„Wurzeln hat er ja offenbar, aber Flügel müssten noch wachsen, glaub ich“, sagte mein Mann mal zu mir als unser Großer noch ein ziemlich Kleiner war. Das war vor der Autismus-Diagnose, und zu einer Zeit als seine Altersgenossen anfingen, sich anderen Kindern zuzuwenden: Schonmal alleine beim Kindergeburtstag bleiben, vielleicht sogar bald woanders übernachten – kleine Schritte in Richtung Abnabelung eben. Unser Kind zeichnete sich in der Zeit durch ziemliche „Schüchternheit“ aus. Heute wissen wir, dass sein „schüchtern“ eher irgendwas zwischen „sozial nicht sonderlich interessiert“ und „ich-weiß-nicht-wie-ich mich-verhalten-soll“ ist. Das allein ist kein Anzeichen, und schon gar kein Beweis für autistische Züge oder mehr, aber heute ist es bei uns ein Teil des großen Puzzles.
Neulich habe ich auf einem anderen Blog* eine ganz wunderbare Erzählung gelesen! Eine Mutter beschrieb ihre emotionale Achterbahnfahrt, als ihre Kinder das erste Mal ohne sie verreisen wollten. Mit neun und zwölf Jahren. Sie war aufgeregt, und war sich zunächst nicht sicher, ob sie auch die Neunjährige wirklich mitfahren lassen sollte. Doch sie hat sich überwunden, beide zu der Fahrt angemeldet und zum Abschied mit einem mulmigen Gefühl im Bauch gewunken. Der aufregendste Teil für mich war der Moment, als sie – nachdem sie ein paar Tage sturmfreie Bude mit ihrem Mann und dann noch einen zweisamen Städtetrip genossen hat – sich langsam auf die Heimkehr der Mäuse vorbereitete. Nachdem sie in den zwei Wochen nur einmal kurz mit der Neunjährigen telefoniert hatte („Mir sprang fast das Herz aus dem Körper als ich ihre süße, aufgeregte Stimme hörte“), wartete sie nun also darauf, die beiden wieder in ihre Arme schließen zu können. OH GOTT, ich kann die Aufregung fast fühlen! Platzender Stolz im Kopf, rasende Aufregung im Herzen und überschäumende Freude im Bauch! Wie ein verliebter Teenager!
DAS WILL ICH AUCH!
Krieg ich aber nicht. Die Geschichte des Blogs endet mit der Ermutigung, seinen Kindern etwas zuzutrauen, wenn sie bereit sind, und ihnen damit Flügel zu verleihen. Ich hab natürlich gut reden, wenn ich mich hier hinstelle und behaupte, dass ich auf jeden Fall zu denen gehören würde, die ihren Kindern ganz früh ganz große Flügel verleihen würde. Denn besonders bei meinem Großen stellt sich diese Frage gar nicht. Er will gar nicht fliegen. Er will hierbleiben. Bei uns.
Obwohl – so ganz stimmt das nicht. Er hat da ehrlich gesagt zwei Seelen in einer Brust. Eigentlich träumt er ja davon, später ins Ausland zu gehen um nach der Schule an berühmten Universitäten weiterzumachen. Fliegen wäre offenbar schon ok für ihn.
Und neulich, als seine Schulhelferin ihn einen Tag nicht begleiten konnte, da war er erst total aufgeräumt und sagte „Das ist kein Problem, Mama. Ich werde schon klarkommen.“ (Flugversuch im Anmarsch!) Wir hatten beschlossen, dass ich ihn mit dem Auto hinfahren werde, und der Rest würde sich zeigen. Manchmal lerne ja sogar ich dazu und hab das „voll easy“ gemacht: so wenig kommentiert wie möglich, nix spezielles vorbereitet, ich hab einfach beschlossen – er macht das schon. Wie genau, werden wir sehen. Doch als es so weit war: Er konnte nicht. Es ging einfach nicht. Die Flügel wollten sich nicht anziehen lassen. Seine Wurzeln haben ihn gewissermaßen festgekettet. Man hat es richtig gesehen, sein Körper war wie in schwere Ketten gelegt. Auch das habe ich kaum kommentiert. Einfach gesagt, dass es jetzt eben so gekommen ist und nicht anders. Seine Enttäuschung konnte ich leider nicht „voll easy“ wegignorieren. Er wollte einfach nur zu Hause bleiben, in seinem Zimmer, mit seinen Hörspielen. Nicht mal Oma besuchen. Ich wollte nicht den Finger in die Wunde legen und hab dazu nichts weiter gefragt, doch ich kenne ihn gut genug, um ihm anzusehen, dass der Tag geschmerzt hat. Vielleicht fragt er sich, warum alle anderen so problemlos fliegen können, und warum es bei ihm einfach nicht klappt. Ja, sicher, er hat andere Qualitäten und Kompetenzen. Jeder kann was anderes. Aber wir wissen alle, dass das wenig nützt, wenn man DAS eine will. Vor allem mit 13!
