Da lieg ich nun, ich armer Tropf. Die zwei hinter mir liegenden Tage waren so aufregend und so toll – sie waren inspirierend, bereichernd und belebend! Als ich auf der Bühne meinen kurzen Text zur Vorstellung meines Workshops gesagt habe, wäre mir mein Herz fast zum Hals rausgesprungen, das war so toll wie in der Achterbahn! Auch anschließend lief alles super. Natürlich ganz anders als geplant, aber ich war happy damit, wie ich den Workshop umgesetzt habe. Nach dem offiziellen Programm sind alle noch feiern gegangen, zum Netzwerken und unbeschwertem Fröhlichsein. Das hab ich nicht mehr geschafft. Ich konnte mir nur noch die Kapuze über den Kopf ziehen, Earpods in die Ohren stecken und mich zu Hause mit dröhnendem Kopf und schmerzenden Gliedern aufs Sofa legen.
Das ist jetzt drei Tage her und ich bin immer noch nicht wieder hergestellt. Ich hadere mit mir und meiner Energielosigkeit und gebe dem enormen Ruhebedürfnis nur nach, weil ich das nach der letzten großen Aufregung nicht gemacht habe und mich dafür mit einer allergischen Überreaktion in der Notaufnahme wiedergefunden habe. Der Clou daran: ich hab gar keine Allergien. Nur die Symptome. Wenn’s stressig wird. Und „stressig“ ist bei mir mittlerweile schnell erreicht…
Mein Körper wird also ruhig gehalten. Mein Geist ist dafür sehr aktiv und präsentiert mir die übliche Spirale aus Selbstabwertung („warum bist du so? reiß dich halt zusammen! wenn man nur so schlapp daliegt, kann man ja auch nicht in Schwung kommen! los, hoch mit dir vom Sofa und mach was nützliches!“), Angst („was, wenn ich wieder in die Notaufnahme muss? Mir wieder der Hals zuschwillt? ich muss mich entspannen- JETZT!“) und guten Vorsätzen („beim nächsten Mal mache ich das besser, da passiert das nicht noch mal. Ich trainiere jetzt meine Stressresilienz und werde eine bessere Version meiner selbst. Dafür gibt’s doch Bücher und Apps und sowas.“).
An Tag vier bessert sich die Lage. Mein Energielevel steigt. Ich versuche, die Grenzen auszutesten. Aber ich wäre nicht Ich und auch nicht soweit gekommen mit der erfolgreichen Selbstzerstörung meiner Akkus, wenn ich jetzt nicht auch versuchen würde, meine Grenzen zu überschreiten. Hab ja schließlich drei Tage nutzlos rumgelegen, kaum das nötigste geschafft, das muss jetzt nachgeholt werden!
Das muss jetzt nachgeholt werden?? Was denn? Und wer sagt das?? Na: das überdimensionale Teufelchen, das mich von hinten wie eine Klette umarmt, beide Arme um meinen Hals schlingt und mit fester Stimme in mein rechtes – manchmal auch ins linke – Ohr spricht und mich antreibt. Das Miniaturengelchen, das sich zum kläglichen Ausgleich dazugesetzt hat, flüstert ab und an kaum hörbar, dass es durchaus Alternativen zum Teufelsweg gäbe. Man könnte bspw. überlegen, einfach zu akzeptieren, wie man ist und was man braucht und dem dann nachgeben. „SPINNST DU?????“ schreit der Teufel. „Was sollen die anderen denken? Papperlapapp. Hier wird weitergemacht.“
Als kurz mal beide ruhig waren, hab ich gedacht, dass „Akzeptieren wie man ist, die eigenen Bedürfnisse anerkennen und diese umsetzen“ etwas ist, was ich ziemlich häufig anderen gegenüber erwähne. Ich erzähl doch ständig was über Inklusion. Und dass sie noch gar nicht gelebt wird, weil sie bisher nicht verstanden wurde und aus allgemeingültigen Maßgaben besteht, mit denen keiner so richtig was anfangen kann. Und dass Inklusion bei sich selber und in den eigenen vier Wänden beginnt. Das hab ich sogar in meinem Buch geschrieben. Und??? Mach ich das??? Naja – bei anderen eigentlich schon. Finde ich. Aber bei mir selbst? Eher nicht, oder?
Wie würde ich das denn machen? Das Teufelchen mit dem Klammergriff besiegen? Ihm sagen, dass er leise sein soll, dass er nicht mehr sprechen darf? Dass er Platz machen muss, damit das Miniaturengelchen mal ein bisschen wachsen und gedeihen kann?
Nein. Ich glaub nicht. Denn dann mache ich weiter wie bisher. Das wäre wieder keine Inklusion. Ich kann ihn eigentlich nur als Teil meiner Selbst akzeptieren. Der gehört ja offenbar zu mir, ob ich will oder nicht. Der spornt mich an und gibt mir Kraft. Der schießt aber auch gerne übers Ziel hinaus, so dass das Engelchen, das sich offenbar nicht anders zu helfen weiß, ab und an mal den Nothalt-Knopf drückt, um mich zur Ruhe zu zwingen. Das gehört auch zu mir. Eine leise Stimme, die mich zur Ruhe auffordert. Vielleicht liegt eine Lösung darin, dass beide akzeptiert und gehört werden. Das Engelchen etwas mehr als bisher, dafür darf das Teufelchen mal Pause machen. Das muss doch schon völlig erledigt sein.
Wie stell ich das denn jetzt an?? Meine Güte, jetzt geht direkt wieder das Gehadere und das Zerpflücken los. Bestimmt mach ich gleich ne Zeichnung und ne Liste. Dazu einen minutengenauen Plan, wie die nächsten Wochen der Selbstinklusion zu verlaufen haben. Da gucke ich dann täglich drauf und hake ab, wenn ich die selbstgesteckten Ziele erreicht habe. Oh Mann. Kann ich nicht einfach nur mal anders sein als Ich???
