Wie erlebt die Schulhelferin meines Asperger-Sohnes ihren Alltag?
Dass wir die weltbeste Schulhelferin haben, erwähnte ich ja schon häufiger. Besonders ist, dass unser Verhältnis schon lange begann, bevor sie „unsere“ Schulhelferin wurde. Unser Großer ist jetzt 12. Die Schulhelferin ist seit 12 Jahren an unserer Seite. „Das dritte Elternteil“ nennen wir sie oft. Heute erzählt sie die Geschichte aus ihrer Sicht:
„Ich kenne L. schon als Baby. Unsere Familien waren seit vielen Jahren befreundet, und ich habe ihn oft und gerne nachmittags betreut. Wir hatten ein enges Verhältnis, und ja, er hatte von Anfang an Besonderheiten. Aber mein L. – ein Autist? Mit motorischer Beeinträchtigung?? Zuerst war ich überrascht, aber jetzt, ja, im Nachhinein, da wird mir doch vieles klar. Ich habe selbst drei sehr unterschiedliche Kinder, aber das macht Kinder ja grade so zauberhaft und besonders! Unter diese zauberhaften Unterschiede habe ich auch L.’s Eigenheiten einsortiert: dass er lieber zu Hause mit mir backte und knetete als draußen mit Gleichaltrigen zu sein. Und dass ihm der Kindergarten oft Mühe machte. Aber er war immer fröhlich und freundlich. Irgendwie ganz normal.
Er kam dann auf die Grundschule, an der ich bereits seit zehn Jahren als Lerntherapeutin tätig war. Eine sehr kleine Schule, die L. schon von Besuchen mit mir kannte. Eigentlich war es ganz normal für ihn, jetzt täglich dort zu sein. Doch der Unterricht war anstrengend für ihn. Stillsitzen, abwarten, sich nicht zurückziehen zu können, organisatorische Abläufe… Eine riesige Herausforderung war dieses „Drumherum“ für ihn – Hefter weglegen und wiederfinden, Stifte in ein Mäppchen sortieren, auf dem Blatt oben links mit dem Schreiben beginnen, puh. Viel besser ging es ihm, wenn er sein Allgemeinwissen anbringen konnte oder von seinen intensiven Interessen erzählen durfte. Für mich war das total normal, das war ja mein L., so wie ich ihn kannte. Doch bald wurde seine immer größer werdende Unruhe sichtbar und kleine Ticks machten sich bemerkbar. In dem Alter aber eigentlich auch noch nicht so ungewöhnlich. Bei den anderen Kindern war L. beliebt. Einladungen zu Geburtstagen hielt er dennoch versteckt, und auch auf den Schulhof ging er nicht gerne. Viel lieber saß er auf seinem Platz, geschützt mit dem Rücken an der Wand. In der Hausaufgabenbetreuung war er gern gesehen, denn er unterhielt sich mit den Pädagogen „wie ein Großer“.
Noch wirkte alles irgendwie normal. Bis zur Klassenfahrt in der 2. Klasse. Ich war dabei und habe miterlebt, wie dort die Ticks richtig stark wurden und er sich dann auch veränderte. Er fehlte sehr oft und wurde nun auf vielfachen Rat viel getestet. Das alles war sehr, sehr anstrengend für ihn. Als in der 4. Klasse die Diagnose kam, konnten wir endlich Schritte in die richtige Richtung machen! Bei einem Träger wurde schnell eine gute Schulhelferin gefunden, aber mehr als 10 Wochenstunden waren so schnell nicht drin. So wurde ich als zusätzliche Schulbegleitung von der Schule noch für weitere 13 Stunden eingesetzt. Jetzt war nichts mehr normal, aber L. und ich, wir hatten ja immer dieses Grundvertrauen zwischen uns. Das hat geholfen. Wir sind einfach losgegangen auf diesem aufregenden Weg.
Einer der ersten Schritte war die Aufklärung der Mitschüler und der Eltern. Was ist denn Asperger? Wieso braucht man da einen Erwachsenen, der mit zur Schule kommt? Warum hat mein Kind sowas nicht, der ist auch nicht gerne auf dem Pausenhof!? Der Klassenlehrer hat den Prozess großartig unterstützt. In Absprache mit L. und den Eltern wurde „Asperger“ das Thema einer Schulstunde. Wir haben einen Film geguckt und die Kinder haben Fragen gestellt. L. hat alles beantwortet. Er war so erleichtert und hat viel erzählt. Wir beiden Schulhelferinnen, der Klassenlehrer und L – wir sind ein super Team geworden und haben in den letzten beiden Klassen der Grundschule, die in Berlin ja sechs Jahre geht, toll zusammengearbeitet. Aber wir mussten uns auch erst an die Aufgaben herantasten. Wann und wo benötigt er Unterstützung, um so wie die anderen Kinder am Unterricht teilnehmen zu können? Welche Schwäche ist wirklich Asperger? Sortiere ich grade Stifte ein, weil er zu faul ist? Oder behindert ihn seine motorische Beeinträchtigung?
Alle gemeinsam haben wir dann begonnen, Maßnahmen zu entwickeln: Wir haben ihm ein extra Schubladenregal angeschafft und eine Farbcodierung für jedes Fach eigenführt. Und versucht, Handlungen zu planen – eine große „aspergerische Schwäche“: Hausaufgaben bekommen, eintragen und erledigen sind Schritte, die zusammengehören. Uns ist das klar. L. nicht. Als Schulhelferin sitze ich ja mit im Unterricht. Ich kenne ihn so gut, ich weiß, wann es Zeit ist, ihm die Noise-Cancelling-Kopfhörer zu bringen, den Unterrichtsraum zu verlassen um auf dem Schulhof mal durchzuatmen, wenn die Reize zu intensiv werden. Und ich weiß auch, wann der Moment ist, die Schule für den Tag abzubrechen.
