Warum Autisten manchmal gar nicht autistisch wirken
Anna ist 15 und geht aufs Gymnasium. Sie ist das, was man bis vor einiger Zeit „Asperger“ oder „hochfunktionale“ Autistin nannte. Jetzt sagt man einfach „Autistin“. Sie spricht, sie ist kontaktfähig und sie hat keine Intelligenzminderung. Sie kennt ihre Diagnose seit sieben Jahren. Ihr Autismus ist ein Teil von ihr. Nicht der wichtigste, aber eben doch ein Teil ihrer Identität. Sie weiß, dass sie sich deswegen manchmal so fremd unter Leuten fühlt und dank dieses Wissens kann sie mit vertrauten Menschen darüber reden, mit ihrer Inklusionshelferin soziale Situationen üben und dank ihres Schulhelfers eine reguläre Schule besuchen. Das wollte sie immer: Dazugehören. Um jeden Preis!
Am Anfang in Kindergarten und Schule kam sie sich fremd vor. Sie war irgendwie nicht Teil der Gruppe. Unsicher und zurückgezogen war sie. Dabei wollte sie doch so sehr dazugehören. Dann lernte sie- von den anderen. Sie verstand zunehmend die sozialen Regeln. Sie hatte Freundinnen und alles so gemacht wie die- Das war super! Alles klappte, sie gehörte dazu, ein tolles Gefühl.
Auch jetzt, mit 15, will sie dazugehören. So sein wie die anderen. Ein paar ihrer Klassenkameraden fragen sie, ob sie mit in die Schulmensa kommt. Ja! Unbedingt! Vor allem, weil Leo mitkommt, der Junge aus der Parallelklasse. Den findet sie nett. Er sagt „ich muss noch meinen Mantel holen“. Sie wartet. Als er zurückkommt, trägt er einen Parka. Er wollte doch seinen Mantel holen! Sie ist total verunsichert. Weiß er denn nicht, was ein Mantel und was ein Parka ist? Oder hat er gedacht, er hätte seinen Mantel dabei? Oder findet er seinen Mantel nicht und hat sich den Parka jetzt von jemandem geliehen? Soll sie ihre Hilfe beim Suchen anbieten? Sie ist innerlich total unruhig- Kann er so jetzt in die Mensa gehen?? Zum Glück sagt er: „wollen wir gehen?“ Puh. Sie hat zwar keine Ahnung, was jetzt mit seinem Mantel ist, aber das verdrängt sie. Zu ihrer Erleichterung stehen für heute „Nudeln mit Tomatensauce“ auf dem Speiseplan, das hat sie gleich heute Früh geguckt, wie immer. Die gibt es hier öfter. Sie kennt das richtige Ausgabefenster, sie ist mit dem Geruch, dem Aussehen, dem Geschmack und der Konsistenz vertraut. Ihr Körper reagiert auch gut auf das Gericht. Sie entspannt sich auf dem Weg. Alles wieder unter Kontrolle. In der Mensa plötzlich ein Schild: „Freut euch – Heute Bolognese statt Tomatensoße“. Oh nein! Wie riechen die? Wie sieht die Sauce aus? Wird sie mit der Konsistenz zurecht kommen? Wie reagieren denn die anderen?? Sie WILL dazugehören und sie WIRD dazugehören! Die anderen sind hoch erfreut! „Geil Alter, Bollo ist mein Leibgericht“ hört sie Karl sagen. Ina sagt: „Boah, zum Glück Bolognese!“ Auch Leo strahlt. Okay. Durchatmen. Die Planänderung wirst du überleben, denkt sie sich. Sie sagt „Bolognese ist cool“. Leo nickt begeistert. Anna ist sich sicher, dass sie das richtige gesagt hat. Sie gehört dazu. Gut gemacht! Beim nächsten Mal wird es nicht mehr so schlimm sein.
