Andere Kinder und Körperkontakt
„Darf ich dich mal in den Arm nehmen?“ frag ich meinen Großen. Er schüttelt den Kopf. Das hatte ich erwartet, aber traurig bin ich trotzdem. Berührungen sind schwierig für ihn. Schon lange bevor wir von der Diagnose wussten, oder auch nur ahnten, dass wir ein Kind haben, das ein bisschen anders ist, haben mein Mann und ich immer gesagt „Also, ein Kuschelkind ist er ja nicht gerade.“ Ich schätze mal, dass ihm nichts fehlt, und mein Mann ist glaub ich auch ok damit, aber mein Mama-Herz ruft schon manchmal nach Körperkontakt zum großen Jungen. Jetzt langsam, da wird es zwar auch ein wenig merkwürdig, weil er bereits 1-2 cm größer ist als ich und die Statur eines stattlichen jungen Mannes hat, aber er ist trotzdem mein Kind, und ich vermisse ab und an die Intimität mit ihm. Er stellt Bindung und Nähe auf andere Art her, die ich manchmal nicht so schnell bemerke. Und wenn, dann ist es auch schon vorbei. „Hallo!“ sagt er ungefähr 158 Mal am Tag zu mir. Kopfhörer auf, Hörspiel an, die 200. Begegnung des Tages, und er sagt eigentlich jedes Mal „Hallo!“, und winkt mir dabei zu, so als hätten wir uns gestern das letzte Mal gesehen. Manchmal bin ich echt genervt vom wiederholten „Hallo!“, aber dann fällt es mir wieder ein: so stellt er die Verbindung her.
Manchmal geht es, da sprechen wir über irgendwas, was ihm auch Spaß macht, und dann sitzen wir nebeneinander, Oberarm an Oberarm. Und es gibt auch Momente, da nimmt er mich plötzlich in den Arm, dann so doll, dass mir fast die Rippen brechen, aber es sind trotzdem schöne Momente.
Seine Art, sich mit mir zu verbinden, findet ganz anders statt. Neulich haben wir zu Viert gespielt, dass jeder sagen soll, was auf seiner perfekten Insel zu finden wäre. Immer im Ring rum und nach dem „Ich packe in meinen Koffer“-Prinzip. Er hat dann Sachen genommen wie „eine große Kaffeeplantage, damit Mama immer glücklich ist“ (ähm – ich trinke ganz gern Kaffee), und hat sehr viel Blickkontakt zu mir hergestellt. Das ist in dem Moment seine Umarmung, sein Kuscheln mit mir, seine Art von Intimität – er kommt in meine Welt. Diese Momente der Nähe begleiten mich dann viele Tage, weil sie selten sind.
Leider führt die körperliche Distanziertheit öfter mal dazu, dass ich mich von ihm abgelehnt fühle. Dass das nicht so ist, weiß ich. Aber zwischen Wissen und Fühlen liegt dann eben doch ein himmelweiter Unterschied. Bei mir zumindest. Vor allem, wenn es um meine Liebsten geht.
Manchmal wünscht er sich abends, dass ich noch vorlese. Solange, bis er eingeschlafen ist. Das mache ich gerne. Aber wenn ich in sein Zimmer komme, sagt er immer schon ganz schnell: „Nicht das Bett berühren!“ Es ist dann schon „Tick-frei“, wie eine Schranke. Wir verbinden uns an diesen Abenden, in dem ich lese und er zuhört. Und auch ich höre: seine Bewegungen, seinen Atem, sein zwanghaftes Husten, die Wasserflaschen in seinem Bett, und ich tauche langsam in seine Welt, in dem ich ein Buch zu seinem Spezialinteresse vorlese. Und dann irgendwann höre ich seinen tiefen, regelmäßigen Atem und finde, dass das schöne, ruhige und intime Momente sind.
Als Baby und Kleinkind hat er schon auch gekuschelt, und bis er vielleicht so neun oder zehn war, habe ich zum Vorlesen auch in seinem Bett gelegen. Und als er sehr klein war, stand er immer auf meinen Füßen. Jahrelang stand dieses Kind mit seinen Füßen auf meinen… und wenn er von Fremden angesprochen wurde, hat er seinen Kopf unter meinen Pullover gesteckt. Das ist natürlich auch Körperkontakt, aber kein Kuscheln, und wie gesagt: uns fiel immer auf, dass wir kein Kuschelkind haben, und momentan wird das vermutlich noch durch die beginnende Pubertät verstärkt. Dass dies die Phase des Abnabelns ist, ist mir schon klar. Vielleicht ist gerade einfach eine neue Stufe der körperlichen Distanz erreicht und deswegen fällt es mir momentan so auf?!
Mir fiel vor ein paar Tagen ein, dass die Ergotherapeutin einmal sagte, dass besonders Mütter autistischer Kinder emotional oft „hungern“. Sie hatte mir dann eine sehr interessante Übung empfohlen, bei der ein Hormon ausgeschüttet werden soll, das Oxytocin heißt und für Bindung und Nähe verantwortlich gemacht wird. „Kuschelhormon“ kann man als umgangssprachliche Bezeichnung dafür finden. Jedenfalls geht die Übung so, dass man sich gegenübersitzt und sich in die Augen blickt. Mehr nicht. Nach ca. 12 Minuten soll das Oxytocin ausgeschüttet werden. Mal früher, mal später. Mein Großer und ich haben das damals tapfer eine Zeitlang gemacht. Er hat es sicher nur mir zuliebe getan. Länger als max. 2-3 Minuten hat es aber nie geklappt. Die Übung hat ihn ziemlich gestresst. Ich hab ihn eben gefragt, ob er das mal wieder mit mir machen würde. Er hat vor Schreck sofort die Kopfhörer wieder aufgesetzt und gebrummt „völleicht“. Mh. Wieder nix mit dem Oxytocin zwischen uns…
Vielen Kindern und Erwachsenen, vor allem denen, die unter autistischen Symptomen oder AD(H)S-Symptomen leiden, helfen bestimmte Massagearten oder Gewichtsdecken. Sie sollen die entsprechenden Nerven der Haut stimulieren und auf diese Art der Oxytocinausschüttung helfen und auf diese Art Entspannung und Wohlbefinden steigern. Wir haben auch so eine Gewichtsdecke, aber mein Großer ist da echt extrem: es muss mindestens die Hälfte, besser das Gesamte seines eigenen Körpergewichts auf ihm lasten, damit was Wohltuendes bei ihm ankommt. Und diese Gewichtsdecken sind auf ca. 10-15% des eigenen Gewichts ausgelegt… Aber vielen hilft eine Gewichtsdecke!
Und was hilft jetzt mir in Bezug auf Bindung, Nähe und Intimität mit meinem Großen? Ich erinnere mich zurück an alle Bücher und Empfehlungen, Artikel aus dem Internet und Fachzeitschriften. Es gibt einiges, was ich da für mich mitnehmen kann. Aber ich erinnere mich auch an das, was ich selbst schon im Alltag mit meinem Sohn festgestellt habe: Nähe zu ihm ist keine Selbstverständlichkeit. Es dauert. Der richtige Moment ist wichtig, und dass ich Zeit und Ruhe habe, mich auf ihn einzulassen, und dass er bereit ist, mich in seine Welt zu lassen. Das geht am besten über sein Spezialinteresse. Dort angekommen, hab ich auch mal eine Chance auf eine Umarmung.
Und dann gibt es ja auch noch seinen kleinen Bruder und den Papa: Und die Zwei sind große Kuschler!