und Stille Stunden bei SPAR
Manchmal wundert man sich ja. Ich zum Beispiel hab mich heute darüber gewundert, dass ich was gehört habe, von dem ich gedacht hätte, dass ich es längst gehört hätte, falls es das gibt. Ich hatte es aber bisher nicht gehört, und trotzdem gibt’s das: Hotels für Autisten! Also nicht solche, wo man seine Kinder quasi wie in ein Camp gibt, sondern als Urlaubskonzept für die ganze Familie. Jeder, der schonmal mit einem autistischen Kind auf Reisen gegangen ist, weiß, dass das durchaus etwas ist, was man sich mal näher betrachten könnte.
Dass es autismusfreundliche Kinovorstellungen gibt, wusste ich. Da ist es dann nicht so dunkel, nicht so laut und man darf auch vorsichtig herumlaufen. Eigentlich funktioniert es nach dem gleichen Prinzip wie Vorstellungen für kleine Kinder, denen es ja auch oft zu viele Reize im Kino sind. Ich finde diese „reizärmeren“ Vorstellungen sehr angenehm, ich war mal mit dem Kleinen dort. Wir durften auf den Treppen im Gang sitzen, weil er sich nicht in die Sitzreihen getraut hat, es war während der Vorführung nicht ganz dunkel und auch der Ton des Films war deutlich angenehmer als bei klassischen Kinovorstellungen. Herrlich war das!
Aber zurück zu den Hotels: Beim Recherchieren habe ich zunächst zwei Hotelprojekte dieser Art herausgefunden. Während das eine auf eine reizarme Umgebung setzt und hauptsächlich Familien mit Autismus- oder Aufmerksamkeitsstörungen „einlädt“, hat das andere eine Art „Beschäftigungsprogramm mit Gleichgesinnten“ im Angebot. Denn Eltern autistischer Kinder machen im Urlaub die Erfahrung, dass der Stress der Reise, des Ortswechsels und des veränderten Alltags dazu führt, dass die Kinder im Urlaub noch enger bei ihnen sind als zu Hause (wo sie ja i. d. R. zur Schule oder in den Kindergarten gehen, ein eigenes Zimmer haben, zumindest teilweise in ihrem eigenen Bett schlafen, etc.). Während viele Familien gerne in größeren Gruppen mit anderen Familien reisen, Cluburlaub oder andere Szenarien wählen, in denen sich die Kinder mit ihren Altersgenossen austoben können, rücken Familien mit autistischen Kindern im Urlaub noch enger zusammen. Ähäm.
Jedenfalls setzt dieses eine Hotel auf Interaktionen: Autisten treffen Autisten in angeleiteten Programmen. Na! Das wäre doch was! „Angeleitet“ klingt schonmal SEHR GUT. Und mein Großer wünscht sich ja auch Kontakt! Er spricht nur die Sprache der anderen nicht. Er weiß nicht so gut, wie das geht, und worüber man dann so redet. Und momentan, in der Pubertät, ist es besonders kniffelig, weil da schon gar nicht mehr gilt, WAS gesprochen wird, sondern eher WIE und WER und MIT WEM und sowas. Wenn dann da andere wären, die so sind wie er… cool… Sag ICH. Die Mutter. Müsste man rausfinden, ob er das dann auch so „cool“ findet. Falls dieses Hotel die Pandemie überlebt…
Im DifferentPlanet-Beitrag „Schwere Veränderungen“ vom 6.6.2020 hab ich ja schonmal erzählt, dass Urlaube durchaus erfolgreich sein können, WENN man immer wieder an den gleichen Ort fährt, das selbe Zimmer buchen kann, in dem sich möglichst nichts verändert hat, usw. Wenn es dazu noch moderierte Aktivitäten gibt, die interessant für meinen Großen – oder für beide?! – sind, das wäre wirklich toll!
Auf die Hotels gekommen bin ich über einen Bericht in einer normalen, klassischen Zeitung ohne besondere Zielgruppe. Das fand ich einen ziemlich spannenden Aspekt an dieser Angelegenheit. Denn, ja, natürlich, es gibt in den „Medien für Alle“ immer wieder Berichte über Einzelpersonen mit Autismusstörungen, ADHS, Hochbegabung, etc. Diese Berichte klären immer so ein bisschen auf und sensibilisieren uns Normalos für die Besonderheiten der Anderen. Und die Interessensverbände, wie z. B. autismus deutschland e. V., stellen naturgemäß ihre spezifischen Veranstaltungsangebote zur Verfügung, richten sich dabei aber logischer Weise eher an Betroffene und ihr Umfeld. Aber viel mehr „Verzweigung“ hab ich bisher noch nicht so wahrgenommen. Jetzt hab ich aber schon mal die Kinovorstellungen und die Hotels für Autisten „eingesammelt“. Aus Berichten in normalen Medien. Hört man da langsam die Inklusions-Nachtigall trapsen?? Da guck ich doch mal weiter. Und stoße erstmal nur auf kleinere Veranstaltungstipps in Medien, die dann doch ganz klar eine besondere Zielgruppe haben: Autismusverbände, die auf Theatervorstellungen und reservierte Tage in Zoos für Autisten aufmerksam machen. Das ist super, aber das beeindruckt mich hier und heute nicht über die Maßen.