Was er sich nun genau fragt, weiß ich nicht. Ich weiß aber, was ICH mich frage: was macht das mit meinem Kind, und wie kann ich ihm helfen? Ich vermute, dass sich das alle Eltern fragen, deren Kinder in der Entwicklung irgendwie anders unterwegs sind, und denen man anmerkt, dass sie damit unglücklich sind. Weil man halt denkt, dass es sie unglücklich macht und ihnen das Vertrauen in sich selbst fehlen wird.
Ich weiß nicht, ob mein Großer den Wunsch verspürt, so zu sein wie andere. Den Eindruck habe ich ehrlich gesagt nicht. Aber ich glaube trotzdem, dass er den Wunsch verspürt, sich abzunabeln, autonom zu werden, das Nest zu verlassen, die Wurzel zu lockern und loszufliegen. Das ist doch Teil der Pubertät.
Doch ehrlich gesagt: so richtig helfen kann ich ihm wohl nicht. Mein Mann und ich, sein kleiner Bruder und alle anderen, die ihn lieb haben, die können ihm nur die Gewissheit vermitteln, dass er für uns auch ohne Flügel passt. Dass wir ihn nicht aus dem Nest schmeißen, wenn das Fliegen nicht klappt, und dass wir ihn super finden, so wie er ist. Und dass wir seine Flugversuche gerne unterstützen, wenn er es weiter versuchen will. Aber auch nur dann. Und den Schritt, sich selbst zu akzeptieren, den muss er wohl alleine bewältigen. So wie jede/r von uns.
Er hat – abgesehen von der Sache mit den Flügeln – dennoch im letzten Jahr einen echten Entwicklungssprung gemacht. Aus dem Grund- ist ein Oberschüler geworden. Der kleine Junge ist jetzt ein junger Mann mit einem Schatten auf der Oberlippe, der seine Mutter um 4cm überragt. Zu Hause ist er viel selbständiger geworden, und wenn er sich in sozialen Situationen unwohl fühlt, kommt er einfach zu mir und sagt: „Mama, ich kann das hier nicht. Ich geh schonmal nach Hause.“, anstatt wie ein verwundetes Tier herumzuwüten, wie er es sonst getan hätte.
Aber auch ich hab Schritte in die richtige Richtung gemacht. Noch vor einem Jahr hätte ich ein Kommentar-Feuerwerk zum Thema „Du schaffst das morgen auch alleine in der Schule“ losgelassen und hätte gezetert, geschimpft und gefleht, wenn es dann doch nicht geklappt hätte. Es wäre mir unangenehm gewesen, in der Schule wieder „abzusagen“, ich hätte nicht gewusst, wie ich das erklären soll, was auf die Entschuldigung soll, und überhaupt hätte es doch alles durcheinander gebracht – kurz: ich wäre wahnsinnig geworden! Jetzt war es mir nicht mehr unangenehm, im Sekretariat Bescheid zu geben, dass er nicht kommt. Ich hab auch nicht gezetert oder gefleht, ich hab uns später lieber ein Eis geholt. Ich weiß zwar immer noch nicht, was ich auf die Entschuldigung schreiben soll („Flügel passen noch nicht und werden es vielleicht auch nie“??), aber peinlich war es mir gar nicht mehr. Mein Sohn hat eine Behinderung. PUNKT.
* https://einfachstephie.de/den-kindern-fluegel-geben-nicht-so-einfach-wie-es-sich-anhoert/
Das ist ein wundervoll ehrlicher Bericht, liebe K.! Ich freue mich sehr, dass du mir diese berührende Geschichte geschickt hast und mich so daran hast teilhaben lassen. Vielen Dank auch für die Verlinkung zu meinem Beitrag, den ich schon vor vielen Jahren geschrieben habe und der immer noch seine Gültigkeit besitzt. Inzwischen sind meine Kinder schon 17 und 20 Jahre alt – und legen ihre Flügel immer dann an, wenn sie diese brauchen. Auch sie haben Momente, in denen sie bei aller Selbständigkeit unsere Unterstützung benötigen – und die können sie immer gerne in Anspruch nehmen. Für euren Sohn ist es das größte Glück, so liebevolle und verständnisvolle Eltern zu haben! Damit wird er wachsen, im eigenen Tempo und in der Gewissheit, euch an seiner Seite zu wissen. Ihr macht das wirklich klasse!!
Alles Liebe wünscht Stephie