…und die Mandelallergie
Ich sehe sie noch vor mir, die echte und originale schrecklich nette Familie! Ein Schuhverkäufer, ein Paradiesvogel, Tochter Dumpfbacke und der nerdige Sohn!
Auch meine Familie ist mal schrecklich und mal nett, obwohl wir weder Schuhe verkaufen können (nicht mal gut einkaufen!), noch paradiesisch oder dumpf sind. Vielleicht reißen es die nerdigen Söhne raus, aber auch das ist ja Ansichtssache. Letztes Wochenende haben wir ein junges Mädchen bei uns zu Hause begrüßt, die zwei Stunden „Wache halten“ sollte (wären die Kinder kleiner, so könnte man das Wort „babysitten“ bemühen), während mein Mann und ich mal wieder versuchen wollten, wie sich Sozialkontakte anfühlen. Also – zu Zweit sein und andere Leute anschauen. Reicht erstmal.
Jedenfalls wurde sie von Kind Klein in Flossen, Badekappe, Schnorchel und Schwimmbrille begrüßt, Kind Groß trug eine mandalorianische LatexMaske. Der Kleine klärte sie außerdem darüber auf, dass der Nikolaus einen Metalldetektor bringen soll. Was sich 5-jährige eben so wünschen. Sie nahm es mit Humor. Am kommenden Wochenende kann sie aber nicht. Ob sie irgendwann wiederkommt?
Wir laufen also durch die vorweihnachtlichen Straßen unseres Bezirks und überlegen, welches Take Away und welcher Mauervorsprung später zum zweisamen Abendessen taugen könnten. Wir sind glücklich, zu Zweit zu sein. Nach über zwanzig gemeinsamen Jahren haben wir uns unendlich viel zu sagen und sind gerne zusammen. Wie immer an diesen zweisamen Nachmittagen oder Abenden vergehen die ersten zehn Minuten damit, dass wir genau das feststellen und verbalisieren, um uns anschließend dazu zu beglückwünschen und uns im übertragenen Sinne dafür auf die Schulter zu klopfen. Hier niedergeschrieben klingt es beinahe belustigend – das soll es gar nicht sein! Ich finde es eher interessant, dass wir dieses Muster haben. Man müsste es ja nicht besprechen, wir wissen es ja auch so. Wir machen es aber trotzdem, und es intensiviert – zumindest bei mir – das Glücksempfinden. Es geht mir gut, weil es mir gut geht. Das Muster fällt für mich definitiv in die Kategorie: „Unbedingt erhalten“.
Einige Tage später denke ich über den schönen Nachmittag nach und stelle in dem Zuge fest, dass mein soziales Leben vermutlich bald als „nahezu eremitisch“ durchgeht. Was meinem Naturell eher nicht entspricht. Klar, man hat ja ganz schön Programm. Und dann auch noch dieser Corona-Mist. Mh. Sind das die Gründe für meine „soziale Einschränkung“? Naja, ok, Cafés und Restaurants sind zu, und man soll derzeit nicht mehr als soundsoviele Menschen zu sich nach Hause einladen. Erklärung gefunden, Haken hinter? Nee, das fühlt sich nicht nach der Antwort an.
„Sie sind eine autismusfreundliche Familie“ hat der Teilhabehelfer meines Großen mal gesagt. Der Zusammenhang war damals ein anderer, es war sein professioneller Rat, den Kleinen regelmäßig bei anderen Familien zu verabreden, damit er nicht eines Tages eine Fehldiagnose erhält, weil er in einem autistischen Umfeld aufwächst. Doch dieser Satz ist mir wieder eingefallen. Ich vermute, in allen Familien, in denen jemand anders ist, egal ob (sucht-)krank, körperlich oder geistig behindert, autistisch, depressiv oder sonst wie, wird darauf Rücksicht genommen, und je akuter die Zustände sind, desto mehr passt man sich auch in Bezug auf sein Umfeld und seinen Alltag an.
Aber jetzt mal zu den Mandeln. Neuerdings reagiere ich ja allergisch auf die Biester. (Danke auch. Hab mir zwar die ganze Zeit gewünscht, auch mal eine Besonderheit zu haben, ich meinte aber mehr sowas wie Synästhesie, eine herausragende Begabung oder sowas)
Verständlicher Weise verzichte ich jetzt meistens auf Mandeln. Nicht, dass Ihr jetzt glaubt, dass das einfach wäre! Oder jeden Tag gleich! Ne, ne – nicht mit mir. Das ist nämlich jedes Mal anders:
Natürlich gibt es Tage, da ist mir ist grad eh nicht nach Mandeln, oder ich finde Schokolade sowieso viel besser. Die zählen hier jetzt nicht.
Denn eigentlich mag ich Mandeln. Nein, ich LIEBE Mandeln! Seitdem sich mir beim Verzehr der Hals zuzieht, glaub ich manchmal, Mandeln seien das ultimativste aller Lebensmittel. Dann hadere ich richtig mit der Unverträglichkeit!