Ein paar Wochen später werden sie und Leo richtige Freunde sein. Er wird sie fragen: „Wieso hast du eigentlich einen Schulhelfer?“ Und sie wird antworten „Ich bin Autistin. Er hilft mir“. Er wird sagen: „Digga! Echt jetzt? Du wirkst voll normal!“. Noch ein paar Monate später werden sie häufiger zusammen sein. Sie wird sich angewöhnen, Leo zu vertrauen und ihm Teile ihres autistischen Erlebens offenbaren. Gut, dass sie die kennt! Wenn sie ins Kino gehen, wird sie ihn bitten, wirklich den geplanten Bus zu nehmen. Nicht einen später. Und dass sie die Karten vorher bestellen, damit sie sicher ist, dass alles klappen wird. So kann sie ihre Kompensations-Kraft für die Busfahrt und die Vorstellung aufheben, für all die Menschen, Gerüche und Geräusche. Und Leo wird ein bisschen mehr Vorausplanung gar nicht so schlecht finden. Der geplante Bus fällt natürlich aus. Der Unterschied ist: Leo zuckt mit den Schultern und wartet in Ruhe auf den nächsten. Anna wartet auch auf den nächsten. Vielleicht zuckt sie sogar mit den Schultern, weil man das so macht. Aber nicht in Ruhe. Sie erlebt inneres Chaos, sie ist unruhig. An manchen Tagen hat sie Kraft, um wenigstens ruhig zu wirken. Dann nimmt sie Leos Hand und atmet durch. An anderen steht sie auf und läuft 100 Schritte. 50 in die eine. 50 in die andere. Dann geht’s wieder. Sie weiß, wie sie sich ausgleichen, wie sie kompensieren kann.
Paul ist 10. Sein Vater sagt: „Hol mal bitte noch schnell deine Mütze, die liegt auf dem Board“. Er sucht und sucht und findet sie nicht. Papa kommt. Er nimmt sie von der Kommode. „Man, Paul! Hast du Tomaten auf den Augen??“ Paul steigen die Tränen auf. „Papa! Das ist kein Board! Das ist eine Kommode! Wie soll ich diese scheiss Mütze finden, wenn du mir sagst, sie liegt auf dem Board?“ Papa motzt zurück „Ey- du solltest deine Mütze holen. Die lag direkt hier, und ob das für dich ein Board oder eine Kommode ist, ist ja wohl egal. Wir haben es eilig und du kannst mit 10 deine Mütze nicht alleine holen!“ Paul fängt an zu weinen. „Das ist so ungerecht! Ich wollte es richtig machen und jetzt schimpfst du so! Es IST wichtig, was ein Board und was eine Kommode ist!“ Papa erinnert sich daran, was er über Autismus gelernt hat. Solche unpräzisen Angaben können seinen Jungen zutiefst verunsichern. Seine innere Ordnung ins Wanken bringen. Wenn ein Board auch eine Kommode sein kann, was kann dann noch alles geschehen? Er kann es nicht nachempfinden, aber er versucht, es sich zu merken.
Paul geht tapfer in die Schule. Es kostet viel Kraft. Er weiß, dass solche Diskussionen wie mit Papa heute Früh bei den anderen nicht ankommen. Manche nennen seinen Ranzen eine Mappe. Sein Hefter kann manchmal auch ein Ordner sein. Von Zeit zu Zeit tauschen sie in der Klasse die Sitzplätze. Er versucht, seine Reaktionen auf solche Situationen, in denen seine innere Ordnung einen Schubs von Außen bekommt, nicht so stark zu zeigen. Er versucht zu lernen, wie „man“ sich verhält und mitmacht. Er hat Rituale entwickelt um seine innere Unordnung zu kompensieren. Er sortiert: Stifte, Blätter, Bücher. Sortieren hilft ihm. Äußere Ordnung gegen innere Unordnung. Und die anderen mögen Menschen, die sortieren und ordnen, hat er festgestellt. Er will nicht um jeden Preis dazugehören. Es reicht ihm, nicht von anderen geärgert zu werden.
