Es fing ja alles schon „so“ an. Mein Großer dachte damals überhaupt nicht daran, meinen Bauch zu verlassen, um sich nach draußen in die Welt zu bewegen! Auch noch in der 42. Schwangerschaftswoche (von eigentlich 40) war von Wehen nicht mal im Ansatz etwas zu bemerken! Mit einem selbstgemixten Cocktail aus Rhizinusöl und Aprikosensaft – sonntags am Berliner Hauptbahnhof erstanden- haben wir ihm also einen Tritt in den kleinen Allerwertesten gegeben, um einer echten Geburtseinleitung aus dem Weg zu gehen, die mir am Montag Früh um 07h sonst bevorgestanden hätte. Und vor der ich echt Angst hatte. Die Vorstellung ärztlicher Eingriffe hat mir schon immer Angst gemacht, und sobald Nadeln und Chemie mit im Spiel sind, finde ich immer eine Ausrede. Eine quälend lange Geburt mit einer misslungenen PDA folgte (Nadeln, Chemie, Angst – das konnte nix werden) folgte, und von den unglaublichen Schlafschwierigkeiten des kleinen Kerls der ersten Monate habe ich bereits berichtet (DifferentPlanet-Beitrag „Ist das asperger-typisch – Gibt es frühe Anzeichen überhaupt? vom 13.4.2020). Wirksame Abhilfe schuf ein Buch mit einer Methode, die heute offenbar als Misshandlung eingestuft ist und vom Markt genommen wurde. Auf mein Bauchgefühl habe ich damals vielleicht nicht gehört, oder vielleicht auch doch, ich weiß es nicht, jedenfalls ist man ja ab einem gewissen Grad der Erschöpfung auch nicht mehr Herr seiner Sinne. Rückwirkend betrachtet könnte das alles wie eine Aneinanderreihung von Fehleinschätzungen wirken.
Wonach man beurteilt, wer und wie man eine gute Mutter ist, weiß ich nicht (für alle die da gerne schnell und tief ins Bewertungsglas greifen, darf ich mal meinen Vater zitieren: „nichts erzieht sich leichter als die Kinder anderer Leute“), aber ich gehörte mindestens in den ersten Jahren zu den Müttern, die sich immer latent überfordert gefühlt haben. Vielleicht war ich aber trotzdem eine „gute“ Mutter, keine Ahnung. Ich fühlte mich jedenfalls sicherer damit, sehr schnell wieder mit meiner selbständigen Arbeit zu beginnen, die ich immer sehr mochte, und bei der ich mich „gut“ und kompetent gefühlt habe.
Mein Kind habe ich bereits von der ersten Sekunde der Schwangerschaft sehr geliebt! Ich hatte damals an alles gedacht, aber sicher nicht an Schwangerschaft, so dass mir erst recht spät klar wurde, warum mir das Après-Ski-Angebot in dem Jahr nicht so recht Freude bereitete. Als es mir eines Morgens wie Schuppen von den Augen fiel, war ich entzückt, aufgeregt und schockverliebt! Und so ist es seit über dreizehn Jahren ungebrochen – einige Momente natürlich ausgenommen. Und dennoch: das, was ich heute im Rückblick als frühe Anzeichen seines Asperger-Autismus bezeichne, hat mich verunsichert. Meine Wahrnehmung, dass bei uns irgendetwas anders läuft als bei anderen, dass Anregungen und Ratschläge grundsätzlich nach hinten losgehen, das habe ich auf mich bezogen. Ich war sicher, irgendetwas nicht richtig zu machen. Andere Kinder finden doch auch irgendwann einen Rhythmus. Irgendwann kann doch jedes Kind mit in den Supermarkt, ohne dass es spätestens an der Kasse völlig durchdreht und dann den restlichen Tag und die folgende Nacht noch überreizt ist. Und wenn das nicht klappt, mache ich doch wohl was falsch. Glasklar.
Dieses Gefühl sitzt noch heute sehr tief. Es ist seit der Diagnose anders geworden, irgendwie leichter. Nicht, weil ich recht hatte. Sondern weil jemand dem Kind einen Namen gegeben hat. Weil ich Menschen zum Austausch gefunden habe, die das gleiche erlebt haben, mit denen der Austausch von „Tipps und Ratschlägen“ Sinn macht, weil ihre Kinder so sind wie meins. Und weil uns Hilfe zur Seite gestellt wurde. Menschen, die sich mit Autismus auskennen, die uns beraten und begleiten. Eine Ärztin, zu der ich Vertrauen habe, eine Bearbeiterin bei Jugendamt, die uns die Hilfsangebote erklärt, ein Eingliederungshelfer, der seit über 30 Jahren Kinder und Jugendliche mit Autismus unterstützt und eine Schulhelferin, die sich durch ihre Kompetenz als Mutter, Expertin für unseren Sohn und Kenntnis aller Hürden im Schulalltag unentbehrlich gemacht hat. Dazu kommt unser Umfeld, unsere Familie und Freunde, die, die bereit sind, all die Besonderheiten mitzutragen, und im zumutbaren Rahmen Rücksicht nehmen. Ich kann es nicht oft genug sagen: es reicht, wenn EINER anders ist, um alles zu verschieben. Nicht nur unser Großer „hat Autismus“. Wir ALLE „haben Autismus“. Ob wir wollen oder nicht. Wir sind im Boot. Wir sind nicht spontan. Unser Großer ist am Nachmittag oder Wochenende nicht verabredet. Besuche für den kleinen Bruder werden bevorzugt auf Tage gelegt, an denen der Große lange bei seiner Schulhelferin ist. Wir verreisen i. d. R. nicht mit anderen Familien, sondern wir bleiben unter uns. Zu groß ist die Gefahr der sozialen Überforderung. Besuchen wir Oma und Opa, dominieren einerseits die Besonderheiten unseres Großen, aber auch das, was ich und auch mein Mann dazu instinktiv im Gepäck haben: nicht zu laut, nicht zu viele, was gibt es zu Essen, wann gibt es Essen, kann man eine spontane Verschiebung verhindern? Das alles ist in mir, läuft per Autopilot und gehört dazu.
