Eine romantische Skizze von Inklusions-Utopia.
Seit der Äußerung der liberalen Politikerin Agnes Strack-Zimmermann, Kanzler Scholz hätte „geradezu autistische Züge“1, geht es in den sozialen Medien natürlich hoch her, wie man so schön sagt. Es glühen dort Verletzung, Wut und Empörung, es werden betont kalte Schultern gezeigt, mitunter auch Verachtung. Alles verständlich, finde ich.
Dass sie sich entschuldigt hat, interessiert kaum jemand. Warum auch – gesagt ist gesagt, und natürlich hat sie es genau so gemeint. Denn dass für sie „autistische Züge“ eine negative Konnotation haben, und dass sie selbstverständlich davon ausgeht, dass die Konsumenten ihrer Entgleisung ebenso automatisch die negative Bewertung aus „autistische Züge“ herauslesen – was sie ja einwandfrei tun – das lässt sich nicht zurücknehmen oder entschuldigen.
Kann sie auch gar nicht, denn es zeigt die Haltung der Gesellschaft. Sonst wäre die negative Konnotation nicht so erklärungslos klar, und die Empörung über die Zuschreibung wäre nicht die logische Folge.
Die empörten Reaktionen auf ihre Äußerung machen so richtig deutlich, wie Autismus ganz allgemein gewertet wird: „Unverschämte Psychologisierung“, „Respektlosigkeit“, „unanständig“, „Herabwürdigung“. Sagen die führenden Vertreter der sozialen Mitbewerber um Wählerstimmen, Klingbeil, Kühnert und Barley2.
So, so.
Das interessante: das ist so klar, also dass die Zuschreibung von „autistischen Zügen“ eine Unverschämtheit, eine Respektlosigkeit und sogar eine Herabwürdigung ist, dass diese Aussagen nicht weiter thematisiert werden. Hier einigt man sich auf die Gültigkeit der penetranten Vorurteile (Autist*innen = sozial und kommunikativ unfähig), und die Aussagen aller Beteiligten und deren unkommentierte Annahme verfestigen die klebrige Stigma-Paste noch mal so richtig. Und so geht alle Welt weiter davon aus, dass Autismus eine Art Charaktereigenschaft in Verbindung mit intellektueller Behinderung sein muss. Bringt man als Autist*in dann zwei gerade Sätze und ein Lächeln heraus heißt es: Du wirkst eigentlich nicht autistisch.
Klar wie Kloßbrühe: Freundlicher Charakter? Der Intellekt lässt verständliche Sprache zu? Kann kein*e Autist*in sein, das passt doch nicht… (am Ende ist sie/er/es nicht mal gut in Mathe, dann findet die Blaupause schon überhaupt keine Passung mehr!) Puh, es liegt noch viel Arbeit vor uns!
Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich es wiederholen, egal, wie genervt die anderen davon sind: Wahre Inklusion ist eine Frage der Haltung. Sie beginnt im (eigenen) Kopf. Im Denken. Im nicht-Kategorisieren, im nicht-Bewerten. Die wenigen zahnlosen Handlungs-Bemühungen wirken vor allem deswegen nicht, weil sie nicht der inneren Einstellung der Handelnden entsprechen. Sie sind ausschließlich dazu da, sich selbst auf die Schulter klopfen zu können, weil man ja was für Inklusion tut. Auch, wenn man gar nicht weiß, was das ist oder wie das geht. (Was niemandem zu verübeln ist, denn es erklärt einem ja niemand!)
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat im September 2023 ja brav berichtet, dass die Umsetzung von Inklusion in Deutschland derzeit „nicht den menschenrechtlichen Vorgaben“ entspräche. Handlungsbedarf wird besonders in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit, gesellschaftliches Leben, Gewaltschutz, im Gesundheitssektor, Verkehr, Freizeit, kulturelles Leben und beim Tourismus gesehen (wo noch mal wird kein Handlungsbedarf gesehen?)3. Das betrifft natürlich nicht nur Autist*innen, sondern alle, die auf Inklusion angewiesen sind, weil sie physische, psychische und / oder seelische Besonderheiten aufweisen.
Um noch mal auf die innere Haltung zurückzukommen: Bezieht man es auf den eigenen Alltag, so könnte man es mit den Versuchen vergleichen, weniger zu rauchen, weniger Süßigkeiten zu essen, mehr Sport zu machen – hat man alles irgendwo gelesen, sich vorgenommen, doch man scheitert ständig. Bis die innere Haltung sagt: Ja. Das will ich.
So isses mit Inklusion auch. Doch die scheint immer noch so unbegreiflich und (deswegen?) so wenig gewollt zu sein.