Wichtig ist meine Arbeit auch, wenn Gruppenarbeit angesagt ist. Ich bereite ihn gut darauf vor und moderiere sie. Manchmal geht es nicht, dann macht er die Aufgabe eben alleine, am Einzeltisch. Durch unsere Unterstützung konnte sich L. sich jetzt dem Unterricht widmen. Plötzlich sprudelte er vor Energie und Interesse. Seine Ermüdung und Überreizung kam jetzt deutlich später, so dass er die Klasse nicht mehr „langsamer“ gemacht hat, sondern manchmal sogar schneller! So richtig gezündet hat er, als er das erste Mal eine 1- für einen Test bekommen hat. An dem Tag ist sein Ehrgeiz geboren.
Durch die motorische Beeinträchtigung habe ich viel für ihn geschrieben. Auch Arbeiten, die er mir diktierte. Dazu gehört viel Vertrauen der Lehrer. Und für mich war das auch ehrlich nicht leicht. Wenn er was falsches sagt, muss ich was falsches schreiben. Und nicht nur das: ich darf es mir auch wirklich nicht anmerken lassen! L. sagte irgendwann mal: „Du, I., also so vor 2-3000 Jahren haben Schreiberlinge ja sehr viel Geld verdient!“ Darüber lachen wir noch heute! Manchmal ist aber die Englischlehrerin auch einfach mit ihm rausgegangen und hat die Vokabeln abgefragt. Ich hab so lange die anderen beim schriftlichen Test beaufsichtigt. Interessant, was es für Techniken gibt, Spickzettel zu benutzen… aber ich hab nie einen verraten!
Es war von großem Vorteil, dass mich die Mitschüler schon vorher gekannt haben. Meine Anwesenheit wirkte nicht bedrohlich. Eher normal. Oft kamen die anderen Kinder auch zu mir um was zu fragen. Da L. meistens bei mir war, war das eine gute Möglichkeit, mit den Mitschülern ins Gespräch zu kommen und Aufmerksamkeit für sie zu entwickeln. Die Pausen wurden jetzt langsam angenehmer für L., und er fing sogar an, auf einige seiner Klassenkameraden zuzugehen. Die nächsten Schritte waren – und werden es noch lange sein – seine Selbständigkeit zu finden. Und es gibt auch Rückschläge. Das sind die Momente, in denen ich meine Arbeit am meisten hinterfrage. War ich zu streng? Bin ich zu alt für ihn? Stand mir die Entscheidung überhaupt zu?
Doch unsere Verbindung, unser langer gemeinsamer Weg und unser Vertrauen stützen uns in diesen Momenten. Es macht mich stolz und zufrieden, Teil seines Weges zu sein.
Als vor einem halben Jahr der Wechsel an die weiterführende Schule anstand, da wollte ich ihn weiterbegleiten. Der einzige Weg war, meine Arbeit an der Schule zu kündigen und ausschließlich noch seine Schulhelferin zu sein. L.’s Eltern haben dafür das Persönliche Budget beim Jugendamt beantragt und erhalten. Die neue Schule, Corona und die Pubertät bringen viele neue Anforderungen mit sich.“
Doch daraus machen wir einen Teil II, damit das nicht den Konzentrationsrahmen sprengt. Für mich als Mutter von L. war es wirklich aufregend, das alles aus ihrer Sicht zu erfahren. Nicht, dass wir nicht miteinander reden würden, im Gegenteil, wir pflegen ja täglichen Austausch. Aber so geballt… ICH bin jedenfalls schon mal gespannt auf die Fortsetzung!
Die Geschichte aus der Sicht der „weltbesten“ Schulhelferin, nennen wir sie H., frischt auch bei mir Erinnerungen an die Vergangenheit auf. Zunächst sind es meine Erinnerungen an H. Kennen und schätzen gelernt habe ich sie auf dem Tennisplatz, da warst du liebe Tochter noch ein Baby.
Die erste Besonderheit an unserem Enkel L. haben wir Eltern, als er als kleines Kind das Wort „oben“ geprägt hat. Im Gegensatz zu dem Verhalten der meisten Kinder, daß wenn sie abends ins Bett geschickt werden anfangen zu zetern, war es bei L. so, dass er plötzlich sich aufraffte um die Stufen zu seinem eine Etage höher gelegenen Bett zu erklimmen. Wenn wir ihn staunend beobachteten sagte er immer nur ein Wort „oben“. Wir alle fanden sein Verhalten, im positiven Sinne, bemerkenswert. Etwas anstrengender war es dann schon, wenn L. sich vornahm, uns Anwesenden eine Vorstellung Richtung Theater/Musik zu geben. Dabei achtete er ganz besonders darauf, dass wir alle ruhig und totalkonzentriert bei seiner Aufführung waren. Etwas anderes hätten wir auch nicht gewagt.
Wir Großeltern hatten schon damals das Gefühl, dass unser Enkel z.B. besondere Aufmerksamkeit für sich forderte mehr aber nicht.
Wir Großeltern freuen uns sehr darüber, dass unser Enkel L. zusätzlich zu seinen fürsorgenden Eltern auch noch das Glück hat, nicht nur die weltbeste Schulhelferin an seiner Seite, sondern auch eine gute Freundin zu haben.