Gibt es doch noch einen Weg für „uns“?
Mein Großer ist ja nun seit Mitte August 2020 in der 7. Klasse einer weiterführenden Schule, einem Gymnasium, das wir uns gemeinsam herausgesucht haben.
Die Veränderung nach sechs Jahren Grundschule war natürlich enorm – das ist für alle ein riesiger Schritt, aber für einen jungen Menschen im Autismusspektrum sind Anpassungen und „Störungen“ oft eine besondere Herausforderung: neuer Schulweg, neue Fächer, neue Kinder und Lehrer… und natürlich hat jede Schule auch ihre eigenen Regeln und „Gepflogenheiten“ und auch eine andere und neue Art der Wissensvermittlung kommt auf die Kinder zu. Damit muss man erstmal klarkommen.
Die einzige Kostanz war und ist seine Schulhelferin, die ihn seit Jahren begleitet, und es ist unser größtes Glück, dass sie mit ihm den Wechsel meistert und als Ruhepol an seiner Seite ist.
Die vergangenen drei Monate waren ganz schön viel für ihn, und ein paar mehr Ruhetage mussten doch bereits eingelegt werden, um die häufige Reizüberladung zu verarbeiten. Zu Hause in seinem geschützten Umfeld konnte er dann immer wieder ausreichend Kraft sammeln, um das anspruchsvolle Programm zu bewältigen – 38 Wochenstunden plus Hausaufgaben und Projekte sind aus meiner Sicht für 12jährige etwas mehr als ausreichend, aber so scheint das heutzutage zu sein.
Seine Schulhelferin hat ihn aus meiner Sicht bei den geforderten Themen sensationell unterstützt: Handlungsplanung, Priorisierung, Schutz vor Überreizung und Unterstützung bei der sog. „Zentralen Kohärenz“ – also aus den vielen kleinen Einzelteilen ein großes Gesamtbild zu formen – sind rückblickend in den vergangenen drei Monaten von ihr super gemeistert worden. Und was für mich wirklich wichtig war: mein Sohn hat immer wieder bestätigt, dass er gerne zur Schule geht, und dass er gerne auf genau diese Schule geht. Und bei der Konferenz zum Nachteilsausgleich haben alle Fachlehrer auch bestätigt, dass er in der Lage ist, die Inhalte gut zu meistern.
Warum waren diese beiden Punkte wichtig für mich? Weil es zu Hause seit dem Schulwechsel wirklich sehr anstrengend war. Denn alle Umstände, die die Schulhelferin in der Schule so gut meistert, unterstützen mein Mann und ich natürlich zu Hause: Handlungsplanung, Priorisierung, Schutz vor Überreizung, usw. – in allen alltäglichen Dingen und in allen, die die Rahmenbedingungen zum Schulbesuch betreffen. (Ich glaube, ich habe den Begriffen in meinen vielen vergangenen Beiträgen so viele Bilder gegeben, dass ich heute darauf verzichten kann, damit ich mal zum Punkt komme!)
Auf Instagram habe ich neulich einen netten Post gefunden, der sinngemäß sagt, dass man als Eltern eines autistischen Kindes IMMER in Alarmbereitschaft ist, auch wenn alle anderen finden, dass man sich doch grade mal entspannen könnte, weil alles ruhig scheint. Doch „wir“ wissen, wie unvorhersehbar jede Situation ist, und dass in 60 Sekunden „die Hölle auf uns runterkommen kann“. Wir Eltern waren uns dann einig, dass es leider genauso ist, und dass das belastende daran ist, dass alle anderen Eltern immer denken, dass wir einfach total verspannt sind und einen an der Waffel haben. Jedenfalls hatte sich das Gefühl dieser 24/7-Alarmbereitschaft seit dem Schulwechsel doch noch mal deutlich verstärkt. Da kann nun weder unser Großer, noch die Schule was dafür, und wir machen das ja auch alles gerne, aber ich wollte doch sicher sein, dass wir uns unserer Kräfte nicht sinnlos berauben. Und durch die Aussagen meines Sohnes und der Fachlehrer war ich das.
Er hat in den letzten Wochen auch größere Schritte bei der selbständigen Bearbeitung gemacht, was vielleicht zeigt, dass er sich langsam immer wohler mit der neuen Situation fühlt, und dass er gelungene Unterstützung erfährt.