Doch heute habe ich das Gefühl, eine „sichere“ Mutter für meinen Großen zu sein. Ich verstehe langsam, wie das geht, Mutter eines Autisten zu sein. Ich habe ein Gefühl dafür entwickelt, wann, wie und wo ich mir Hilfe hole, ohne ein Thema von mir wegzuschieben. Die Pubertät wird da doch wohl ein Klacks…(ähäm).
Es ist für mich zwar kaum zu glauben, aber in dieser Woche wird DifferentPlanet ein Jahr alt. Seit einem Jahr schreibe ich wöchentlich, was mich in Bezug auf mein autistisches Kind, unsere Familie und das weitere Umfeld bewegt. Auch ein paar Ausflüge in die Welt von ADHS, Savants und Hochsensiblen habe ich gemacht. Aber letztlich dient mir der Blog dazu, mich mitzuteilen. Mir über das, was auf mir lastet, klar zu werden, mir meinen Spiegel glattzuziehen. Das ist meine Art, mich zu erleichtern, und meine Art, mein Umfeld davor zu schützen, immer und immer nur von ihm, meinem Großen, zu reden, oder es alternativ nur mit mir selbst auszumachen.
Nicht der Blog ist wichtig, sondern die Themen, mit denen er gefüllt wird. Mir zumindest. Den meisten Musikern ist vermutlich egal, ob sich ihre Musik auf einer CD, via Smartphone oder mittels einer Schallplatte verbreitet. Wichtig ist, dass es passiert. Falls einem die Verbreitung überhaupt wichtig ist. Mir ist das wichtig.
Mein Leben ist ganz anders geworden, als ich es vor dreizehn Jahren gedacht hätte. Nicht schlechter oder besser. Aber ganz anders. Die Ablösung von dem was ich erwartet habe, hin zu dem, was es nun ist, war eine echte Aufgabe für mich. Ich habe spät damit begonnen. Auch nach der Diagnose sollte es noch dauern. So richtig, ehrlich und wirklich hat es erst vor einem Jahr begonnen. Und jede Person in meinem Umfeld, jeder Beitrag auf meinem Blog, jeder Austausch auf Instagram und „meinen“ facebook-Gruppen, jede Whatts-App, E-Mail und alle Kommentare, die ich bekommen habe, haben dazu beigetragen. Ich habe so viel erzählt, und es gibt noch so viel mehr. Aber es brennt nicht mehr an jeder Ecke in mir. Die Feuer werden weniger, und die Flammen sind unter Kontrolle. Ich glaube, es reicht, mich ab jetzt nur noch jeden zweiten Samstag mitzuteilen, und nicht mehr jeden.
Das war gewissermaßen mein DifferentPlanet-Geburtstags-Ego-Bericht. Ich freue mich, dass ich so viele treue Leser/Innen habe, und darauf, weiter mit euch zu teilen, wie meine Besuche auf dem anderen Planeten verlaufen. Wir lesen uns in 14 Tagen!
Danke, dass Du Dir die Mühe machst, das niederzuschreiben, wozu wir im Alltag nicht fähig sind. Regelmäßiges ausflippen ja, müde erschöpft, wen frage ich um Hilfe und um welche Hilfe überhaupt, ich kann doch nicht alle meine Gedanken mitgeben, „achte bitte auf dit und dat usw“, und mal sich selbst mitteilen, das geht gar nicht, man hat ja schließlich selbst ein Kind gewollt und jetzt nöl nicht rum. Von wütend werden ganz zu schweigen, man darf das doch gar nicht, liebevolles Begleiten muss sein. Am A…! Sorry.
Ich muss mal nölen und ich bin auch oft geschafft und ich bin kaum mehr stark, keine Ahnung woher ich Stärke zaubern soll, und manchmal gibt es auch gute Tage. Die machen glücklich, aber stärken nicht.
Jetzt schnell ein Kinder-Pingui zum Überleben! Danke nochmal!