An wieder anderen Tagen scheint es wie verhext zu sein: alles hat irgendwie Mandeln. Gehobelt, gehexelt, als Aroma zugesetzt. Nirgendwo gibt es was ohne Mandeln! Und alle außer mir genießen sie frei heraus und ohne Probleme!
Und der schlimmste Moment: mir wird selbstgemachter Mandelkuchen angeboten. Ich muss ablehnen und lese die Gedanken des Kuchen-Urhebers. „Aha, so ne Kapriziöse... Allergien sind eh Einbildung. Und sie könnte ja auch einfach ein Antiallergikum nehmen, so schlimm wird es schon nicht werden.“ Es gibt nur wenige Tage, an denen mich das nicht kümmert, meistens denke ich: „ja, wahrscheinlich bilde ich mir das alles ein. Ich könnte einfach präventiv handeln und den Kuchen samt der Mandeln genießen.“
Und manchmal, aber immer seltener, probiere ich ganz kleine Mandeleckchen. Sie liegen einfach da, und ich nehme sie. Mal wird es schrecklich. Und mal echt schrecklich nett! Dann bin ich wieder ganz begeistert und kreativ und bemühe mich, verträgliche Mandel-Genuß-Arten selbst zu backen.
Das geht jetzt noch zwei, drei Monate gut, und dann wird mir sicher niemand mehr was anbieten, was Mandeln hat. Und aus meinem „ich-will-die-haben-Gedächtnis“ werden sie besten- oder schlimmstenfalls irgendwann gelöscht sein.
Ich habe wirklich eine Mandel-Allergie, aber Ihr habt natürlich alle den Vergleich der Mandeln mit der „sozialen Familien-Aktivität“ verstanden.
Warum erzähle ich das? Ich bin ziemlich aktiv in den sozialen Medien, zumindest in Gruppen, in denen es um Familien mit besonderen Umständen geht, eben sowas wie ADHS, Autismus, Depressionen und/oder ungeklärte Diagnosen, und die durch was auch immer zu „sozialer Inkompatibilität“ – Mandelallergie halt – führen. Viele berichten derzeit sehr traurig, dass ihnen die Sozialkontakte mehr und mehr abhanden kommen. So richtig weiß keiner, weshalb. Vermeiden „wir“ diese Situationen? Sind unsere anderen Kinder in der „dunklen Jahreszeit“ noch mehr anders? Verstärkt Corona das Problem eines stabilen, sozialen Umfelds, weil auch geeignete Aktivitäten (moderierte Sportprogramme, etc.) wegfallen, und die Kinder auf die Art immer entwöhnter vom Sozialprogramm werden, und wir Eltern auch noch auf die Kontakte, die beim Bringen, Abholen und Zuschauen entstehen, naturgemäß verzichten müssen? Zusätzlich sitzen wir auch noch in HomeOffices, und auch unsere eigenen Aktivitäten wie Sportstudios, Chor, Orchester, Kegelclub,… fallen weg.
Und ganz offenbar eignen sich diese „Wir-treffen-uns-ganz-unkompliziert-zu-Hause-Formate“ nicht für Familien mit Mitgliedern, die anders sind. Sie werden von vorneherein verweigert oder gehen schief. Drei allergische Schocks, und man isst einfach keine Mandeln mehr. Ist doch klar.
Die Moral von der Geschicht…? …ist für jeden eine andere. Ich finde es wichtig, das Thema zur Sprache zu bringen, auch außerhalb der elektronischen Austauschgruppen. Viele wissen nicht so richtig ein noch aus, sie sind einfach nur traurig. Für sich und für ihre Kinder. „Sie machen einen Bogen um uns, als hätten wir was ansteckendes“, schrieb neulich eine Mutter.
Na klar: jede/r muss für sich entscheiden, wie viel davon man mit seinem Umfeld teilen möchte. Ich habe mit dem Teilen ganz gute Erfahrungen gemacht, denn die, die wirklich wollen, die finden mit „uns“ auch andere Formate. Ohne Mandeltarte und trotz Corona-Beschränkungen.
Manchen möchte ich den Spekulatius (hach, Mandeln haben einfach so unglaublich viele problematische Erscheinungsformen…) lieber ohne Begründung ablehnen, und manchen möchte ich es erklären. Bei einigen ist das nicht (mehr) nötig, das sind die Besten. Die wissen auch, dass man Allergien nicht sieht. Genauso wenig wie Autismus, ADHS oder Depressionen.
Ich weiß, dass das größte Stück Verantwortung in meiner eigenen, so schrecklich netten Familie liegt. Gemeinsam müssen wir überlegen, wie viel soziales Leben wir brauchen, welche Situationen gut sind, und wie man „soziale Verträglichkeit“ üben kann. Und dass klar ist, dass wir – wenn wir unvorsichtigerweise doch ins Mandelhörnchen beißen – anschließend drei Tage Magenkrämpfe haben KÖNNTEN.
„Not macht erfinderisch“, heißt es doch so schön. Wer weiß – vielleicht erfinden wir auf die Art noch ein ganz neues, inklusives Sozialformat. „Hybrides Allergie-Forum“ oder so!