IST AUTISMUS EIGENTLICH EIN PROBLEM?
Tja, gute Frage… ist Autismus ein Problem?
Die Krux ging früh los. Als Vierjährige war mein Problem, dass ich im Gegensatz zu einem befreundeten Geschwisterpaar nicht das Piratenschiff von Pla**mo**l hatte, als Sechsjährige traute ich mich nicht, im Unterricht laut etwas zu sagen und als Achtjährige war mein größtes Problem, dass ich kein eigenes Pferd auf einer eigenen Koppel besaß. Manchen Problemen konnte aktiv Abhilfe geschaffen, werden, manche verwuchsen sich und manche wurden einfach als nicht änderbar hingenommen. Später dann wurde es schon kniffliger: ich träumte davon, blonde Korkenzieherlocken, geheimnisvolle grüne Augen, lange Beine, eine gerade Nase und einen total coolen Freund zu haben. Es wird die wenigsten verwundern, dass ich mir all das wünschte, weil nichts davon so auch nur im Entferntesten so gewesenen ist. Kurzum: Kaum war ich in die Pubertät eingestiegen, türmten sich die Zettel in der Schublade PROBLEME…
Der viel später aufgetauchte Freund ist heute mein total cooler Ehemann, und die übrigen Zettel zu Farbe, Form und Beschaffenheit meiner Haare, Augen, Beine und Nase liegen irgendwie auch nicht mehr in der Schublade PROBLEME. Es ist nicht so, dass sie bei „HURRA!“ liegen, es ist vielmehr so, dass sie einfach irgendwo sind. Vielleicht sind sie auch weg? Oder wo sind die? Denn Haar- und Augenfarbe sind unverändert, die Nase ist auch noch so, wie sie damals war, und die Hosenlänge 30 ist immer noch nur mit allen Augen zugedrückt grad mal nicht zu lang. Sie sind also noch da und weg gleichzeitig.
Noch einen Lebensabschnitt später wurde es eine weitere Stufe kniffliger. Mein älterer Sohn zeigte zunehmend Auffälligkeiten, und als der kleine Bruder zwei Jahre alt war, erhielten wir die Diagnose „Asperger-Autismus“ für den Großen. Zwar war die Diagnose am Ende eine Befreiung für uns und auch für unseren Sohn, aber die Probleme rund um das autistische Dasein blieben erhalten. Für vieles konnte ein Lösungsansatz gefunden werden, für vieles nicht.
Manchmal, da denke ich an meinen Sohn und all das, was problematisch ist. Ich denke an alles, was zu organisieren ist, welcher Termin, welche Begutachtung, welcher Antrag, welcher Nachteilausgleich ansteht, ausgefüllt oder erneuert werden muss, welche Probleme in der Schule dazugekommen sind, wo wieder jemand angerufen werden muss, was die Pflegeversicherung jetzt wieder braucht, wie er neulich wieder nicht klargekommen ist, wo wir leider nicht hingehen können und STOP! Ich bin doch sonst so oberschlau und weiß anhand umgedeuteter Zitate zu berichten, dass Störungen und Emotionen einfach da sind, und dass die Frage ist, wie man ihnen begegnet. Mit dieser Weisheit kann ich doch jetzt mal bei mir selbst beginnen.
Was, wenn ich meinen Zettel „Autismus“ aus meiner Schublade PROBLEME rausnähme und zu dem mit den nicht vorhandenen blonden Korkenzieherlocken legen könnte? Würde dann der Autismus bleiben -wie die „falschen“ Haare-, aber mein Gefühl, dass es für mich ein Problem ist, verschwinden??? Ich habe nämlich keine Lust mehr, irgendwas, was meinen Sohn betrifft, als PROBLEM zu empfinden. Ich möchte nicht an ihn als PROBLEM denken. Ich möchte an ihn als den wunderbaren Kerl denken, der er ist! Zudem der Autismus gehört, wie seine braunen Haare und seine schönen, grünen Augen. Dass ich meine Kinder vorbehaltlos liebe, möchte ich nicht in Frage stellen. Aber den Autismus habe ich bisher noch nicht als Teil des Gesamtpakets lieben gelernt.
Seit mindestens einem Jahr laufe ich durch die Gegend und schärfe das Problembewusstsein meiner Umwelt für Menschen mit Autismus. Ich werbe für Verständnis für die Besonderheiten meines Großen und für die anderer Anderer. Regelmäßig benutze ich einen Hashtag, der autismwarriors heißt. Ich bin des Krieges aber müde.
Ich hoffe nicht heimlich darauf, dass sein Autismus einfach weggeht. Er wird für immer da sein. Wie meine kurzen Beine, seine langen Beine, meine blauen Augen und seine grünen. Seine Andersartigkeit wird für immer bleiben, und damit all die Dinge, die ich nicht verstehe, weil sie auf einem anderen Planeten stattfinden. Ich will sie nicht mehr bekämpfen oder graderücken. Ich will einfach nur eines Tages nach den Zetteln suchen und feststellen, dass sie nicht mehr in Schublade PROBLEME liegen, sondern an dem mir bisher unbekannten Ort, an dem auch die mit der Nase, den Haaren und den Beinen sind.
Die Heldin meiner Kindheit machte sich ihre Welt, wie sie ihr gefällt. Eine Schublade mit dem Etikett PROBLEME hätte sie einfach ausgekippt, und aus den Zetteln Papierflieger gebastelt. Vielleicht kann ich das auch. Dann ist Autismus noch da, aber nicht mehr mein Problem.
Liebe Katrin, ein Beitrag der nicht nur Vergangenheit und Jetztzeit, sondern auch die Zukunft zum Thema hat. Aus meiner Sicht ein guter und richtiger Weg. Weiter so.