Die Antwortet lautet nein. Ich bin so. Das zu akzeptieren und bestmöglich danach zu leben, das wäre Liebe. Zu mir selbst. Ich muss weder das Teufelchen, noch das Engelchen, noch den mit der Liste gut oder schlecht finden. Aber wissen, dass sie da sind und unterschiedliche, manchmal sogar gegensätzliche Bedürfnisse haben, ihnen Gültigkeit und einen Platz in mir einräumen, auch den Facetten, die ich nicht so recht verstehe und die ich nicht gut finde. Das könnte doch Inklusion mit mir selber sein. (Und – VOILÀ- da kommt schon wieder eine:r um die Ecke, der oder die inkludiert werden will: jemand, der um Harmonie, Ausgleich und Berücksichtigung aller bemüht ist. Mal gucken, wer noch so kommt…).
So könnte vielleicht auch die echte Inklusion „da draußen“ funktionieren –in Schulen und Betrieben, in Behörden, im Bus, der Bahn, auf Parties und im Kino. Vielleicht müssen wir nicht alles verstehen und auch nicht alle und alles toll finden. Nicht jedes Mal applaudieren, wenn sich jemand als „anders“ outet. Aber wir müssen es auch nicht schlecht finden oder demonstrativ nicht-applaudieren und dafür mit den Augen rollen und denken „schon wieder eine:r, der / die eine Extrawurst braucht“. Es ist nicht dauerhaft zumutbar, mit seinen Bedürfnissen ständig hinterm Berg halten zu müssen, aus Angst verurteilt zu werden (Notiz an mich selbst: das gilt auch für die eigenen Bedürfnisse und die eigene Verurteilung!).
Mein neunjähriger Sohn nimmt nicht an der Fahrradprüfung im Rahmen des Schulunterrichts teil. Ich hab seine Entgeisterung, seine ihm ins Gesicht stehende Angst und seine Erstarrung beim Anblick der Verkehrsschule und den gestrengen Männern in Uniform einfach nicht ausgehalten. Ich konnte ihm nicht sagen: reiß dich zusammen, alle anderen schaffen das das auch. Ich hab ihm gesagt, wir können nach Hause gehen und nicht die obligatorischen Stempel in der Fahrradschule einsammeln. Und du musst nicht bei der Prüfung mitmachen, ich kläre das. Ich hab nicht applaudiert. Ich hab auch nicht nicht-applaudiert. Ich hab nur Bescheid gesagt. Vielleicht ihm zuliebe, vielleicht aber auch mir zuliebe. Das Beispiel ist aber unfair! Denn er hat eine Diagnose, die eine Befreiung rechtfertigt. Von einer Fachärztin. Und mit einem Verifizierungsstempel vom Amtsarzt. Double Check. Ein anderes Kind, dem es auch so geht, muss sich leider zusammenreißen und mitmachen. Seine Angst ist ungültig, sie bekommt keinen Raum, weil es keinen fachärztlich-amtsärztlichen Zettel hochhalten kann. Das ist NICHT Inklusion. Das ist NICHT (Nächsten)Liebe.
Ganz sicher denkt jetzt der /die ein oder andere Leser:in: „na, das hat er ja clever angestellt. Kurz mal ängstlich geguckt, schon hat Mama ihn befreit. Cool.“. Ja, kann man so sehen. Man kann aber auch sehen, dass er wie der Depp danebenstehen musste als die anderen die Prüfung abgelegt haben. Keine Stempel vorzeigen konnte und kein „gut gemacht! Du hast die Prüfung bestanden!“ gehört hat. Er wurde wieder bestätigt in seinem diffusen Gefühl „ich bin anders als die anderen. Ich gehöre nicht dazu.“ Er musste seine eigene Abwertungsschleife aushalten und das, was er dachte, was die anderen über ihn denken. Und er hat trotzdem den Weg gewählt, sich von der Prüfung befreien zu lassen, das erschien ihm immer noch weniger schlimm als das, was er erlebt hätte, wenn er mitgemacht hätte.
Nach meinem Verständnis wollen Kinder dazugehören, sie wollen es richtig machen. Auch die autistischen und auch die mit PDA. Und wenn sie freiwillig den Weg wählen „draußen“ zu sein, am Rand zu stehen und nicht teilzuhaben, dann muss es schlimm sein. Und wenn das alles stimmt, dann hab ich es richtig gemacht, ihm beizustehen. Ihm zu vermitteln, dass seine Bedürfnisse, seine Ängste und Zweifel gültig sind – egal, ob ICH das verstehe und egal, wie ICH das finde. Und ich versuche, es gar nicht zu finden. Nicht gut, nicht schlecht.
Vielleicht ist Inklusion einfach nur mit Liebe zu übersetzen. Stattdessen haben wir uns ein Konstrukt aus Begriffen, Verordnungen und Regeln geschaffen, die alles nur komplizierter machen. Wenn wir jetzt den Joystick auf „Liebe“ stellen und nicht mehr auf „diagnostizierte Störungen, die mit evidenzbasierten Therapien zu bekämpfen sind“, dann kommen wir vielleicht doch noch in Inklusions-Utopia an?!
Dann würde auch klar, warum Inklusion nicht nur für Kranke und Behinderte da ist, sondern für alle, und dass sie für alle gut ist. Auch und besonders für die OHNE Diagnosen. Denn die haben auch Bedürfnisse und denen darf man vertrauen und die dürfen gültig sein. Auch ohne Stempel und Double Check.