Charlotte Martens ist die Mutter von Karl und Max. Karl ist Autist, sein Bruder ist sein größter Fan und Charlotte ist selbständige Psychologin. Sie hat eine Praxis für Familienpsychologie in Wriezen, nicht weit weg von Berlin. Sie bietet dort Therapien für autistische Kinder und ihre Familien an.
Ahaaaaa…nun also doch Therapie? Ich dachte, Autismus ist nicht heilbar?! „Das stimmt auch“ erfahre ich. „Das Ziel meines therapeutischen Angebots ist es, autistischen Menschen ein Höchstmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen und die gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten.“ Charlotte arbeitet u. a. mit Verhaltenstherapie, TEACCH, Kunsttherapie und mehr. Doch ihre „absolute Lieblings-Methode“, sagt sie, „ist Marte Meo.“
Das musste ich erstmal nachschlagen. Marte meo ist lateinisch und bedeutet so viel wie „Eigeninitiative“. Es ist eine Methode der Erziehungsberatung, die in den 70er/80er-Jahren entwickelt wurde, um die Kommunikation in komplementären Beziehungen zu verbessern. Komplementär sind Beziehungen z. B. zwischen Lehrern und Schülern, Therapeuten und Klienten oder Eltern und Kindern. „Marte Meo macht so einen Mut, die Kraft der Bilder wirkt einfach enorm!“ berichtet Charlotte, „denn die Familie wird in alltäglichen Situationen gefilmt, und anschließend werden die gelungen Momente der Interaktion gemeinsam angeschaut und besprochen. Die Familie sieht sich selbst, ihre Gestik, Mimik, die Reaktionen auf allen Ebenen. Gemeinsam und in Ruhe besprechen wir, was vorher nicht wahrnehmbar war, und das bestärkt die Familie, die guten Momente zu wiederholen. Das ist so konkret und real, so positiv. Die Methode wirkt unglaublich gut. Auch bei autistischen Kindern, aber nicht nur.“ – Ja, kann ich mir vorstellen.
Charlotte Martens‘ Angebot richtet sich explizit an die gesamte Familie. Und zu der gehört nicht selten ein weiteres Kind. Und das hat manchmal nicht genug Raum und Zeit neben seinem anderen Bruder oder seiner anderen Schwester. Das ist eines von Charlottes speziellen „Hinguckern“, und damit trifft sie auch bei mir ins Schwarze. (Im DifferentPlanet-Beitrag „Das ist ungerecht!“ vom 13.02.21 habe ich das verarbeitet.) Aber noch etwas anderes treibt mich bei den Geschwisterbeziehungen um: lernt das nicht-autistische Geschwister autistische Verhaltensweisen des autistischen Bruders oder Schwester und wird dann fälschlich als autistisch diagnostiziert?? Kann das wirklich passieren?? So wird es mir immer wieder nahegelegt, aber sorry: daran will ich nicht glauben! Aber nicht mal ich selbst interessiere mich jetzt für meine Meinung dazu, sondern ich möchte Charlottes Experten-Meinung hören. Sie sagt z. B., dass die nicht-autistischen Kinder auch eine gute Lernquelle für die autistischen sind. So herum hab ich das noch nie gesehen… Aber die schönste Erkenntnis ihrer Untersuchung zur wechselseitigen Wahrnehmung der autistisch – nichtautistischen Geschwisterbeziehungen war: „Alle Geschwister liebten das andere und fühlten sich auch vom anderen geliebt. Trotz des unterschiedlichen Ausdrucks der Liebe waren sie sich alle sicher.“ Wow, das ist schön! „Und trotzdem: es gibt da enorme Widersprüchlichkeiten. Das autistische Kind weist sein Geschwister häufig zurück (aber wie! Anm. d. Red.) und liebt es dennoch. Und da kommen die Eltern ins Spiel: die neurotypischen Kinder müssen altersgerecht einbezogen werden und Autismus erklärt bekommen. Sie müssen ihm helfen zu verstehen, dass Zurückweisung und Liebe gleichzeitig möglich sind. Daraus können sie unglaubliche Fähigkeiten entwickeln und lernen, Widersprüche auszuhalten.“
Das klingt alles nach konkreter Hilfestellung für den Familienalltag. Charlottes Sichtweisen und Erkenntnisse tun gut. Und sie weiß vermutlich selber, dass nicht nur die Geschwister lernen müssen, dass sich Zurückweisung und Liebe nicht ausschließen müssen. Auch ich hab daran zu knapsen. Obwohl ich weiß, dass mein Kind mich liebt, und obwohl ich weiß, dass seine Art es zu zeigen etwas – ääh, ungewöhnlich? – ist.
Ein Schlusssatz zum Thema der möglicher Weise falschen Diagnosen bei Geschwistern (es lässt mich einfach nicht los!). „Das ist noch nicht so gut erforscht.“ (herrje!) „Es gibt familiäre Häufungen von Autismus-Diagnosen, und die Geschwister zeigen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch Symptome. Ob das an der genetischen Disposition liegt oder an der Vorbildfunktion – das müsste noch mehr erforscht werden.“ Ok, ok, alles klar.
Vom Austausch mit Charlotte habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, dass der kleine Kartoffelkönig langsam mal aufgeklärt werden muss, warum der große Aspi sich manchmal komisch verhält. Und dass er ihn auch in den Momenten liebt, in denen er ihn hart zurückweist. Die „Besonderheit der autistischen Weltsicht“, wie Charlotte es formuliert, „bringt eine hohe Belastung mit sich. Für die Neurotypen und die Autisten der Familie.“ Aber auch ganz viele Chancen, die Welt von vielen Seiten zu betrachten!
Falls Ihr mehr über das Angebot von Charlotte Martens erfahren wollt, besucht sie hier: http://www.praxis-familie.de