„Diese verrückte Diagnose. Asperger!“
Ich treffe Lena in einem kleinen Cafe. Als sie reinkommt denke ich „Das muss sie sein“. Sie ist es. Eine hochgewachsene, sehr schlanke Frau Anfang 40. Sie wirkt ein wenig gehetzt, etwas erschöpft und unruhig. Als sie vollständig in der Szenerie ankommt, lächelt sie mich an und sagt „Hallo! Schön, dass es klappt.“ Ja. Finde ich auch. Ich lächele zurück und wir machen ein wenig smalltalk. Sie wirkt geübt- eloquent, möchte ich fast sagen. Ich hatte was anderes erwartet. Sie ist Fachanwältin für Verkehrsrecht. Sie mag ihre Arbeit, manchmal würde sie gerne mehr arbeiten, aber mit den Kindern sei es halt oft viel und ihr Mann wäre beruflich sehr eingespannt. Die Kinder, ja, die haben uns hier zusammengeführt. Über den Blog haben wir Kontakt geknüpft und festgestellt, dass wir in der selben Stadt leben. Erst bekam sie Hannah, sie ist jetzt zwölf, drei Jahre später dann Lukas. Die Kinder sind „irgendwie so passiert“, schmunzelt Lena. Lukas war in der Schule bald auffällig. Aggressiv wurde er, kam nicht richtig mit, fand einfach seinen Platz nicht. Obwohl er ein kluger Junge ist. Fanden immer alle. Er wurde in einem „klassischen Alter“ diagnostiziert, letztes Jahr mit acht. Autismusspektrumsstörung, hier klares Asperger Syndrom, und ADHS. Das ADHS behindere ihn fast am meisten, findet Lena. Er hat sich manchmal überhaupt nicht unter Kontrolle. Medikamente lehnt sie ab. Aber ich will gar nicht über Lukas reden. Wann, wie und warum Jungs diagnostiziert werden, das ist mir hinlänglich bekannt.
Die News auf dem Gebiet interessieren mich: Frauen und Mädchen. Denn sie bleiben häufig unerkannt. Und leiden, bilden Depressionen, Ängste, Zwänge, Essstörungen und Sozialphobien aus. Werden ausgenutzt, bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück und wissen nicht, wo sie hingehören. Die neurologischen Besonderheiten in Bezug auf die soziale Interaktion, die Kommunikation, Wahrnehmung, Sinnesverarbeitung oder das Verhalten sind die gleichen, und dennoch zeigen sie sich anders. Als schüchtern und „auffällig unauffällig“ werden sie beschrieben, als perfekte Imitatorinnen anderer und Mädchen, die einfach „gut funktionieren“.
Das Diagnoseverfahren ist offenbar noch klar auf Jungs und Männer und deren Symptome ausgerichtet. Sogar Hans Asperger selbst dachte ja, dass Mädchen von „seinem“ Syndrom gar nicht betroffen sein können. Und nun plötzlich die Trendwende: sie können betroffen sein, sie sind betroffen und sie leiden. Um ihnen helfen zu können, wenn sie leiden, muss man sie erkennen. Denn die Therapienansätze für “Normalos“, um den Folgeerkrankungen wie z. B. Depressionen zu begegnen, zeigen sich bei Aspergern oft deutlich weniger wirksam.
