„Störungen fragen nicht nach Erlaubnis, sie sind da: als Schmerz, als Freude, als Angst, als Zerstreutheit; die Frage ist nur, wie man sie bewältigt…“ Ruth C. Cohn
Auf dieses Zitat bin ich neulich zufällig gestoßen. Ruth Cohn spricht hier ihre Gedanken zu der von ihr entwickelten Methode zur Arbeit in Gruppen an. An Autismus, ADHS oder sonstige „Störungen“ hat sie vermutlich überhaupt nicht gedacht. Aber man versteht die Dinge ja so, wie man sie verstehen will, und als ich in meinem letzten Beitrag beschrieb, dass ich es als große Aufgabe empfunden habe, mich von dem angenommen Bild, wie mein Leben verlaufen sollte, zu dem, wie es dann tatsächlich geworden ist, zu bewegen, hat mich dieser „Zufallsfund“ sehr angesprochen.
Nun liegt es mir fern, meine Kinder oder gar ihr Wesen oder ihre Besonderheiten als „Störungen“ beschreiben zu wollen, weil damit ja irgendwie eine negative Bewertung verbunden ist. Wenn ich das Wort aber so betrachte, dass man selbst durch etwas oder jemanden „gestört“ – oder überrascht- wird, komme ich der Sache schon näher.
Denn jeder, der Kind/er hat, weiß, dass man auf dieses Ereignis nicht vorbereitet werden kann. In meinem Hochmut glaubte ich damals, es sei alles eine Frage der Organisation (Ich könnte mich schlapplachen). Ebenso wenig kann man seine Gefühle oder Reaktionen auf das, was man aufgrund seiner Kinder, oder mit ihnen, erlebt, organisieren, strukturieren oder planen. Ich zumindest nicht. (Wär mir aber lieber!)
Und neulich, da hatte ich wieder „so einen Tag“. So einen, an dem ich dauergenervt bin. Einen, an dem ich einfach keine Lust auf „all das“ habe. An diesem Tag hatte ich einfach keine Lust auf dieses in-Watte-gepacke, auf die permanente Rücksicht. Ich war genervt davon, drinnen zu sitzen, weil ihm das Sonnenlicht zu hell ist, ich hatte keine Lust, den Spielbesuch des kleinen Bruders zu verlegen, weil ihm das sonst zu viel ist, und ich hatte keine Lust darauf, mir dann wieder beim Fußball mit ihm im Hof den Körper blauschiessen zu lassen, weil er keinen Kontakt zu Gleichaltrigen will, und auch nicht auf seine nächste Erkältung, weil er die Kälte nicht spürt und bei 4 Grad in T-Shirt und kurzer Hose draußen steht. Ich hatte auch keinen Nerv, wieder eine eigene Essenszeit für ihn einzuplanen, weil es zu viel ist, wenn alle durcheinanderreden – und nachts zu viert im Doppelbett war es mir auch einfach zu eng! So!
Und dann bin ich halt bei ner Kleinigkeit ausgeflippt. Einfach so. Wie so oft, und wie jede Mutter und jeder Vater und jede Nicht-Mutter und jeder Nicht-Vater manchmal eben bei ner Kleinigkeit ausflippt. Es ging vielleicht um Zimmer aufräumen oder so. Ich hab ihn beschimpft und war ungerecht, rücksichtslos und emotional. Muss ich niemandem erklären, kennt ihr auch alle.
Und abends, da les ich einen Post von einem „Insta-Freund“. Ein erwachsener Autist, der verheiratet ist und glücklich zu leben scheint. Er postete, dass man Autisten nicht zu was drängen kann, was sie nicht wollen, um sich dann zu wundern, dass sie völlig ausflippen. Na -DAS kam mir ja grade recht! DIE dürfen ausflippen, wenn man sie zu was drängt, und WIR dürfen uns nicht wundern??? Am besten dürfen WIR auch nicht mal ausflippen! Ich war echt bedient. Und sowieso immer noch im „Scheiß-Mama-Modus“.
Ich schrieb einen kleinen Kommentar. Sowas wie: schön. Und was ist mit mir? Wenn meine Grenzen erreicht sind? Darf ich dann vielleicht nicht ausflippen? Und darf ich ihm jetzt auch nicht mehr sagen, dass man a) sein Zimmer aufzuräumen und b) sich seiner Mutter gegenüber freundlich zu benehmen hat? Muss ich ihm seine Ausflipper ständig unkommentiert durchgehen lassen und mich dann vielleicht noch entschuldigen?
Er schrieb mir völlig aufgeräumt zurück. Sowas wie: du kannst machen was du möchtest, aber du hast im Gegensatz zu deinem Sohn keine Entwicklungsstörung, und Du hast eine Handlungsalternative. Er nicht. Er hat eine Behinderung, eine Störung, er weiß nichts von Handlungsalternativen. Auch Autisten müssen Kompromisse eingehen, aber sie müssen mit ihrer Art der Wahrnehmung kompatibel sein, sonst können sie das nicht. Die Nicht-Autisten müssen das Umfeld so gestalten, dass das Zusammenleben möglich und auch angenehm wird.
Ist ja richtig… Und abgesehen davon, dass ich keine Entwicklungsstörung habe, bin ich auch die Mutter, und er das Kind. Ich trage die Verantwortung. Wir alle waren Kinder und haben unsere Eltern ausflippen sehen. Wir alle haben ihr schlechtes Gewissen erlebt und im besten Fall eine Entschuldigung erhalten und akzeptiert.
Ich glaube fest daran, dass es auch bei autistischen Kindern, meinem zumindest, die Empathie schult, wenn man andere ausflippen sieht. Man lernt daran, die Grenzen der anderen wahrzunehmen. Und man lernt, wie man sich wieder beruhigt und wie man sich entschuldigt. Damit möchte ich nicht nur meine regelmäßigen Ausflipper rechtfertigen, ich glaube das wirklich.
Doch was seine Ausflipper angeht: wer schonmal einen Autisten erlebt hat, der ausflippt, also wirklich ausflippt, nicht aus Müdigkeit, Bocklosigkeit oder pubertären Gründen, sondern einen dieser Meltdowns hat, der weiß, welche Kraft darin liegt. Es ist die höchste Form der Verzweiflung, die ich je erlebt habe. Sie schreien im Gefängnis ihrer eigenen Welt, aus der sie in diesen Momenten keinen Ausgang finden, nicht den kleinsten Spalt. Sie sind nicht mehr ansprechbar, sie versuchen meist noch vergeblich, wenigstens physisch einen Platz zu finden, und sie nehmen nichts mehr wahr außer der Wucht ihrer eigenen Emotionen. Man kann nichts für sie tun.
Es kann Minuten, Stunden oder Tage dauern, bis sie zurück sind.
Es war bei uns schon lange nicht mehr. Lockdown sei Dank, würde ich sagen. Oder weil wir uns eben so autistisch eingerichtet haben. Wenn ich ausflippe, schaut er mir vielleicht verwundert zu und denkt sich „wie? Das ist alles? Sie hat’s gut“.
Da liegt vermutlich der Unterschied, den mein „Ista-Freund“ meinte.
So möchte ich Ruth Cohns Zitat für eine Uminterpretation missbrauchen: „Emotionen fragen nicht nach Erlaubnis, sie sind da: als Schmerz, als Freude, als Angst, als Zerstreutheit; die Frage ist nur, wie man sie bewältigt…“