Später wenn er nach Hause kommt, kann er wieder „so sein“. Ohne was unterdrücken zu müssen. Zu Hause kann er Paul, der 10-jährige Autist sein. Er weiß, was er braucht, und Mama und Papa wissen es auch. Zu Hause kann er seine Anspannung nach außen kehren und auf seine Weise innere Ordnung herstellen. So sammelt er wieder Kraft für den nächsten Tag. Er geht ja gern zur Schule. Aber er muss „geordnet“ hingehen, damit er Raum für Unordnung hat.
Pauls Eltern werden am Abend über die „autistische Kommoden-Auseinandersetzung“ schmunzeln. Pauls neue Klassenlehrerin wird sagen: „Was? Der Paul? Autist? Auf mich wirkt er eigentlich ziemlich normal“.
Was will ich sagen? Dass ich glaube, Autismus ist nicht das, was Autisten nach außen zeigen. Autismus ist das, was sich in ihrem Inneren abspielt. Es ist das Innere Erleben, die Wirkung und Verarbeitung von Einflüssen und Reizen. Was sie dann nach außen zeigen, ist individuell unterschiedlich. Es gibt schlaue und nicht so schlaue, welche mit Humor, laute, leise, mutige, Angsthasen. Manche stehen gerne im Rampenlicht mit ihren Elektroautos und Klimavisionen, manche bleiben gerne unbemerkt. Es kommt vielleicht darauf an, ob sie „normal“ wirken können und ob sie das wollen. Und ob sie die Unterschiede überhaupt kennen. Die früher als Asperger bezeichneten Autisten können das „normal Sein“ soweit ich weiß besser als die, die früher als frühkindliche Autisten bezeichnet wurden. Die, die ihr autistisches inneres Erleben verbergen wollen und können, die können vielleicht sogar entscheiden, in welchen Situationen sie es dann doch zeigen möchten und beim wem. Wenn sie die Unterschiede kennen! Es lässt ja auch nicht jeder Messi jeden in seine Wohnung, und nicht jeder Depressive bindet seine Erkrankung gleich jedem auf die Nase. Und bei manchen Autisten sind die benötigten Kompensationsmechanismen auch nicht sehr stark ausgeprägt. Manchen reicht es schon, ein bisschen lautlos Schritte zu Zählen, Stifte, Kleidung oder Gummibärchen nach Farben zu sortieren oder die symmetrische Anordnung ihres Schreibtischs zu erhalten. Wenn sie wissen, dass sie das brauchen und weshalb, werden sie diese Strategien anwenden können und später, wenn sie nach Hause oder in vertraute Umgebungen kommen, werden sie loslassen und autistisch sein – um sich zu ordnen und aufzutanken. Kompensieren ist anstrengend. Doch nach meiner Erfahrung machen es viele gerne: sie wollen teilhaben!
Eva ist 45. Sie hat erst spät erfahren, dass sie die Welt autistisch erlebt. Früher wusste man so wenig von Autismus. Dass Mädchen das auch betreffen kann, wusste man schon gar nicht. Das wurde erst in der 90er klar. Da war sie schon voll im Kompensations-Modus, war komplett auf ihre innere Sicherheit konzentriert. Es klappte gut. Niemand hat die Anstrengung bemerkt, sie auch nicht. Früher, als sie jünger war, da war das auch gar nicht so schwer, das Leben war noch mehr „in Ordnung“. Dann kam immer mehr „Unordnung“ dazu: Ausbildung, Job, Mann, Kinder – und damit all die Veränderungen und Probleme, die das für die meisten Menschen mit sich bringt. Und damit immer mehr Anstrengung, Ordnung im Inneren herzustellen. Sie musste irgendeinen Weg finden, sich zusammenreißen und mit ihrem Leben weiterzumachen, das wollte sie doch. Planen, Strukturieren, Kategorisieren, Einteilen, Zählen – das war ihr Weg. In ihrem Job kam sie damit „voll an“. Das war ihr wichtig. Mitmachen, dabei sein, akzeptiert sein! Es ist schön, einen Platz im Leben zu haben und es „gut“ zu machen!