Zurück zu Lena. Denn auch Hannah und sie haben mittlerweile die Diagnose „Asperger“. Wie ist es dazu gekommen? „Lukas‘ Ärztin bestand darauf, auch den Rest der Familie zu testen. Ich fand das lächerlich. Hannah ist ein sehr schüchternes Mädchen, ja, und sie hat spezielle und intensive Interessen, aber das haben andere Mädchen auch. Nein, sie geht nicht auf Parties und meidet sozialen Rummel, aber deswegen ist man kein Asperger, und Hannah ist es schon gar nicht. Dachte ich. Und was mich angeht: ich bin doch gut durchgekommen! Natürlich hab ich so meine Probleme, aber hat die nicht jede? Und jeder?“ Doch, denke ich. Vermutlich schon. Wie ist es denn nun zur Diagnose gekommen? „Hannah wollte es. Sie hat gesagt, dass sie wissen möchte, ob sie auch „diese Besonderheit“ hat. Hat sie. Sie hat kein ADHS zusätzlich, das macht vieles leichter. Sie benötigt auch keine Schulhilfe, so wie Lukas. Doch wir werden Teilhabehilfe beantragen, um sie in ihrem Sozialverhalten etwas zu unterstützen. Denn Asperger sind die geborenen Mobbing-Opfer. Sie sind meistens freundlich und etwas naiv, sie hören immer zu und glauben alles. Sie merken oft erst spät, wenn jemand ihnen in Wirklichkeit nicht wohl gesonnen ist. Hannah freut sich darauf, denn sie wünscht sich tatsächlich mehr Sozialkontakte.“ Das klingt doch nach einer Erfolgsstory, denke ich.
Aber der Clou fehlt ja noch! „Wie bist du denn nun zu einer Diagnose gekommen, Lena?“. Sie wird still und schaut sehr konzentriert an einen Punkt an der Wand. Sie sammelt offenbar ihre Gedanken. Es dauert ein wenig, und dann kommt eine zwar sprachlich etwas komplizierte, aber druckreife Erzählung heraus: „Nach Hannahs Diagnose wurde ich stutzig. Auch ich war sehr schüchtern als Kind. Mit 12 nicht mehr so wie Hannah jetzt, aber früher, da war ich sehr still. Sehr, sehr still. Erst in der Grundschule taute ich etwas auf. Ich hatte eine beste Freundin, die gab mir Sicherheit. Ich konnte mir von ihr abgucken, wie man sich durch den täglichen Dschungel schlägt, und wir waren immer zusammen. In der Pubertät wechselte ich meine Rolle von „schüchternes Mädchen“ zu „extravertiertes Mädchen“. Damit kam ich gut bei anderen an. Zu dünn war ich immer. Ich habe einfach keinen Hunger. Ich spüre das nicht. Ich esse, weil Essenszeit ist, so wie andere. In wenigen Momenten, da spüre ich meinen Hunger. Ich mag das. Ich spüre mich sonst nicht so gut. Aber so echter, quälender Hunger- das ist ein starkes Körpergefühl, das tut gut. In der Schule hätte ich besser sein können. Nicht in Kunst oder Sport, da fehlen mir die feinmotorischen Kompetenzen. Aber in vielen anderen Fächern. Aber irgendwie sollte es nicht sein, warum weiß ich eigentlich auch nicht. Aber letztlich ist das auch egal, ich habe ja meinen Weg gemacht.“
Verstehe. Soviel zum Rückblick. Was ist denn heute? „Ich bildete vor knapp zehn Jahren starke Zwänge und Depressionen aus. Sie wurden immer stärker und schließlich bin ich damit zum Arzt gegangen. Ich werde seit vielen Jahren deswegen behandelt. Es schien kein Kraut dagegen gewachsen zu sein. Ich hab gegen mich selbst gekämpft, mich für meine zwanghaften Routinen, die immer stärker wurden, verurteilt, versucht, sie „wegzumachen“, sie mit Methoden aufzulösen. Es schien wie ein Teufelskreis. Eine Routine, die besiegt wurde, brachte zwei neue zum Vorschein. Ich hatte verstanden, dass man üben kann, „alle fünfe grade sein zu lassen“, sich aus Zwängen und Routinen zu befreien, doch es klappte bei mir nicht. All die modernen Optimierungsmethoden von Meditieren bis Journaling – ich habe es wirklich versucht, doch am Ende wurden meine Zwänge und Depressionen nur schlimmer. Ich lehnte mich selbst immer mehr ab.“ Und dann? „Dann kam diese verrückte Diagnose. Asperger. Doch dadurch hab ich verstanden, wozu ich meine Routinen und Zwänge, und sogar die Depressionen, brauche. Ich kämpfe nicht mehr gegen mich. So sehr ich diese Diagnose immer für mich ausgeschlossen hatte, so sehr war „Asperger“ dann eine Befreiung für mich. Für Asperger-Autisten sind Routinen sehr wichtig. Dinge immer zur gleichen Zeit in gleicher Abfolge auszuführen, das gibt Sicherheit und Struktur und hilft dabei, die Anforderungen des Alltags zu verarbeiten. Seitdem ich sie in meinem Alltag zulasse, haben sich viele Zwänge zurück zu Routinen entwickelt.“ Lena zählt viele Beispiele dazu auf, doch ich habe glaub ich verstanden, was sie meint. Und natürlich ist jeder Aspi da auch anders und bedient sich seiner eigenen Routinen, Spezialinteressen oder anderer Strategien zur Kompensation der Alltagsanforderungen. Und seitdem Lenas Therapeutin ihre Asperger-Diagnose kennt, begegnen sie nun auch Lenas Depressionen erfolgreicher.