Dennoch hatten wir zu Hause oft das Gefühl, dass der „Langstreckenlauf“ Gymnasium so nicht zu bewältigen ist. Es gibt Tage, an denen wir nur damit beschäftigt sind, Reize und Stressoren von ihm fernzuhalten. Er bekommt dann gerne seine Auszeiten und Ruhetage, aber das bedeutet ja dann auch wieder, dass er Inhalt nacharbeiten muss, den er dabei verpasst hat. Ein blöder Kreislauf.
Wir waren dann umso glücklicher, als der Schulleiter vorschlug, einmal auszuprobieren, ob das sog. „Hamburger Modell“ das richtige für unseren Großen sein könnte.
Was ist das, Hamburger Modell? Im Internet habe ich dazu ausschließlich gefunden, dass man damit Arbeitnehmer wieder eingliedert, die zB durch Krankheit lange abwesend waren. Schritt für Schritt gewöhnen sie sich mit sich täglich oder wöchentlich steigender Stundenzahl wieder an das Arbeitsleben. Dann erzählte mir eine Freundin, dass auch ihre Tochter nach längerer Krankheit gerade auf diese Art wieder an das Schulleben herangeführt wird.
Das klang für mich zwar schlüssig und gut, aber nicht passend für unsere Suche nach einem passenden Modell für den erwähnten „Langstreckenlauf“. Aber: Die für uns vorgeschlagene Abwandlung sieht vor, dass mein Großer ausgewählte Nebenfächer in den Randstunden nicht besuchen muss. Er ist nicht von der Leistungserbringung in diesen Fächern befreit, aber von der Präsenzpflicht. Der Plan ist jetzt also wie folgt: Er lässt in jeder Woche jeweils zwei Doppelstunden am Ende des Tages aus, und da er alternierende Wochen hat, handelt es sich um insgesamt drei Fächer: Kunst, Musik und LER (Lebenskunde, Ethik, Religion). Der oder die entsprechende Fachlehrer*In stellt ihm dafür eine Art Projektaufgabe für das Fach, deren Ergebnis er zum gegebenen Zeitpunkt dann präsentieren muss. Denn eine Leistung muss erbracht werden, und eine mit den anderen Schüler*Innen vergleichbare Note muss auch her.
Er kann sich diese vier Wochenstunden nun nach Bedarf einteilen: bearbeitet er im häuslichen Umfeld eine der Projektaufgaben? Holt er etwas nach, das ihm während eines Ruhetags entgangen ist, oder ist es einfach an der Zeit, aufzutanken? Ich gehe davon aus, dass die Befreiung vom Musikunterricht, der alle 14 Tage freitags in der 7. und 8. Stunde stattfindet, einfach „Auftanken“ ist. Würde ich jedenfalls so machen…
So – klingt super, oder?
Ich finde es in der Tat super! Ich finde super, dass er in der Schule so angekommen ist, dass das möglich ist. Diese Schule ist wirklich sehr groß, und wir wussten vorher, dass sie noch nie (wissentlich) ein Kind im Autismusspektrum hatten, und sie hatten auch noch nie eine/n Schüler*In mit Schulhelfer*In. Mittlerweile haben sich alle so gut aufeinander „eingegrooved“, dass diese Maßnahme von der Schule vorgeschlagen wurde, um auf diese sehr individuellen Befürfnisse Rücksicht zu nehmen, ohne dass die Prämisse der „zielgleichen Beschulung“, also dass alle Schüler*Innen zum gleichen Abschluss geführt werden, zu vernachlässigen.
Ich sehe folgende potentielle Vorteile: er hat mehr häusliche Zeit. Immerhin vier Schulstunden pro Woche, also drei Zeitstunden mehr als zuvor. Das gibt ihm zusätzliche Zeit, die Reize und Stressoren des Alltags zu verarbeiten. Sicher steckt da auch eine Chance drin, Dinge wie Handlungsplanung und Priorisierung zu Hause etwas zu üben. Also Dinge wie: morgen habe ich Deutsch und dafür muss ein Text gelesen werden. Das mache ich, bevor ich mich dem Bio-Projekt widme, denn dafür habe ich noch 10 Tage Zeit. Aber vorher kann ich noch 30 Minuten meinem Spezialinteresse nachgehen und dabei Kraft tanken. Das muss nun beispielsweise dienstags nicht mehr zwischen 16.15h (wenn er nach acht langen SChilis tunden nach Hause kam) und 18.30h (Abendessen im Casa DifferentPlanet) geschehen, sondern zwischen 14h und 18.30h. Deutlich entspannter.