Als sie vor lauter Zusammenreißen vergessen hatte wie Loslassen geht, und dass der Körper trotzdem Nahrung benötigt, hat sie den Rat befolgt, in eine Klinik für Essgestörte zu gehen. Sie wollte wieder zu den „Normalen“ gehören und keine Kalorien mehr zählen. Das Programm wurde zum Horror: neue Umgebung, fremde Menschen, Essen, von dem sie nicht wusste, wie viel es wiegt, wie viele Kalorien es hat und was drin ist. Dazu das gemeinsame Einkaufen, Kochen und Essen. Sie blieb dran, sie wollte es. Sie hat freiwillig ihr letztes Mittel zur inneren Kontrolle hergegeben. Das innere Chaos, die Unruhe, die Unsicherheit: das war doch jetzt normal, schließlich musste sie eine Art Sucht loswerden! Dann kam der große Knall. Sie wachte in einer Burn Out Klinik wieder auf. Die Ärzte und Therapeuten waren sehr empathisch, zugewandt und freundlich. Sie halfen ihr mit dem klassisch wirksamen Programm: „ins Tun kommen“, erfolgreich soziale Situationen erleben, wieder Aufstehen. Sie wollte das. Sie wollte „normal“ sein, es „gut machen“. Ihre selbst auferlegten zwanghaften Strukturen loswerden.
Dass das genau das Falsche war, wusste ja keiner und der nächste große Knall kam schnell. Sie machten viele Tests mit ihr. „Autismus-Spektrum-Störung“ und „autistisches Burn Out“ war das Ergebnis.
Jetzt muss sie lernen, was Anna und Paul schon wissen: was bedeutet Autismus? Was ist mein Autismus und was bedeutet er für mich? Wann will ich mich zusammenreißen und wie geht für mich loslassen? Wann und wie will und kann ich so kompensieren, dass ich „normal“ bin und teilhaben kann – wann, wo und wie kann, muss und darf ich Auftanken, damit ich nicht wieder so viel Zählen und Strukturieren muss? Wie geht das alles und wo sind überhaupt die Unterschiede? Eine Autismus-Therapie für Erwachsene hilft ihr. Und dann kann sie bald wieder, was sie immer wollte: Beim Leben mitmachen. Ein bisschen Auffallen wird sie vielleicht manchmal müssen. Wenn sie sich schneller zurückzieht als „echte Normale“, um nicht wieder in alte Muster zu verfallen.
Ein letzter Schwenk: „Du wirkst gar nicht autistisch“– das ist für viele Autisten ein verwirrender Satz. Er impliziert, dass das Gegenüber eine genaue Vorstellung und damit Erwartung davon hat, wie man sein sollte. Sicher kommt das von all den Filmen und Sendungen über Autisten. Dass diese dort ihr inneres Erleben immer überzogen nach außen geben, macht total Sinn! Filme zu machen, in denen Rain Man und Sheldon völlig normal wirken, ist so sinnbefreit, wie einen Film über McGyver zu machen, in dem er vor lauter Handgepäcksbestimmungen neben der Kugelschreibermine nur 100 ml Zahnpasta dabei hat, anstelle der erforderlichen 150ml, um sich und die Mitreisenden aus den Fängen der Flugzeugentführer zu befreien.
An manchen Tagen kann der Satz ein Kompliment sein. Weil er sagt, dass man es schafft, sein autistisches Erleben zu verbergen, falls man das wollte. An anderen Tagen kann es bedeuten: Du hast meine Erwartung nicht erfüllt. Du gehörst nicht dazu. Nicht zu den Normalen, aber zu den Autisten ja wohl auch nicht. Dann ist sie wieder da, die große Unsicherheit. (Zählen, Planen, Ordnen, Strukturieren… 50 Schritte in die eine Richtung, 50 in die andere…)