“Ich habe nicht vielen von der Diagnose erzählt. Meine besten Freundinnen, mein Mann und meine Kinder wissen Bescheid, aber es macht letztlich wenig Unterschied. Ich schäme mich nicht dafür, aber es ist für die meisten Menschen egal, ob ich autistische Strukturen habe, oder nicht, für die Außenwelt ändert sich ja nichts. Nur für mich und mein Selbstverständnis. Dass manche Dinge eben zu mir gehören, egal, wie sie heißen, und dass ich mich nicht mehr dafür verurteile, sondern mich in Gänze annehme und akzeptiere. Ich bin jetzt meine eigene Freundin. Endlich! Es tut gut. Ich weiß jetzt, wer ich bin und kann mich so auch annehmen.“
Hier endet die Geschichte von Lena. Die Moral von der Geschicht muss wie üblich jeder für sich finden. Doch meine Moral ist, dass ein bisschen Lena vermutlich in uns allen steckt. Wenn wir uns nicht selbst bekämpfen, sondern annehmen, und wenn wir uns – so wie eine Freundin von mir neulich so großartig formulierte- „selber liebevoll über den Kopf streicheln und sagen: das darfst du, so bist du, und du bist gut so“, dann können wir unsere eigene beste Freundin oder bester Freund sein. In uns zu Hause sein und es mit uns gemütlich haben. Das wäre doch vielleicht mal ganz schön.
hallo. ich bin mutter eines sohnes mit starker legasthenie und von den ärzten vermuteten adhs. er war immer schon zappelig und hatte seine eigene art, fiel anderen bei besuchen nach wenigen min auf die nerven. kaum einer hat ihn zu sich einladen wollen, obwohl er selbst so gerne dazugehören wollte. auch babysitter oder freunde wollten nie auf ihn aufpassen, weil er zu anstrengend sei. nach vielen aneckpunkten gab es irgendwann hilfestellung in form als nachteilsausgleich, der je nach lehrer unterschiedlich gewährt wird. das hilft zumindest den notendruck zu nehmen. in der schule ist man nicht dabei und merkt manchmal gar nicht was vorfällt. man sieht es am kind, wenn man zeit hat genau hinzuschauen und nicht selbst gestresst ist. hilflos fühlte ich mich oft besonders wenn das kind sich zurückzog oder wieder einmal gut gemeinte ratschläge auf einen einprasselten (wobei meist nichts passendes für uns dabei war). die umwelt rät: medikamente soll das kind nehmen, dann wird es für das kind leichter. ruhigstellen. ich sehe die schwierigkeiten, wenn das umfeld zu voll mit menschen ist. wir meiden das. umziehen aufs dorf? das will er nicht. wir haben uns arrangiert. einen rückzugsort zu haben ist wichtig. aber auch raus kultur, leute, welt wahrnehmen sich nicht ausschließen, dabei bleiben.
leben. die sorge bleibt, wie es für ihn weitergeht. findet er nach der schule ohne elterlichen schutzraum einen platz in der welt ohne lesen zu können und dazu noch andere bedürfnisse zu haben, die andere als nervend empfinden. wird er glücklich und zufrieden leben oder rutscht er ab.