Ein Vater reflektiert den Diagnoseweg seines Sohnes
Dass Männer und Frauen unterschiedlich sind und manchmal auch auf unterschiedlichen Planeten leben, ist altbekannt. Dass die pauschalen Vorurteile bzgl. dieser Unterschiede kaum zu verallgemeinern sind, auch. Zur Verallgemeinerung taugt aber vielleicht die Annahme, dass Eltern eine mögliche Erkrankung, Entwicklungsstörung oder Behinderung ihres Kindes unterschiedlich empfinden und verarbeiten.
In den mir bekannten Schilderungen ist es zudem so, dass die Mütter sich früher und intensiver damit auseinander setzen und die Väter gewissermaßen zeitlich und inhaltlich hinterherkommen. Bei manchen Elternpaaren führt dies zu Spannungen, weil sich einer allein gelassen fühlt und der andere von dem Thema irgendwie „genervt“ ist.
Nun wollte ich mal von einem Vater aus erster Hand erfahren, wie es bei ihm war. Ganz raushalten konnte sich die dazugehörige Mutter nicht, also kam sie auch zu Wort.
„Es war ja schon ziemlich lange problematisch“ erzählt der Vater. „Immer diese Streits mit unserem Sohn und die komischen Probleme. Dazu die Überlegungen, was man selbst alles falsch macht und die gut gemeinten Erziehungstipps von anderen. Ich fing ja schon an, an Charakterfehler meines Kindes zu glauben! Anstrengend! Und plötzlich stand der Autismus-Verdacht im Raum, also Asperger. Ich wusste quasi nichts darüber und wollte es auch nicht wissen.“
„WIESO DENN NICHT???“ ist jetzt wohl die naheliegendste Frage. Und zumindest ich habe an dieser Stelle alle Unterstellungen und Zuschreibungen, die Frauen für Männer so übrig haben: Verdrängung, weil es zu schmerzhaft ist. Nicht akzeptieren wollen, dass mit dem eigenen Kind „was anders ist“. Mangelndes Einfühlungsvermögen. Sowas halt.
„Das war einfach zum Energie sparen. Ich war beruflich viel auf Reisen, ich hatte einfach keine Kapazität für Dinge, die mal so im Raum stehen.“ Der dazugehörigen Mutter merkt man ihre Irritation an. Ihr Blick sagt sowas wie „ich glaub dir kein Wort. Du hast das verdrängt!“. Schwesterlich greife ich die Frage ihres Blickes auf: „Hast du das verdrängt?“ „Ja.“, sagt der Papa tapfer. „Ich hatte keine Zeit und keine Ressourcen. Das war keine emotionale Entscheidung, sondern eine ganz rationale. Ich fand Asperger weder toll noch schlimm. Ich fand da gar nichts zu. Es kam in meinen täglichen Gedanken einfach gar nicht vor.“
Achtung: feld-wald-wiesen-alltagspsychologische Verallgemeinerung: DAS könnten Mütter nicht! Sie können die Gedanken an ihre Kinder nicht nicht-vorkommen lassen. Es wird hier grade richtig interessant. Also weiter: „Außerdem hatte ich das Gefühl, dass meine Frau richtig im Thema ist. Die kannte sich gut aus, hat die Testungen eingeleitet und hat sich intensiv gekümmert. Was soll ich jetzt da jetzt auch noch rummachen?“
„Warst du überfordert damit?“ will ich wissen. „Ja. Aber nur zeitlich.“ Der Angeklagte wirkt glaubhaft. Vielleicht stimmt das ja. Die Mutter sieht aus, als würde sie was sagen wollen. Ich gucke sie auffordernd an und sie sagt: “ Ich war schon irritiert. Ein bisschen Feedback und Austausch hätte mir schon geholfen. Ja, stimmt, ich war komplett im Thema und hab das alles hier gemacht. Zur Sache selbst hättest du vielleicht nichts beitragen können, aber zu meiner Erleichterung.“ Nun isser doch wieder auf der Anklagebank, der arme Kerl. Ich versuche mal, ihn in den neutralen Zeugenstand zu verfrachten: „Was kam denn dann?“
Die Mutter mischt sich nochmal ein und sagt, dass nach den psychologischen Testungen erst ein standardisiertes Gespräch zwischen der Psychiaterin und ihrem Sohn stattfand und dann eines zwischen den Eltern und der Ärztin. „Die Fragen haben sich richtig angefühlt. Die hatten alle was mit unserem Sohn zu tun.“ berichtet der Vater. Die Mutter springt bei: „In dem Gespräch war ich sehr froh, dass Du so wenig über Asperger wusstest. Ich hab mir selbst nicht mehr ganz getraut, ob ich jetzt wirklich ehrlich antworte, oder ob ich das Gespräch in eine Richtung lenken will.“ „Die ganzen anderen Diagnosen, die vorher gestellt wurden, also Lese-Rechtschreibschwäche, Lernschwierigkeit und so – die wirkten irgendwie nicht zielführend. Aber diesmal hatte ich ein anderes Gefühl“, erzählt der Papa. „Irgendwie war ich trotzdem ein bisschen überrascht, als uns im Auswertungsgespräch von der Psychiaterin gesagt wurde, dass sich der Autismusverdacht bestätigt hat. Und erleichtert. Endlich hat das Kind einen Namen. Als ein bisschen Zeit vergangen war, und ich mich auch eingelesen und informiert hatte, da habe ich es richtig genossen, dieses Gefühl, zu wissen, was los ist. Die zu nichts führenden Überlegungen, ob man selber Schuld am Verhalten und an den Problemen des Kindes trägt, die konnten damit aufhören. Und ich weiß noch, dass ich danach mal mit dem Kleinen auf dem Spielplatz war, und ich ihn plötzlich durch eine ganz andere Brille gesehen habe. Seine Andersartigkeit, sein merkwürdiges Verhalten – ich konnte das plötzlich genießen, ohne mich dass ich mich genötigt fühlte, das zu korrigieren.“
Die Herangehensweise und die Einstellung in der Zeit vor der Diagnose, die unterscheidet das Paar. Einig sind sie sich darin, dass sich schon während der Diagnose irgendwas „richtiger“ angefühlt hat als vorher. Für die Mutter bleibt schwer zu verstehen, wie er sich davor einfach nicht damit beschäftigen konnte. Ich beginne, Verständnis für ihn zu entwickeln. Was, wenn es nicht Autismus gewesen wäre? Dann hätten sich zwei Personen tief in etwas hineingearbeitet, was für sie nicht relevant geworden wäre. Ich finde überraschend, dass auch der Vater der Diagnose „Asperger-Autist“ so viel positives abgewinnt. Auch ich unterstelle gerne und schnell, dass jemand mit etwas nicht klarkommt, wenn er sich nicht so offensiv mit etwas beschäftigt. Das scheint nicht grundsätzlich zu stimmen. Ich zum Beispiel komme gut damit klar, dass unsere Mülltonnen regelmäßig geleert werden, obwohl ich mich noch keine Minute mit dem dahinterliegenden Prozess beschäftigt habe. Das macht alles mein Mann.
„