Jedenfalls: ich glaube Frau Strack-Zimmermann sofort, dass sie keine Autist*innen verletzten wollte. Sie wollte Kanzler Scholz verletzten (sagt sie ja auch). Sie wollte ihn verletzten, indem sie ihm öffentlichkeitswirksam autistische Züge zuschreibt. WOW. Na, das besänftigt natürlich die verletzten Gefühle der vermeintlich Minderbemittelten und nicht vermeintlich Ausgegrenzten, der Exkludierten könnte man sagen. (Entschuldigung, ich fühle mich an dieser Stelle ehrlich gesagt befleißigt zu sagen: das war ironisch gemeint. Es besänftigt nicht, es streut Salz in Konzentration des Toten Meeres in die Wunde. Es brennt sogar, wenn die Wunde an dieser Stelle nur ganz klein ist!)
Doch noch interessanter finde ich ein weiteres Phänomen: viele Autist*innen haben in den sozialen Medien gepostet „Es gibt keine autistischen Züge. Züge fahren nur am Bahnhof. Man ist autistisch oder nicht.“
Mhhh. Also ehrlich gesagt, ich weiß ja nicht. Hier entblättert sich eigentlich das gleiche Problem in grün. Kann man nur A oder B sein? Rot oder Blau, dick oder dünn, Mann oder Frau? Autistisch oder nicht autistisch, neurodivers oder normal? Kann man entweder zu denen da oben oder denen da unten gehören, nur drinnen oder draußen sein?
Ich dachte, wir wären schon einen Schritt weiter. Ich hatte irgendwie vermutet, seit der Annahme, dass Autismus ein Spektrum ist, können wir uns auch vorstellen, irgendwo in der Mitte zu liegen, hin und her zu wandern, je nach unseren inneren Faktoren, den äußeren Umständen oder der Tagesform. Ich dachte, wir alle sind irgendwie autistisch, so wie wir irgendwie groß, irgendwie schwer, intelligent oder empathisch sind. Irgendwo zwischen null und hundert liegen wir alle, dachte ich.
Warum ziehen wir Autist*innen jetzt auch Grenzen und schließen andere aus? Weshalb greifen wir die pathologisierende Deutung auf und inkludieren die einen und exkludieren die anderen? Ich dachte, wir wollten jede*n im bunten Spektrum willkommen heißen und einen großen Bogen spannen, unter dem alle Platz haben! So, dass sich eines Tages der Störungsbegriff und die Notwendigkeit von Diagnosen, Pathologisierung und Zuschreibungen darunter einfach auflösen. Dann wäre es auch keine Unverschämtheit mehr, jemandem autistische Züge zu bescheinigen. Es wäre auch kein Kompliment. Es wäre irgendwo dazwischen.
Momentan ist das noch anders. Das herrschende binäre System macht es derzeit absolut nötig, entweder autistisch zu sein oder nicht. Die Diagnose ändert unter Umständen vieles. Es reicht nicht, einfach autistisch zu sein, es braucht im Zweifel Brief und Siegel, z. B. wenn man Hilfen beantragen möchte. Man muss sich entscheiden, auch mit Diagnose. Macht man sie öffentlich – dann ist man autistisch und drinnen, im Zirkel der Neurodiversen. Hat man keine Diagnose oder hält sie verschlossen, ist man zwar autistisch, aber draußen. Dafür drinnen im Zirkel der Neurotypischen, in dem sich viele dann aber irgendwie „falsch“ fühlen. Ich hoffte, dass wir diese determinierten Zirkel auflösen könnten.
Ein abschließender Satz: ich kann jede*n verstehen, der in Bezug auf seine Besonderheiten die Anonymität vorzieht. Stigmatisierung kann grausam sein. Und wenn es dann auch noch um die eigenen Kinder geht, die man vor dem Stigma-Monster, dem Exklusions-Gespenst und vor allem vor dem Mobbing-Teufel beschützen möchte, dann springt mein Mutterherz sofort an und versteht, dass man im Schutz der Anonymität bleiben möchte.
Das ganze Spiel funktioniert aber „nur“ so lange, wie Autismus als etwas Negatives angesehen wird. So lange kann es sich sinnvoll, richtig oder notwendig anfühlen, mit niemandem zu teilen, dass man autistisch oder sonstwie neurodivers oder behindert oder queer oder was auch immer ist. Ich entscheide mich mehr und mehr dazu, aus der Anonymität herauszutreten, Klarnamen zu verwenden und zu sagen, wer ich bin. Auch, wenn meine Kinder dadurch zu identifizieren sind. Ja, das kann negativ auf sie zurückfallen, weil Autismus negativ besetzt ist. Aber ich trete hier nicht jeden Tag an und kämpfe den täglichen Kampf, um es dabei zu belassen. Ich mach weiter damit, Autismus die negative Konnotation zu entziehen. Und für Inklusion zu werben. Unsere Gesellschaft braucht inklusive Gedanken, sonst werden wir verkümmern. Und in Verkümmern steckt ganz viel Kummer.
1: Strack-Zimmermann: Scholz hat „autistische Züge“ – ZDFheute
2: „Autistische Züge“: Kühnert weist Kritik an Scholz zurück | Presse Augsburg (presse-augsburg.de) „Autistische Züge“-Zitat: Für SPD-Chef Klingbeil ist Strack-Zimmermanns Kritik „absolut unanständig“ – WELT