Aber dann trifft mich der Hammer: „Stille Stunden bei SPAR“. WIE?? Den „Tipp“ bekomme ich auf Instagram über den Autismusverband Deutsche Schweiz e. V. (http://www.autismus.ch), der das Projekt in den Kantonen Zürich und Aargau begleitet. Weitere Informationen bekomme ich aus der Luzerner Zeitung: „In Ländern wie England, Irland oder Neuseeland gibt es sie bereits: Die Stille Stunde…„.
Ja, Wahnsinn! Große Supermarktketten, die es auch in Deutschland gibt, bieten in anderen Ländern ein bis zweimal wöchentlich 60 bis 120 Minuten reizarmes Einkaufen an: Musik, Durchsagen, Lichter, Gerüche, Temperaturen: alle Maßnahmen, die der Verkaufspsychologie ihre Berechtigung geben, werden einfach mal kurz abgeschaltet. Dafür sind Begleithunde willkommen. Ich bin BEGEISTERT!
Ich erzähle das meinem Großen, denn: erst letzten Samstag waren wir gemeinsam im Supermarkt. Irgendwann zieht er mich am Ärmel in einen halbwegs freien Gang und sagt: „Mama. Ich brauch ne Pause. Ich bin total überreizt. All diese Menschen, diese Lichter und außerdem riecht es nach FISCH!“ Ich wollte noch nen kleinen Scherz machen, dass er sich das nächste Mal ja außer der Sonnenbrille noch eine Nasenklammer aufsetzen könnte, aber als ich sein blasses Gesicht sehe lasse ich das… und bin einfach so, so froh, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem er rechtzeitig erkennt und verbalisiert: Stopp. Pause. Gleich knall ich durch. Das erleichtert unser gemeinsames Leben ungemein!
Von den „Stillen Stunden“ war auch er begeistert. Sowas würde er sich hier auch wünschen, sagt er. Er geht so gerne einkaufen um seine Kochaktionen vorzubereiten, aber er ist dann doch immer ganz schön überfordert. Ich frage bei autismus deutschland e. V. an, ob sowas in Deutschland in Planung ist. (Vielleicht wäre das in Corona-Zeiten ja für alle mal ganz gut um ein bisschen runterzukommen…). Nein, leider nicht, bekomme ich schnell zur Antwort. Verordnungen seien dahingehend auch nicht vorgesehen, die Initiative sollte eher von einem Supermarkt ausgehen. Ja, so war es wohl auch in den anderen Ländern. Die 12 Schweizer SPAR-Märkte haben das gemeinsam mit Autismus Deutsche Schweiz e. V. umgesetzt.
Bevor ich noch einmal kurz darauf zurückkomme, möchte ich loswerden, was es mit der bizarren Überschrift des heutigen Beitrags auf sich hat: bei meiner kleinen Recherche über „Mainstream“-Angebote (Reisen, Kino, Theater, etc.) für Autisten, über die in „Mainstream-Medien“ berichtet wird, also abseits von Autismusverbänden, deren originäre Aufgabe das ja glücklicher Weise ist, wird mir „Spielzeug für Autisten“ bei Am*z*n vorgeschlagen. Ich hab dann tatsächlich einmal nachgesehen, was das sein soll, aber es verbergen sich die stereotypen Zauberwürfel, Knetbälle und Montessouri-Objekte dahinter. Nichts für ungut, aber damit kommen wir nicht weiter.
Und nun die Abschlussfrage zum Wochenende: wer von Euch betreibt eine Supermarktkette und möchte in Deutschland die Stillen Stunden einführen? Natürlich niemand, vor allem keine Supermarktkette, ABER: es gibt immer jemand, der jemanden kennt, der jemanden kennt – und diesen jemand würde ich gerne kennenlernen! Um mal zu hören, was man hierzulande braucht, um die Stillen Stunden einzuführen. Oder wenigstens mal auszuprobieren! Die DifferentPlanet-Ehrennadel ist ihm oder ihr gewiss… Zuschriften jederzeit gerne an kontakt@differentplanet.de!