„Ja, ok, dann tschüühüüs“ ruft mein Großer ins Händi, mitten in den Satz, den Papa grade zu ihm sagt, und legt auf. Er gibt mir das Händi zurück und sagt kopfschüttelnd „Der will sich ja auch immer noch unterhalten, ne?“ Ich schmunzel in mich hinein, und weiß, dass mein Mann das auch grade macht. Er befindet sich beruflich auf Reisen und mein Großer ruft gerne immer denjenigen von uns an, der sich gerade aushäusig befindet. Man bekommt Fragen gestellt wie „Wie geht es Dir?“ oder „was machst du gerade?“ oder „wann kommst du denn?“. Wir als Normalos haben das noch nicht so richtig gecheckt, wie das geht, autistisch zu antworten. Anstatt mit knackigen Fakten zu schießen, verfallen wir in das neurotypische „ach, Du, alles gut bei mir. Ich steh grade an der Supermarktkasse und eben, da hab ich Frau Müller getroffen, die mir erzählt hat, dass -“ „Ja, ok, dann tschühüss!“. Ach so.
Wie schon häufiger erwähnt, kann ich zum Thema „Autismus/Asperger“ nur aus subjektiver Erfahrung mit einem einzigen Kind, auch noch meinem eigenen, sprechen. Das entbehrt natürlich jeglicher Allgemeingültigkeit oder Expertise, aber – ich lehne ich mich jetzt mal aus dem Fenster und behaupte: diese Art zu telefonieren ist ganz, ganz viel Asperger. Und nein – nach all den Jahren als Eltern eines Aspergers sprechen wir die Sprache immer noch nicht richtig. Wie man am Telefonbeispiel merkt.
Nur zu gut erinnere ich mich an die zermürbende Zeit kurz vor der Diagnose, an die Anspannung in der Diagnosephase und auch an die Verunsicherung, die auftrat, als wir die Diagnose dann frisch hatten. Natürlich hab ich versucht, andere Eltern zu finden, in der Hoffnung, dass die ständig laut rufen: „Ja! genauso war es bei uns auch! Da musst du dies oder das machen!“ oder „Genau! Das kenne ich, da habe ich aber einen guten Tipp, das funktioniert bei allen!“ P U S T E K U C H E N! So funktioniert das leider nicht.
Da ich aber doch häufig angesprochen oder -geschrieben werde mit Fragen dazu, wann ich bei unserem Sohn welche Symptome festgestellt habe und welche Hilfen man in den Alltag integrieren kann, hab ich die letzten Jahre eigener Erfahrungen (mit genau einem Kind), kombiniert mit dem regelmäßigen Austausch mit seiner Psychiaterin und dem Teilhabehelfer, der klinischer Psychologe und spezialisiert auf autistische Störungen ist, mal zusammengefasst und versucht, das handhabbar zu machen. (Ich kann einfach lange Sätze!).
Ich möchte nicht zum tausendsten Mal das Störungsbild beschreiben, sondern die Symptome, die in unserem Alltag auffällig sind. Manche brauchen Unterstützung, manche nicht. Manche stören, andere sind toll! Denn eines muss man ja sagen: nicht jeder Autist findet jedes seiner Symptome störend! Mein Großer z. B. genießt seine Spezialinteressen. Er fühlt sich wohl damit, er recherchiert dazu, erzählt davon, weiß Bescheid, fühlt sich kompetent und wir haben Gesprächsthemen. Was ich alles über Autos, Haie, Fußball, Kochen, Krieg der Sterne und seit einiger Zeit auch über sehr spezielle gesellschaftliche oder politische Themen gelernt habe.
Damit sind wir schon bei einem der bei uns auffälligsten Symptome: Spezialinteressen. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Aspis – jung oder alt – nicht darunter leiden, im Gegenteil. Beim Umfeld könnte das natürlich anders sein, denn die niemals endenen Monologe sind schon irgendwie anstrengend. Und je älter man wird, desto auffälliger wird die mangelnde Sozialkompetenz in diesem Bereich, finde ich. Kann man das unterstützen? Jein. Man kann jeden Tag üben, Dialoge zuzulassen, auch Gespräche mit mehreren, z. B. beim gemeinsamen Essen. Jeder darf was sagen. Wenn ich das richtig einschätze, schleift sich diese Kompetenz bei ihm nicht ein, aber mein Aspi ist in der Lage, sowas über den Verstand zu lösen – er lernt es wie Vokabeln . Wir sind da momentan ganz gut, aber nach gemeinsamen Mahlzeiten mit den beiden, oder sogar zu Viert, bin ich immer erstmal völlig erschöpft… Ich schätze mal, das Vorurteil „nerdy“ kommt aus diesem Bereich.
