entsteht als Folge eines sog. Overloads. Dieser entsteht, wenn zu viele Reize gleichzeitig einprasseln. Durch die verminderte Fähigkeit, die Reize zu filtern, kommt es zur „Überladung“. Wenn diese nicht reguliert werden kann, kommt es zum sog. Meltdown.
** diesen Ausdruck benutzte die Mutter auf Instagram. Ich finde, er passt gut und habe ihn hier übernommen
Ich bin auch stolz auf Dich! Aber nicht nur heute, sondern jeden Tag!
Ich glaube, dass ist das größte Problem. Die vorsorgliche soziale Isolation. Ich bin froh, wenn man sich manchen Situationen nicht mehr aussetzen muss, aber manchmal wünscht man sich schon einen ganz normalen Besuch im Café.
Mit Sehnsucht, aber lieben Grüßen
Carmen