Meine Hoffnung dahinter ist, dass er langfristig weniger Overloads hat und dadurch weniger Auszeiten und Ruhetage benötigt. So kann vielleicht dieser oben beschriebene „blöde Kreislauf“ aus Auszeit und anschließendem erhöhten Druck, weil er was verpasst hat, durchbrochen werden. Außerdem hoffe ich auf ein stressfreieres „Dazwischen“ zu Hause. Dass hier nicht nur noch „Auftanken“ vorkommt, sondern auch mal wieder Unternehmungen und Spaß.
Ich sehe auch einen potentiellen Nachteil: das alles erfordert wieder ein Mehr an Selbständigkeit und Voraussicht. Ja, er hat seine Schulhelferin, und er hat uns. Aber das sind ja grade die “autismus-typische Problemdisziplinen“. Wir werden beobachten, ob der Versuch vielleicht auch zu mehr Stress führen kann.
Ich denke aber, dass unter dem Strich ein dickes Plus stehen wird!
Mein Fazit nach der ersten Woche: Ich bin begeistert über den Versuch! Wenn ich mir noch was hätte wünschen können, hätte ich ihn noch vom Schwimmunterricht befreit. Die dafür geforderte Handlungsplanung (Schwimmsachen dabei? Schnell umziehen, hinterher wieder schnell umziehen, Bus nicht verpassen, usw.) und die Überreizung (öffentliche Verkehrsmittel, Schwimmhalle, der Stoff der geforderten Badehose ist für ihn an manchen Tagen kaum erträglich) fordern ihn ganz schön heraus, und für 30 Minuten im Becken ist der Energieaufwand ganz schön groß. Aber ich will mich wirklich nicht beschweren! Es geht natürlich immer noch ein bisschen optimaler für die Frau Mama.
Die Schulhelferin unseres Großen ist vom Prinzip auch sehr begeistert. Dennoch bleibt ein Freitag ein Freitag, und heute hat er nur vier Stunden geschafft und nicht sechs, die ja eigentlich acht gewesen wären. Und dennoch: am Montag warten nur vier Stunden und nicht sechs. Er wird sich am Wochenende ausruhen und diese vier Stunden meistern! Das Programm bleibt dennoch wirklich anspruchsvoll.
Was sagt denn der Proband? „Sehr gut!“, sagt er. Ich konnte auch herausfinden, dass die Fachlehrer bereits die alternativen Projektaufgaben gestellt haben. Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Aber das ist ja wohl normal in dem Alter…
Ich hoffe, dass ich das verständlich erklären konnte. Ich sehe in der Idee dieses Modells eine große Chance für meinen Sohn, und für viele andere Kinder, die sich mit Problemen plagen, die der Überreizung geschuldet sind. Nicht nur Kinder im Autismusspektrum, sondern auch AD(H)S – Kinder, hypersensible und sicher noch einige mehr.
Ist das jetzt eigentlich „Inklusion“? Es gibt vermutlich so viele Interpretationen von Inklusion wie Menschen, die auf gelebte (!) Inklusion angewiesen sind. Für mich bedeutet Inklusion, dass Kinder gleichsam zur Schule gehen, aber ausreichend Ressourcen da sind, um auf individuelle Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen.
Der Versuch ist befristet. Spätestens zum Sommer-Zeugnis wird die Situation neu bewertet. Gerne lasse ich Euch dann wissen, ob ein dickes „Plus“, oder eben doch ein „Minus“ unter dem Strich steht!
Ich finde den Beitrag sehr interessant. Mein Sohn mit Asperger Syndrom geht gerade noch in die 5. Klasse der Grundschule, aber meine Tochter ist dieses Jahr in die 7. Klasse aufs Gymnasium gekommen und ich finde, dass das Programm dort ein heftiger Unterschied zur Grundschule ist. Mein Sohn möchte natürlich in zwei Jahren auch dort hin, da finde ich es sehr interessant, was es für Möglichkeiten gibt, dass er dort ankommt.
Wo bekomme ich einen Antrag für das Hamburger Modell? Im Netz finde ich nur die Wiedereingliederung für Arbeitnehmer diesbezüglich. Ich bin damit allein und brauche Unterstützung.
Danke im Voraus!
Hallo Tanja! Dazu gibt es keinen offiziellen Antrag. Am besten gehst du zum Klassenlehrer:in, Schulleiter:in, Sonderpädagog:in eurer Schule und sagst, dass du davon gehört hast und ob ihr eine Lösung für dein Kind nach dem Hamburger Modell finden könnt. Die Ausgestaltung kann individuell sehr verschieden sein. Liebe Grüße