„Mama – siehst du nicht, dass seine Bewegungen nach dem immer gleichen Muster ablaufen? Immer erst das Springen, dann die Drehungen, dann das Schütteln! Das muss dir doch auffallen!“ Mir fällt hier gar nix auf, außer, dass der Kleine mal wieder Terror vor dem Abendessen macht und anstatt sich hinzusetzen laut schreiend durch die Zimmer spurtet. Stimmt das? Läuft das nach einem Muster ab? Das wäre ja ein Ding. Ich seh kein Muster, ich hör nur Schreien und bin genervt, dass er jeden Abend diesen Anfall bekommt, bevor er sich zum Essen setzt – bis zu 3 Minuten am Stück. Aber mein Großer besteht drauf. Und Autisten sehen Muster. Sagt man. Ich erinnere an unseren Streit, weil ich behauptet habe, dass sie ähnliche T-shirts tragen. Ich meinte die Farbkombination. Mein Großer war völlig entnervt, weil das Muster ja nicht gleich war. Wen interessieren Farben! Ich hab das Muster gar nicht bemerkt. Irgendwelche Streifen halt. Ist das ein Problem? Nein! Eine Kompetenz! Wenn man die mit anderen kombiniert, kann man doch was tolles draus machen. Aber es wächst sich mit zunehmendem Alter zu einem ziemlich auffälligen Symptom bei uns aus.
Sehr auffällig finde ich die für Normalos ungewöhnliche Beziehung zu Alltagsgegenständen… Das hört man oft von Autisten. Sie benötigen, um zur Ruhe zu kommen, keine Kuscheldecke oder Mama, sondern Glasflaschen, Kühlpacks & Co. Also: im Bett beispielsweise, zum Schlafen. Ist das ein Problem? Jein, finde ich. Es kommt erstmal auf die Gegenstände an. Ich hab auch schon von Plastiktüten gehört. Kombiniert mit Tics und Zwangsstörungen kann da eine gefährliche Mischung draus werden. Bei uns lassen sich diese Beziehungen zu den für die Situation ungewöhnlichen Gegenstände nicht abstellen oder kompensieren. Ohne seine Dinge würde er vermutlich niemals schlafen. Aber es sind auch keine wirklich gefährlichen Gegenstände. Ich hab beschlossen, dass wir das Thema einfach wegschieben. Aber was ich so lese und gehört habe, ist es eines der auffälligsten Symptome.
WANN hab ich all das denn irgendwie bemerkt? Das kann ich nicht beantworten, zumal man hinterher ja immer schlauer ist. Aber: viele der störenden Symptome wie Tics und Zwangsstörungen traten in Phasen der Veränderung auf. Wechsel vom Kindergarten in die Schule, Umzug, Geburt des Bruders. Das hat jedes Mal zu einer Art „Symptom-Schub“ geführt. Und diese Symptome sind dann auch geblieben. Wir versuchen, (große) Veränderungen zu vermeiden. Manchmal geht das aber nicht. Manchmal muss ein neues Bett her, die Schule muss irgendwann gewechselt werden, und ja – eines Tages werden in einem unserer Stammreiseziele mal ein anderes Zimmer bekommen, weil es einfach nicht anders geht.
Dann wird uns die Zeit helfen, unsere gemeinsamen Erfahrungen, und es wird uns etwas helfen, zu dem ich jede/n Leser/in ermutigen möchte: übt besonders mit den anderen Kindern, sich begreiflich zu machen. Verschweigt ihnen ihr Anders-Sein nicht, sie wissen es eh. Helft ihnen, mutig zu sagen: „Ich bin Autist. Ich kann damit nicht umgehen. Ich habe Angst vor dem neuen Bett, wenn es eine andere Farbe hat als das alte.“
Ich bin so stolz auf meinen Großen, weil er das jetzt echt schon gut kann, und mir damit hilft, wenn ich wieder was will, was für ihn total schlimm ist („GUCK MAL! Was für tolle Vorhänge! Möchtest du die für dein Zimmer??“). Dann springt er für sich selbst ein und sagt mir, was ich mal wieder vergessen habe: wir ticken komplett unterschiedlich.
Ich, Mama, spreche immer noch nicht Asperger. Aber ich lerne!